Ein geistreicher Franzose - vor einigen Jahren hät-
ten diese Worte einen Pleonasmus gebildet - nannte
mich einst einen romantique défroqué. Ich hege eine
Schwäche für alles, was Geist ist, und so boshaft die
Benennung war, hat sie mich dennoch höchlich er-
götzt. Sie ist treffend. Trotz meiner exterminatori-
schen Feldzüge gegen die Romantik blieb ich doch
selbst immer ein Romantiker, und ich war es in einem
höhern Grade, als ich selbst ahnte. Nachdem ich dem
Sinne für romantische Poesie in Deutschland die töd-
lichsten Schläge beigebracht, beschlich mich selbst
wieder eine unendliche Sehnsucht nach der blauen
Blume im Traumlande der Romantik, und ich ergriff
die bezauberte Laute und sang ein Lied, worin ich
mich allen holdseligen Übertreibungen, aller Mond-
scheintrunkenheit, allem blühenden Nachtigallen-
wahnsinn der einst so geliebten Weise hingab. Ich
weiß, es war »das letzte freie Waldlied der Roman-
tik«, und ich bin ihr letzter Dichter: mit mir ist die
alte lyrische Schule der Deutschen geschlossen, wäh-
rend zugleich die neue Schule, die moderne deutsche
Lyrik, von mir eröffnet ward. Diese Doppelbedeutung
wird mir von den deutschen Literarhistorikern zuge-
schrieben. Es ziemt mir nicht, mich hierüber weitläu-
fig auszulassen, aber ich darf mit gutem Fuge sagen,
daß ich in der Geschichte der deutschen Romantik
eine große Erwähnung verdiene. Aus diesem Grunde
hätte ich in meinem Buche »De l'Allemagne«, wo ich
jene Geschichte der romantischen Schule so vollstän-
dig als möglich darzustellen suchte, eine Besprechung
meiner eignen Person liefern müssen. Indem ich die-
ses unterließ, entstand eine Lakune, welcher ich nicht
leicht abzuhelfen weiß. Die Abfassung einer Selbst-
charakteristik wäre nicht bloß eine sehr verfängliche,
sondern sogar eine unmögliche Arbeit. Ich wäre ein
eitler Geck, wenn ich hier das Gute, das ich von mir
zu sagen wüßte, drall hervorhübe, und ich wäre ein
großer Narr, wenn ich die Gebrechen, deren ich mich
vielleicht ebenfalls bewußt bin, vor aller Welt zur
Schau stellte - Und dann, mit dem besten Willen der
Treuherzigkeit kann kein Mensch über sich selbst die
Wahrheit sagen. Auch ist dies niemandem bis jetzt
gelungen, weder dem heiligen Augustin, dem from-
men Bischof von Hippo, noch dem Genfer Jean-
Jacques Rousseau, und am allerwenigsten diesem
letztern, der sich den Mann der Wahrheit und der
Natur nannte, während er doch im Grunde viel verlo-
gener und unnatürlicher war als seine Zeitgenossen.
Er ist freilich zu stolz, als daß er sich gute Eigen-
schaften oder schöne Handlungen fälschlich zuschrie-
be, er erfindet vielmehr die abscheulichsten Dinge zu
seiner eignen Verunglimpfung. Verleumdete er sich
etwa selbst, um mit desto größerm Schein von
Wahrhaftigkeit auch andre, z.B. meinen armen Lands-
mann Grimm, verleumden zu können? Oder macht er
unwahre Bekenntnisse, um wirkliche Vergehen darun-
ter zu verbergen, da, wie männiglich bekannt ist, die
Schmachgeschichten, die über uns im Umlauf sind,
uns nur dann sehr schmerzhaft zu berühren pflegen,
wenn sie Wahrheit enthalten, während unser Gemüt
minder verdrießlich davon verletzt wird, wenn sie nur
eitel Erfindnisse sind. So bin ich überzeugt, Jean-
Jacques hat das Band nicht gestohlen, das einer un-
schuldig angeklagten und fortgejagten Kammerjung-
fer Ehre und Dienst kostete; er hatte gewiß kein Ta-
lent zum Stehlen, er war viel zu blöde und täppisch,
er, der künftige Bär der Eremitage. Er hat vielleicht
eines andern Vergehens sich schuldig gemacht, aber
es war kein Diebstahl. Auch hat er seine Kinder nicht
ins Findelhaus geschickt, sondern nur die Kinder von
Mademoiselle Therese Levasseur. Schon vor dreißig
Jahren machte mich einer der größten deutschen Psy-
chologen auf eine Stelle der »Konfessionen« aufmerk-
sam, woraus bestimmt zu deduzieren war, daß Rous-
seau nicht der Vater jener Kinder sein konnte; der
eitle Brummbär wollte sich lieber für einen barbari-
schen Vater ausgeben, als daß er den Verdacht ertrü-
ge, aller Vaterschaft unfähig gewesen zu sein. Aber
der Mann, der in seiner eignen Person auch die
menschliche Natur verleumdete, er blieb ihr doch treu
in bezug auf unsre Erbschwäche, die darin besteht,
daß wir in den Augen der Welt immer anders erschei-
nen wollen, als wir wirklich sind. Sein Selbstporträt
ist eine Lüge, bewundernswürdig ausgeführt, aber
eine brillante Lüge. Da war der König der Aschantis,
von welchem ich jüngst in einer afrikanischen Reise-
beschreibung viel Ergötzliches las, viel ehrlicher, und
das naive Wort dieses Negerfürsten, welches die oben
angedeutete menschliche Schwäche so spaßhaft resü-
miert, will ich hier mitteilen. Als nämlich der Major
Bowdich in der Eigenschaft eines Ministerresidenten
von dem englischen Gouverneur des Kaps der Guten
Hoffnung an den Hof jenes mächtigsten Monarchen
Südafrikas geschickt ward, suchte er sich die Gunst
der Höflinge und zumal der Hofdamen, die trotz ihrer
schwarzen Haut mitunter außerordentlich schön
waren, dadurch zu erwerben, daß er sie porträtierte.
Der König, welcher die frappante Ähnlichkeit bewun-
derte, verlangte ebenfalls konterfeit zu werden und
hatte dem Maler bereits einige Sitzungen gewidmet,
als dieser zu bemerken glaubte, daß der König, der oft
aufgesprungen war, um die Fortschritte des Porträts
zu beobachten, in seinem Antlitze einige Unruhe und
die grimassierende Verlegenheit eines Mannes verriet,
der einen Wunsch auf der Zunge hat, aber doch keine
Worte dafür finden kann - der Maler drang jedoch so
lange in Seine Majestät, ihm Ihr allerhöchstes Begehr
kundzugeben, bis der arme Negerkönig endlich klein-
laut ihn fragte, ob es nicht anginge, daß er ihn weiß
malte.
Das ist es. Der schwarze Negerkönig will weiß ge-
malt sein. Aber lacht nicht über den armen Afrikaner
- jeder Mensch ist ein solcher Negerkönig, und jeder
von uns möchte dem Publikum in einer andern Farbe
erscheinen, als die ist, womit uns die Fatalität ange-
strichen hat. Gottlob, daß ich dieses begreife, und ich
werde mich daher hüten, hier in diesem Buche mich
selbst abzukonterfeien. Doch der Lakune, welche die-
ses mangelnde Porträt verursacht, werde ich in den
folgenden Blättern einigermaßen abzuhelfen suchen,
indem ich hier genugsam Gelegenheit finde, meine
Persönlichkeit so bedenklich als möglich hervortreten
zu lassen. Ich habe mir nämlich die Aufgabe gestellt,
hier nachträglich die Entstehung dieses Buches und
die philosophischen und religiösen Variationen, die
seit seiner Abfassung im Geiste des Autors vorgefal-
len, zu beschreiben, zu Nutz und Frommen des Lesers
dieser neuen Ausgabe meines Buches »De l'Allema-
gne«.
Seid ohne Sorge, ich werde mich nicht zu weiß
malen und meine Nebenmenschen nicht zu sehr an-
schwärzen. Ich werde immer meine Farbe ganz getreu
angeben, damit man wisse, wieweit man meinem Ur-
teil trauen darf, wenn ich Leute von andrer Farbe
bespreche.
Ich erteilte meinem Buche denselben Titel, unter
welchem Frau von Staël ihr berühmtes Werk, das
denselben Gegenstand behandelt, herausgegeben hat,
und zwar tat ich es aus polemischer Absicht. Daß eine
solche mich leitete, verleugne ich keineswegs; doch
indem ich von vornherein erkläre, eine Parteischrift
geliefert zu haben, leiste ich dem Forscher der Wahr-
heit vielleicht bessere Dienste, als wenn ich eine ge-
wisse laue Unparteilichkeit erheuchelte, die immer
eine Lüge und dem befehdeten Autor verderblicher ist
als die entschiedenste Feindschaft. Da Frau von Staël
ein Autor von Genie ist und einst die Meinung aus-
sprach, daß das Genie kein Geschlecht habe, so kann
ich mich bei dieser Schriftstellerin auch jener galanten
Schonung überheben, die wir gewöhnlich den Damen
angedeihen lassen und die im Grunde doch nur ein
mitleidiges Zertifikat ihrer Schwäche ist.
Ist die banale Anekdote wahr, welche man in bezug
auf obige Äußerung von Frau von Staël erzählt und
die ich bereits in meinen Knabenjahren unter andern
Bonmots des Empires vernahm? Es heißt nämlich, zur
Zeit, wo Napoleon noch Erster Konsul war, sei einst
Frau von Staël nach der Behausung desselben gekom-
men, um ihm einen Besuch abzustatten; doch trotz-
dem daß der diensttuende Huissier ihr versicherte,
nach strenger Weisung niemanden vorlassen zu
dürfen, habe sie dennoch unerschütterlich darauf be-
standen, seinem ruhmreichen Hausherrn unverzüglich
angekündigt zu werden. Als dieser letztere ihr hierauf
sein Bedauern vermelden ließ, daß er die verehrte
Dame nicht empfangen könne, sintemalen er sich
eben im Bade befände, soll dieselbe ihm die famose
Antwort zurückgeschickt haben, daß solches kein
Hindernis wäre, denn das Genie habe kein Ge-
schlecht.
Ich verbürge nicht die Wahrheit dieser Geschichte;
aber sollte sie auch unwahr sein, so bleibt sie doch
gut erfunden. Sie schildert die Zudringlichkeit, womit
die hitzige Person den Kaiser verfolgte. Er hatte nir-
gends Ruhe vor ihrer Anbetung. Sie hatte sich einmal
in den Kopf gesetzt, daß der größte Mann des Jahr-
hunderts auch mit der größten Zeitgenossin mehr oder
minder idealisch gepaart werden müsse. Aber als sie
einst, in Erwartung eines Kompliments, an den Kaiser
die Frage richtete, welche Frau er für die größte seiner
Zeit halte, antwortete jener: »Die Frau, welche die
meisten Kinder zur Welt gebracht.« Das war nicht ga-
lant, wie denn nicht zu leugnen ist, daß der Kaiser den
Frauen gegenüber nicht jene zarten Zuvorkommenhei-
ten und Aufmerksamkeiten ausübte, welche die Fran-
zösinnen so sehr lieben. Aber diese letztern werden
nie durch taktloses Benehmen irgendeine Unartigkeit
selbst hervorrufen, wie es die berühmte Genferin
getan, die bei dieser Gelegenheit bewies, daß sie trotz
ihrer physischen Beweglichkeit von einer gewissen
heimatlichen Unbeholfenheit nicht frei geblieben.
Als die gute Frau merkte, daß sie mit all ihrer An-
dringlichkeit nichts ausrichtete, tat sie, was die Frau-
en in solchen Fällen zu tun pflegen, sie erklärte sich
gegen den Kaiser, räsonierte gegen seine brutale und
ungalante Herrschaft und räsonierte so lange, bis ihr
die Polizei den Laufpaß gab. Sie flüchtete nun zu uns
nach Deutschland, wo sie Materialien sammelte zu
dem berühmten Buche, das den deutschen Spiritualis-
mus als das Ideal aller Herrlichkeit feiern sollte, im
Gegensatze zu dem Materialismus des imperialen
Frankreichs. Hier bei uns machte sie gleich einen gro-
ßen Fund. Sie begegnete nämlich einem Gelehrten na-
mens August Wilhelm Schlegel. Das war ein Genie
ohne Geschlecht. Er wurde ihr getreuer Cicerone und
begleitete sie auf ihrer Reise durch alle Dachstuben
der deutschen Literatur. Sie hatte einen unbändig gro-
ßen Turban aufgestülpt und war jetzt die Sultanin des
Gedankens. Sie ließ unsre Literaten gleichsam geistig
die Revue passieren und parodierte dabei den großen
Sultan der Materie. Wie dieser die Leute mit einem
»Wie alt sind Sie? Wieviel Kinder haben Sie? Wie-
viel Dienstjahre?« usw. anging, so frug jene unsre
Gelehrten: »Wie alt sind Sie? Was haben Sie ge-
schrieben? Sind Sie Kantianer oder Fichteaner?« und
dergleichen Dinge, worauf die Dame kaum die Ant-
wort abwartete, die der getreue Mamluck August Wil-
helm Schlegel, ihr Roustam, hastig in sein Notizbuch
einzeichnete. Wie Napoleon diejenige Frau für die
größte erklärte, welche die meisten Kinder zur Welt
gebracht, so erklärte die Staël denjenigen Mann für
den größten, der die meisten Bücher geschrieben.
Man hat keinen Begriff davon, welchen Spektakel sie
bei uns machte, und Schriften, die erst unlängst er-
schienen, z.B. die Memoiren der Kalorie Pichler, die
Briefe der Varnhagen und der Bettina Arnim, auch die
Zeugnisse von Eckermann, schildern ergötzlich die
Not, welche uns die Sultanin des Gedankens bereitete,
zu einer Zeit, wo der Sultan der Materie uns schon
genug Tribulationen verursachte. Es war geistige Ein-
quartierung, die zunächst auf die Gelehrten fiel. Die-
jenigen Literatoren, womit die vortreffliche Frau ganz
besonders zufrieden war und die ihr persönlich durch
den Schnitt ihres Gesichtes oder die Farbe ihrer
Augen gefielen, konnten eine ehrenhafte Erwähnung,
gleichsam das Kreuz der Légion d'honneur, in ihrem
Buche »De l'Allemagne« erwarten. Dieses Buch
macht auf mich immer einen so komischen wie ärger-
lichen Eindruck. Hier sehe ich die passionierte Frau
mit all ihrer Turbulenz, ich sehe, wie dieser Sturm-
wind in Weibskleidern durch unser ruhiges Deutsch-
land fegte, wie sie überall entzückt ausruft: »Welche
labende Stille weht mich hier an!« Sie hatte sich in
Frankreich echauffiert und kam nach Deutschland, um
sich bei uns abzukühlen. Der keusche Hauch unsrer
Dichter tat ihrem heißen, sonnigen Busen so wohl!
Sie betrachtete unsre Philosophen wie verschiedene
Eissorten und verschluckte Kant als Sorbett von Va-
nille, Fichte als Pistache, Schelling als Arlequin! -
»O wie hübsch kühl ist es in euren Wäldern« - rief
sie beständig -, »welcher erquickende
Veilchengeruch! wie zwitschern die Zeisige so fried-
lich in ihrem deutschen Nestchen! Ihr seid ein gutes,
tugendhaftes Volk und habt noch keinen Begriff von
dem Sittenverderbnis, das bei uns herrscht, in der Rue
du Bac.«
Die gute Dame sah bei uns nur, was sie sehen woll-
te: ein nebelhaftes Geisterland, wo die Menschen
ohne Leiber, ganz Tugend, über Schneegefilde wan-
deln und sich nur von Moral und Metaphysik unter-
halten! Sie sah bei uns überall nur, was sie sehen
wollte, und hörte nur, was sie hören und wiedererzäh-
len wollte - und dabei hörte sie doch nur wenig, und
nie das Wahre, einesteils, weil sie immer selber
sprach, und dann, weil sie mit ihren barschen Fragen
unsre bescheidenen Gelehrten verwirrte und verblüff-
te, wenn sie mit ihnen diskurierte. - »Was ist Geist?«
sagte sie zu dem blöden Professor Bouterwek, indem
sie ihr dickfleischiges Bein auf seine dünnen,
zitternden Lenden legte. »Ach«, schrieb sie dann,
»wie interessant ist dieser Bouterwek! Wie der Mann
die Augen niederschlägt! Das ist mir nie passiert mit
meinen Herren zu Paris, in der Rue du Bac!« Sie sieht
überall deutschen Spiritualismus, sie preist unsre Ehr-
lichkeit, unsre Tugend, unsre Geistesbildung - sie
sieht nicht unsre Zuchthäuser, unsre Bordelle, unsre
Kasernen - man sollte glauben, daß jeder Deutsche
den Prix Monthyon verdiente - Und das alles, um den
Kaiser zu nergeln, dessen Feinde wir damals waren.
Der Haß gegen den Kaiser ist die Seele dieses Bu-
ches »De l'Allemagne«, und obgleich sein Name nir-
gends darin genannt wird, sieht man doch, wie die
Verfasserin bei jeder Zeile nach den Tuilerien schielt.
Ich zweifle nicht, daß das Buch den Kaiser weit emp-
findlicher verdrossen hat als der direkteste Angriff,
denn nichts verwundet einen Mann so sehr wie kleine
weibliche Nadelstiche. Wir sind auf große Schwert-
streiche gefaßt, und man kitzelt uns an den kitzligsten
Stellen.
O die Weiber! Wir müssen ihnen viel verzeihen,
denn sie lieben viel, und sogar viele. Ihr Haß ist ei-
gentlich nur eine Liebe, welche umgesattelt hat. Zu-
weilen suchen sie auch uns Böses zuzufügen, weil sie
dadurch einem andern Manne etwas Liebes zu erwei-
sen denken. Wenn sie schreiben, haben sie ein Auge
auf das Papier und das andre auf einen Mann
gerichtet, und dieses gilt von allen Schriftstellerinnen,
mit Ausnahme der Gräfin Hahn-Hahn, die nur ein
Auge hat. Wir männlichen Schriftsteller haben eben-
falls unsre vorgefaßten Sympathien, und wir schrei-
ben für oder gegen eine Sache, für oder gegen eine
Idee, für oder gegen eine Partei; die Frauen jedoch
schreiben immer für oder gegen einen einzigen Mann
oder, besser gesagt, wegen eines einzigen Mannes.
Charakteristisch ist bei ihnen ein gewisser Cancan,
der Klüngel, den sie auch in die Literatur herüberbrin-
gen und der mir weit fataler ist als die roheste
Verleumdungswut der Männer. Wir Männer lügen zu-
weilen. Die Weiber, wie alle passive Naturen, können
selten erfinden, wissen jedoch das Vorgefundene der-
gestalt zu entstellen, daß sie uns dadurch noch weit
sicherer schaden als durch entschiedene Lügen. Ich
glaube wahrhaftig, mein Freund Balzac hatte recht,
als er mir einst in einem sehr seufzenden Tone sagte:
»La femme est un être dangereux.«
Ja, die Weiber sind gefährlich; aber ich muß doch
die Bemerkung hinzufügen, daß die schönen nicht so
gefährlich sind als die, welche mehr geistige als kör-
perliche Vorzüge besitzen. Denn jene sind gewohnt,
daß ihnen die Männer den Hof machen, während die
andern der Eigenliebe der Männer entgegenkommen
und durch den Köder der Schmeichelei einen größern
Anhang gewinnen als die Schönen. Ich will damit
beileibe nicht andeuten, als ob Frau von Staël häßlich
gewesen sei; aber eine Schönheit ist ganz etwas ande-
res. Sie hatte angenehme Einzelheiten, welche aber
ein sehr unangenehmes Ganze bildeten; besonders un-
erträglich für nervöse Personen, wie es der selige
Schiller gewesen, war ihre Manie, beständig einen
kleinen Stengel oder eine Papiertüte zwischen den
Fingern wirbelnd herumzudrehen - dieses Manöver
machte den armen Schiller schwindlicht, und er ergriff
in Verzweiflung alsdann ihre schöne Hand, um sie
festzuhalten, und Frau von Staël glaubte, der gefühl-
volle Dichter sei hingerissen von dem Zauber ihrer
Persönlichkeit. Sie hatte in der Tat sehr schöne
Hände, wie man mir sagt, und auch die schönsten
Arme, die sie immer nackt sehen ließ; gewiß, die
Venus von Milo hätte keine so schönen Arme aufzu-
weisen. Ihre Zähne überstrahlten an Weiße das Gebiß
der kostbarsten Rosse Arabiens. Sie hatte sehr große,
schöne Augen, ein Dutzend Amoretten würden Platz
gefunden haben auf ihren Lippen, und ihr Lächeln
soll sehr holdselig gewesen sein. Häßlich war sie also
nicht - keine Frau ist häßlich -, soviel läßt sich aber
mit Fug behaupten: wenn die schöne Helena von
Sparta so ausgesehen hätte, so wäre der ganze Troja-
nische Krieg nicht entstanden, die Burg des Priamus
wäre nicht verbrannt worden, und Homer hätte nim-
mermehr besungen den Zorn des Peliden Achilles.
Frau von Staël hatte sich, wie oben gesagt, gegen
den großen Kaiser erklärt und machte ihm den Krieg.
Aber sie beschränkte sich nicht darauf, Bücher gegen
ihn zu schreiben; sie suchte ihn auch durch nichtlite-
rarische Waffen zu befehden: sie war einige Zeit die
Seele aller jener aristokratischen und jesuitischen In-
trigen, die der Koalition gegen Napoleon vorangin-
gen, und wie eine wahre Hexe kauerte sie an dem bro-
delnden Topfe, worin alle diplomatischen Giftmi-
scher, ihre Freunde Talleyrand, Metternich, Pozzo di
Borgo, Castlereagh usw., dem großen Kaiser sein
Verderben eingebrockt hatten. Mit dem Kochlöffel
des Hasses rührte das Weib herum in dem fatalen
Topfe, worin zugleich das Unglück der ganzen Welt
gekocht wurde. Als der Kaiser unterlag, zog Frau von
Staël siegreich ein in Paris mit ihrem Buche »De l'Al-
lemagne« und in Begleitung von einigen hunderttau-
send Deutschen, die sie gleichsam als eine pompöse
Illustration ihres Buches mitbrachte. Solchermaßen
illustriert durch lebendige Figuren, mußte das Werk
sehr an Authentizität gewinnen, und man konnte sich
hier durch den Augenschein überzeugen, daß der
Autor uns Deutsche und unsre vaterländischen Tugen-
den sehr treu geschildert hatte. Welches köstliche Ti-
telkupfer war jener Vater Blücher, diese alte Spielrat-
te, dieser ordinäre Knaster, welcher einst einen Tages-
befehl erteilt hatte, worin er sich vermaß, wenn er den
Kaiser lebendig finge, denselben aushauen zu lassen.
Auch unsern A. W. v. Schlegel brachte Frau von
Staël mit nach Paris, und das war ein Musterbild
deutscher Naivetät und Heldenkraft. Es folgte ihr
ebenfalls Zacharias Werner, dieses Modell deutscher
Reinlichkeit, hinter welchem die entblößten Schönen
des Palais Royal lachend einherliefen. Zu den interes-
santen Figuren, welche sich damals in ihrem deut-
schen Kostüme den Parisern vorstellten, gehörten
auch die Herren Görres, Jahn und Ernst Moritz Arndt,
die drei berühmtesten Franzosenfresser, eine drollige
Gattung Bluthunde, denen der berühmte Patriot Börne
in seinem Buche »Menzel der Franzosenfresser« die-
sen Namen erteilt hat. Besagter Menzel ist keines-
wegs, wie einige glauben, eine fingierte Personnage,
sondern er hat wirklich in Stuttgart existiert oder viel-
mehr ein Blatt herausgegeben, worin er täglich ein
halb Dutzend Franzosen abschlachtete und mit Haut
und Haar auffraß; wenn er seine sechs Franzosen ver-
zehrt hatte, pflegte er manchmal noch obendrein einen
Juden zu fressen, um im Munde einen guten Ge-
schmack zu behalten, pour se faire la bonne bouche.
Jetzt hat er längst ausgebellt, und zahnlos, räudig,
verlungert er im Makulaturwinkel irgendeines schwä-
bischen Buchladens. Unter den Musterdeutschen, wel-
che zu Paris im Gefolge der Frau von Staël zu sehen
waren, befand sich auch Friedrich von Schlegel,
welcher gewiß die gastronomische Asketik oder den
Spiritualismus des gebratenen Hühnertums repräsen-
tierte; ihn begleitete seine würdige Gattin Dorothea,
geborne Mendelssohn und entlaufene Veit. Ich darf
hier ebenfalls eine andre Illustration dieser Gattung,
einen merkwürdigen Akoluthen der Schlegel, nicht
mit Stillschweigen übergehen. Dieses ist ein deut-
scher Baron, welcher, von den Schlegeln besonders
rekommandiert, die germanische Wissenschaft in
Paris repräsentieren sollte. Er war gebürtig aus Alto-
na, wo er einer der angesehensten israelitischen Fami-
lien angehörte. Sein Stammbaum, welcher bis zu
Abraham, dem Sohne Thaers und Ahnherrn Davids,
des Königs über Juda und Israel, hinaufreichte, be-
rechtigte ihn hinlänglich, sich einen Edelmann zu nen-
nen, und da er, wie der Synagoge, auch späterhin dem
Protestantismus entsagte und, letztern förmlich ab-
schwörend, sich in den Schoß der römisch-katholi-
schen, alleinseligmachenden Kirche begeben hatte,
durfte er auch mit gutem Fug auf den Titel eines ka-
tholischen Barons Anspruch machen. In dieser Eigen-
schaft, und um die feudalistischen und klerikalischen
Interessen zu vertreten, stiftete er zu Paris ein Journal,
betitelt »Le catholique«. Nicht bloß in diesem Blatte,
sondern auch in den Salons einiger frommen Douai-
rièren des edlen Faubourgs sprach der gelehrte Edel-
mann beständig von Buddha und wieder von Buddha,
und weitläufig gründlich bewies er, daß es zwei Bud-
dha gegeben, was ihm die Franzosen schon auf sein
bloßes Ehrenwort als Edelmann geglaubt hätten, und
er wies nach, wie sich das Dogma der Trinität schon
in den indischen Trimurtis befunden, und er zitierte
den »Ramayana«, den »Mahabharata«, die »Upne-
kats«, die Kuh Sabala und den König Wiswamitra,
die »Snorrische Edda« und noch viele unentdeckte
Fossilien und Mammutsknochen, und er war dabei
ganz antediluvianisch trocken und sehr langweilig,
was immer die Franzosen blendet. Da er beständig
zurückkam auf Buddha und dieses Wort vielleicht ko-
misch aussprach, haben ihn die frivolen Franzosen
zuletzt den Baron Buddha genannt. Unter diesem
Namen fand ich ihn im Jahre 1831 zu Paris, und als
ich ihn mit einer sazerdotalen und fast synagogikalen
Gravität seine Gelehrsamkeit ableiern hörte, erinnerte
er mich an einen komischen Kauz im »Vicar of
Wakefield« von Goldsmith, welcher, wie ich glaube,
Mr. Jenkinson hieß und jedesmal, wenn er einen Ge-
lehrten antraf, den er prellen wollte, einige Stellen aus
Manetho, Berosus und Sanchuniathon zitierte; das
Sanskrit war damals noch nicht erfunden. - Ein deut-
scher Baron idealern Schlages war mein armer Freund
Friedrich de la Motte Fouqué, welcher damals, der
Kollektion der Frau von Staël angehörend, auf seiner
hohen Rosinante in Paris einritt. Er war ein Don
Quixote vom Wirbel bis zur Zehe; las man seine
Werke, so bewunderte man - Cervantes.
Aber unter den französischen Paladinen der Frau
von Staël war mancher gallische Don Quixote, der
unsern germanischen Rittern in der Narrheit nicht
nachzustehen brauchte, z.B. ihr Freund, der Vicomte
Chateaubriand, der Narr mit der schwarzen Schellen-
kappe, der zu jener Zeit der siegenden Romantik von
seiner frommen Pilgerfahrt zurückkehrte. Er brachte
eine ungeheuer große Flasche Wasser aus dem Jordan
mit nach Paris, und seine im Laufe der Revolution
wieder heidnisch gewordenen Landsleute taufte er
aufs neue mit diesem heiligen Wasser, und die begos-
senen Franzosen wurden jetzt wahre Christen und ent-
sagten dem Satan und seinen Herrlichkeiten, bekamen
im Reiche des Himmels Ersatz für die Eroberungen,
die sie auf Erden einbüßten, worunter z.B. die Rhein-
lande, und bei dieser Gelegenheit wurde ich ein Preu-
ße.
Ich weiß nicht, ob die Geschichte begründet ist,
daß Frau von Staël während der Hundert Tage dem
Kaiser den Antrag machen ließ, ihm den Beistand
ihrer Feder zu leihen, wenn er zwei Millionen, die
Frankreich ihrem Vater schuldig geblieben sei, ihr
auszahlen wolle. Der Kaiser, der mit dem Gelde der
Franzosen, die er genau kannte, immer sparsamer war
als mit ihrem Blute, soll sich auf diesen Handel nicht
eingelassen haben, und die Tochter der Alpen be-
währte das Volkswort: »Point d'argent, point de Suis-
ses.« Der Beistand der talentvollen Dame hätte übri-
gens damals dem Kaiser wenig gefruchtet, denn bald
darauf ereignete sich die Schlacht bei Waterloo.
Ich habe oben erwähnt, bei welcher traurigen Gele-
genheit ich ein Preuße wurde. Ich war geboren im
letzten Jahre des vorigen Jahrhunderts zu Düsseldorf,
der Hauptstadt des Herzogtums Berg, welches damals
den Kurfürsten von der Pfalz gehörte. Als die Pfalz
dem Hause Bayern anheimfiel und der bayrische Fürst
Maximilian Joseph vom Kaiser zum König von Bay-
ern erhoben und sein Reich durch einen Teil von Tirol
und andern angrenzenden Ländern vergrößert wurde,
hat der König von Bayern das Herzogtum Berg zu-
gunsten Joachim Murats, Schwagers des Kaisers, ab-
getreten; diesem letztern ward nun, nachdem seinem
Herzogtum noch angrenzende Provinzen hinzugefügt
worden, als Großherzog von Berg gehuldigt. Aber zu
jener Zeit ging das Avancement sehr schnell, und es
dauerte nicht lange, so machte der Kaiser den Schwa-
ger Murat zum König von Neapel, und derselbe ent-
sagte der Souveränetät des Großherzogtums Berg zu-
gunsten des Prinzen François, welcher ein Neffe des
Kaisers und ältester Sohn des Königs Ludwig von
Holland und der schönen Königin Hortense war. Da
derselbe nie abdizierte und sein Fürstentum, das von
den Preußen okkupiert ward, nach seinem Ableben
dem Sohne des Königs von Holland, dem Prinzen
Louis Napoleon Bonaparte, de jure zufiel, so ist letz-
terer, welcher jetzt auch Kaiser der Franzosen ist,
mein legitimer Souverän.
An einem andern Orte, in meinen Memoiren, erzäh-
le ich weitläufiger, als es hier geschehen dürfte, wie
ich nach der Juliusrevolution nach Paris übersiedelte,
wo ich seitdem ruhig und zufrieden lebe. Was ich
während der Restauration getan und gelitten, wird
ebenfalls zu einer Zeit mitgeteilt werden, wo die unei-
gennützige Absicht solcher Mitteilungen keinem
Zweifel und keiner Verdächtigung begegnen kann. --
Ich hatte viel getan und gelitten, und als die Sonne der
Juliusrevolution in Frankreich aufging, war ich nach-
gerade sehr müde geworden und bedurfte einiger Er-
holung. Auch ward mir die heimatliche Luft täglich
ungesunder, und ich mußte ernstlich an eine Verände-
rung des Klimas denken. Ich hatte Visionen; die Wol-
kenzüge ängstigten mich und schnitten mir allerlei fa-
tale Fratzen. Es kam mir manchmal vor, als sei die
Sonne eine preußische Kokarde; des Nachts träumte
ich von einem häßlichen schwarzen Geier, der mir die
Leber fraß, und ich ward sehr melancholisch. Dazu
hatte ich einen alten Berliner Justizrat kennengelernt,
der viele Jahre auf der Festung Spandau zugebracht
und mir erzählte, wie es unangenehm sei, wenn man
im Winter die Eisen tragen müsse. Ich fand es in der
Tat sehr unchristlich, daß man den Menschen die
Eisen nicht ein bißchen wärme. Wenn man uns die
Ketten ein wenig wärmte, würden sie keinen so unan-
genehmen Eindruck machen, und selbst fröstelnde
Naturen könnten sie dann gut ertragen; man sollte
auch die Vorsicht anwenden, die Ketten mit Essenzen
von Rosen und Lorbeeren zu parfümieren, wie es
hierzulande geschieht. Ich frug meinen Justizrat, ob er
zu Spandau oft Austern zu essen bekommen. Er sagte
nein, Spandau sei zu weit vom Meere entfernt. Auch
das Fleisch, sagte er, sei dort rar, und es gebe dort
kein anderes Geflügel als die Fliegen, die einem in die
Suppe fielen. Zu gleicher Zeit lernte ich einen franzö-
sischen Commis voyageur kennen, der für eine Wein-
handlung reiste und mir nicht genug zu rühmen
wußte, wie lustig man jetzt in Paris lebe, wie der
Himmel dort voller Geigen hänge, wie man dort von
morgens bis abends die Marseillaise und »En avant
marchons!« und »Lafayette aux cheveux blancs«
singe und Freiheit, Gleichheit und Brüderschaft an
allen Straßenecken geschrieben stehe; dabei lobte er
auch den Champagner seines Hauses, von dessen
Adresse er mir eine große Anzahl Exemplare gab, und
er versprach mir Empfehlungsbriefe für die besten Pa-
riser Restaurants, im Fall ich die Hauptstadt zu mei-
ner Erheiterung besuchen wollte. Da ich nun wirklich
einer Aufheiterung bedurfte und Spandau zu weit vom
Meere entfernt ist, um dort Austern zu essen, und
mich die Spandauer Geflügelsuppen nicht sehr lock-
ten und auch obendrein die preußischen Ketten im
Winter sehr kalt sind und meiner Gesundheit nicht zu-
träglich sein konnten, so entschloß ich mich, nach
Paris zu reisen und im Vaterland des Champagners
und der Marseillaise jenen zu trinken und diese letzte-
re, nebst »En avant, marchons!« und »Lafayette aux
cheveux blancs«, singen zu hören.
Den 1. Mai 1831 fuhr ich über den Rhein. Den
alten Flußgott, den Vater Rhein, sah ich nicht, und ich
begnügte mich, ihm meine Visitenkarte ins Wasser zu
werfen. Er saß, wie man mir sagte, in der Tiefe und
studierte wieder die französische Grammatik von
Meidinger, weil er nämlich während der preußischen
Herrschaft große Rückschritte im Französischen ge-
macht hatte und sich jetzt eventualiter aufs neue ein-
üben wollte. Ich glaubte ihn unten konjugieren zu
hören: »J'aime, tu aimes, il aime, nous aimons« -
Was liebt er aber? In keinem Fall die Preußen. Den
Straßburger Münster sah ich nur von fern; er wackelte
mit dem Kopfe, wie der alte getreue Eckart, wenn er
einen jungen Fant erblickt, der nach dem Venusberge
zieht.
Zu Saint-Denis erwachte ich aus einem süßen Mor-
genschlafe und hörte zum ersten Male den Ruf der
Coucouführer: »Paris! Paris!« sowie auch das Schel-
lengeklingel der Cocoverkäufer. Hier atmet man
schon die Luft der Hauptstadt, die am Horizonte be-
reits sichtbar. Ein alter Schelm von Lohnbedienter
wollte mich bereden, die Königsgräber zu besuchen,
aber ich war nicht nach Frankreich gekommen, um
tote Könige zu sehen; ich begnügte mich damit, mir
von jenem Cicerone die Legende des Ortes erzählen
zu lassen, wie nämlich der böse Heidenkönig dem
heiligen Denis den Kopf abschlagen ließ und dieser
mit dem Kopf in der Hand von Paris nach Saint-Denis
lief, um sich dort begraben und den Ort nach seinem
Namen nennen zu lassen. Wenn man die Entfernung
bedenke, sagte mein Erzähler, müsse man über das
Wunder staunen, daß jemand so weit zu Fuß ohne
Kopf gehen konnte - doch setzte er mit einem sonder-
baren Lächeln hinzu: »Dans des cas pareils, il n'y a
que le premier pas qui coûte.« Das war zwei Franken
wert, und ich gab sie ihm, pour l'amour de Voltaire.
In zwanzig Minuten war ich in Paris und zog ein
durch die Triumphpforte des Boulevards Saint-Denis,
die ursprünglich zu Ehren Ludwigs XIV. errichtet
worden, jetzt aber zur Verherrlichung meines Einzugs
in Paris diente. Wahrhaft überraschte mich die Menge
von geputzten Leuten, die sehr geschmackvoll geklei-
det waren wie Bilder eines Modejournals. Dann im-
ponierte mir, daß sie alle französisch sprachen, was
bei uns ein Kennzeichen der vornehmen Welt; hier ist
also das ganze Volk so vornehm wie bei uns der
Adel. Die Männer waren alle so höflich und die schö-
nen Frauen so lächelnd. Gab mir jemand unversehens
einen Stoß, ohne gleich um Verzeihung zu bitten, so
konnte ich darauf wetten, daß es ein Landsmann war;
und wenn irgendeine Schöne etwas allzu säuerlich
aussah, so hatte sie entweder Sauerkraut gegessen,
oder sie konnte Klopstock im Original lesen. Ich fand
alles so amüsant, und der Himmel war so blau und
die Luft so liebenswürdig, so generös, und dabei
flimmerten noch hie und da die Lichter der Julisonne;
die Wangen der schönen Lutetia waren noch rot von
den Flammenküssen dieser Sonne, und an ihrer Brust
war noch nicht ganz verwelkt der bräutliche Blumen-
strauß. An den Straßenecken waren freilich hie und da
die liberté, égalité, fraternité schon wieder abge-
wischt. Ich besuchte sogleich die Restaurants, denen
ich empfohlen war; diese Speisewirte versicherten
mir, daß sie mich auch ohne Empfehlungsschreiben
gut aufgenommen hätten, da ich ein so honettes und
distinguiertes Äußere besäße, das sich von selbst
empfehle. Nie hat mir ein deutscher Garkoch derglei-
chen gesagt, wenn er auch ebenso dachte, so ein Fle-
gel meint, er müsse uns das Angenehme verschweigen
und seine deutsche Offenheit verpflichte ihn, nur wi-
derwärtige Dinge uns ins Gesicht zu sagen. In den
Sitten und sogar in der Sprache der Franzosen ist so-
viel köstliche Schmeichelei, die sowenig kostet und
doch so wohltätig und erquickend. Meine Seele, die
arme Sensitive, welche die Scheu vor vaterländischer
Grobheit so sehr zusammengezogen hatte, erschloß
sich wieder jenen schmeichlerischen Lauten der fran-
zösischen Urbanität. Gott hat uns die Zunge gegeben,
damit wir unsern Mitmenschen etwas Angenehmes
sagen.
Mit dem Französischen haperte es etwas bei meiner
Ankunft; aber nach einer halbstündigen Unterredung
mit einer kleinen Blumenhändlerin im Passage de
l'Opéra ward mein Französisch, das seit der Schlacht
bei Waterloo eingerostet war, wieder flüssig, ich stot-
terte mich wieder hinein in die galantesten Konjuga-
tionen und erklärte der Kleinen sehr verständlich das
Linnéische System, wo man die Blumen nach ihren
Staubfäden einteilt; die Kleine folgte einer andern
Methode und teilte die Blumen ein in solche, die gut
röchen, und in solche, welche stänken. Ich glaube,
auch bei den Männern beobachtete sie dieselbe Klas-
sifikation. Sie war erstaunt, daß ich trotz meiner Ju-
gend so gelehrt sei, und posaunte meinen gelehrten
Ruf im ganzen Passage de l'Opéra. Ich sog auch hier
die Wohldüfte der Schmeichelei mit Wonne ein und
amüsierte mich sehr. Ich wandelte auf Blumen, und
manche gebratene Taube flog mir ins offne, gaffende
Maul. Wieviel Amüsantes sah ich hier bei meiner An-
kunft! Alle Notabilitäten des öffentlichen Ergötzens
und der offiziellen Lächerlichkeit. Die ernsthaften
Franzosen waren die amüsantesten. Ich sah Arnal,
Bouffé, Déjazet, Debureau, Odry, Mademoiselle Ge-
orges und die große Marmite im Invalidenpalaste. Ich
sah die Morgue, die Académie française, wo ebenfalls
viele unbekannte Leichen ausgestellt, und endlich die
Nekropolis des Luxembourg, worin alle Mumien des
Meineids, mit den einbalsamierten falschen Eiden, die
sie allen Dynastien der französischen Pharaonen ge-
schworen. Ich sah im Jardin des Plantes die Giraffe,
den Bock mit drei Beinen und die Känguruhs, die
mich ganz besonders amüsierten. Ich sah auch Herrn
von Lafayette und seine weißen Haare, letztere aber
sah ich aparte, da solche in einem Medaillon befind-
lich waren, welches einer schönen Dame am Halse
hing, während er selbst, der Held beider Welten, eine
braune Perücke trug, wie alle alte Franzosen. Ich be-
suchte die Königliche Bibliothek und sah hier den
Konservateur der Medaillen, die eben gestohlen wor-
den; ich sah dort auch in einem obskuren Korridor
den Zodiakus von Dhontera, der einst soviel Aufsehen
erregt hatte, und am selben Tage sah ich Madame
Récamier, die berühmteste Schönheit zur Zeit der Me-
rowinger, sowie auch Herrn Ballanche, der zu den
pièces justificatives ihrer Tugend gehörte und den sie
seit undenklicher Zeit überall mit sich herum-
schleppte. Leider sah ich nicht Herrn von
Chateautbriand, der mich gewiß amüsiert hätte. Dafür
sah ich aber in der Grande Chaumière den père La-
hire, in einem Momente, wo er bougrement en colère
war; er hatte eben zwei junge Robespierre mit weit
aufgeklappten weißen Tugendwesten bei den Krägen
erfaßt und vor die Türe gesetzt; einen kleinen Saint-
Just, der sich mausig machte, schmiß er ihnen nach,
und einige hübsche Citoyennes des Quartier latin,
welche über Verletzung der Menschheitsrechte klag-
ten, hätte schier dasselbe Schicksal betroffen. In
einem andern, ähnlichen Lokal sah ich den berühmten
Chicard, den berühmten Lederhändler und Cancantän-
zer, eine vierschrötige Figur, deren rotaufgedunsenes
Gesicht gegen die blendend weiße Krawatte vortreff-
lich abstach; steif und ernsthaft, glich er einem Mai-
rieadjunkten, der sich eben anschickt, eine Rosière zu
bekränzen. Ich bewunderte seinen Tanz, und ich sagte
ihm, daß derselbe große Ähnlichkeit habe mit dem
antiken Silenostanz, den man bei den Dionysien tanz-
te und der von dem würdigen Erzieher des Bacchus,
dem Silenos, seinen Namen empfangen. Herr Chicard
sagte mir viel Schmeichelhaftes über meine Gelehr-
samkeit und präsentierte mich einigen Damen seiner
Bekanntschaft, die ebenfalls nicht ermangelten, mein
gründliches Wissen herumzurühmen, so daß sich bald
mein Ruf in ganz Paris verbreitete und die Direktoren
von Zeitschriften mich aufsuchten, um meine Kolla-
boration zu gewinnen.
Zu den Personen, die ich bald nach meiner Ankunft
in Paris sah, gehört auch Victor Bohain, und ich erin-
nere mich mit Freude dieser jovialen, geistreichen
Figur, die durch liebenswürdige Anregungen viel
dazu beitrug, die Stirne des deutschen Träumers zu
entwölken und sein vergrämtes Herz in die Heiterkeit
des französischen Lebens einzuweihen. Er hatte da-
mals die »Europe littéraire« gestiftet, und als Direktor
derselben kam er zu mir mit dem Ansuchen, einige
Artikel über Deutschland in dem Genre der Frau von
Staël für seine Zeitschrift zu schreiben. Ich versprach,
die Artikel zu liefern, jedoch ausdrücklich bemerkend,
daß ich sie in einem ganz entgegengesetzten Genre
schreiben würde. »Das ist mir gleich« - war die la-
chende Antwort -, »außer dem genre ennuyeux ge-
statte ich wie Voltaire jedes Genre.« Damit ich armer
Deutscher nicht in das genre ennuyeux verfiele, lud
Freund Bohain mich oft zu Tische und begoß meinen
Geist mit Champagner. Niemand wußte besser wie er
ein Diner anzuordnen, wo man nicht bloß die beste
Küche, sondern auch die köstlichste Unterhaltung
genoß; niemand wußte so gut wie er als Wirt die
Honneurs zu machen, niemand so gut zu repräsentie-
ren wie Victor Bohain - auch hat er gewiß mit Recht
seinen Aktionären der »Europe littéraire« hunderttau-
send Franken Repräsentationskosten angerechnet.
Seine Frau war sehr hübsch und besaß ein niedliches
Windspiel, welches Ji-Ji hieß. Zu dem Humor des
Mannes trug sogar sein hölzernes Bein etwas bei, und
wenn er, allerliebst um den Tisch herumhumpelnd,
seinen Gästen Champagner einschenkte, glich er dem
Vulkan, als derselbe das Amt Hebes verrichtete in der
jauchzenden Götterversammlung. Wo ist er jetzt! Ich
habe lange nichts von ihm gehört. Zuletzt, vor etwa
zehn Jahren, sah ich ihn in einem Wirtshause zu
Granville; er war von England, wo er sich aufhielt,
um die kolossale englische Nationalschuld zu studie-
ren und bei dieser Gelegenheit seine kleinen Privat-
schulden zu vergessen, nach jenem Hafenstädtchen
der Basse-Normandie auf einen Tag herübergekom-
men, und hier fand ich ihn an einem Tischchen sit-
zend neben einer Bouteille Champagner und einem
vierschrötigen Spießbürger mit kurzer Stirn und auf-
gesperrtem Maule, dem er das Projekt eines Geschäf-
tes auseinandersetzte, woran, wie Bohain mit beredsa-
men Zahlen bewies, eine Million zu gewinnen war.
Bohains spekulativer Geist war immer sehr groß, und
wenn er ein Geschäft erdachte, stand immer eine Mil-
lion Gewinn in Aussicht, nie weniger als eine Million.
Die Freunde nannten ihn daher auch Messer Milione,
wie einst Marco Paulo in Venedig genannt wurde, als
derselbe nach seiner Rückkehr aus dem Morgenlande
den maulaufsperrenden Landsleuten unter den Arka-
den des Sankt-Marco-Platzes von den hundert Millio-
nen und wieder hundert Millionen Einwohnern erzähl-
te, welche er in den Ländern, die er bereist, in China,
der Tartarei, Indien usw., gesehen habe. Die neuere
Geographie hat den berühmten Venezianer, den man
lange für einen Aufschneider hielt, wieder zu Ehren
gebracht, und auch von unserm Pariser Messer Milio-
ne dürfen wir behaupten, daß seine industriellen Pro-
jekte immer großartig richtig ersonnen waren und nur
durch Zufälligkeiten in der Ausführung mißlangen;
manche brachten große Gewinne, als sie in die Hände
von Personen kamen, die nicht so gut die Honneurs
eines Geschäftes zu machen, die nicht so prachtvoll
zu repräsentieren wußten wie Victor Bohain. Auch
die »Europe littéraire« war eine vortreffliche Konzep-
tion, ihr Erfolg schien gesichert, und ich habe ihren
Untergang nie begriffen. Noch den Vorabend des
Tages, wo die Stockung begann, gab Victor Bohain in
den Redaktionssälen des Journals einen glänzenden
Ball, wo er mit seinen dreihundert Aktionären tanzte,
ganz so wie einst Leonidas mit seinen dreihundert
Spartanern den Tag vor der Schlacht bei den Thermo-
pylen. Jedesmal, wenn ich in der Galerie des Louvre
das Gemälde von David sehe, welches diese antik he-
roische Szene darstellt, denke ich an den erwähnten
letzten Tanz des Victor Bohain; ganz ebenso wie der
todesmutige König des Davidischen Bildes stand er
auf einem Beine; es war dieselbe klassische Stel-
lung. - Wanderer! wenn du in Paris die Chaussée
d'Antin nach den Boulevards herabwandelst und dich
am Ende bei einem schmutzigen Tal, das die Rue
basse du rempart geheißen, befindest, wisse! du stehst
hier vor den Thermopylen der »Europe littéraire«, wo
Victor Bohain heldenkühn fiel mit seinen dreihundert
Aktionären!
Die Aufsätze, die ich, wie gesagt, für jene Zeit-
schrift zu verfassen hatte und darin abdrucken ließ,
gaben mir Veranlassung, in weiterer Ausführung über
Deutschland und seine geistige Entwickelung mich
auszusprechen, und es entstand dadurch das Buch,
das du, teurer Leser! jetzt in Händen hast. Ich wollte
nicht bloß seinen Zweck, seine Tendenz, seine ge-
heimste Absicht, sondern auch die Genesis des Bu-
ches hier offenbaren, damit jeder um so sicherer er-
mitteln könne, wieviel Glauben und Zutrauen meine
Mitteilungen verdienen. Ich schrieb nicht im Genre
der Frau von Staël, und wenn ich mich auch bestrebte,
sowenig ennuyant wie möglich zu sein, so verzichtete
ich doch im voraus auf alle Effekte des Stiles und der
Phrase, die man bei Frau von Staël, dem größten
Autor Frankreichs während dem Empire, in so hohem
Grade antrifft. Ja, die Verfasserin der »Corinne«
überragt nach meinem Bedünken alle ihre Zeitgenos-
sen, und ich kann das sprühende Feuerwerk ihrer Dar-
stellung nicht genug bewundern; aber dieses Feuer-
werk läßt leider eine übelriechende Dunkelheit zu-
rück, und wir müssen eingestehen, ihr Genie ist nicht
so geschlechtlos, wie nach der frühern Behauptung
der Frau von Staël das Genie sein soll; ihr Genie ist
ein Weib, besitzt alle Gebrechen und Launen des
Weibes, und es war meine Pflicht als Mann, dem
glänzenden Cancan dieses Genies zu widersprechen.
Es war um so notwendiger, da die Mitteilungen in
ihrem Buch »De l'Allemagne« sich auf Gegenstände
bezogen, die den Franzosen unbekannt waren und den
Reiz der Neuheit besaßen, z.B. alles, was Bezug hat
auf deutsche Philosophie und romantische Schule. Ich
glaube in meinem Buche absonderlich über erstere die
ehrlichste Auskunft erteilt zu haben, und die Zeit hat
bestätigt, was damals, als ich es vorbrachte, unerhört
und unbegreiflich schien.
Ja, was die deutsche Philosophie betrifft, so hatte
ich unumwunden das Schulgeheimnis ausgeplaudert,
das, eingewickelt in scholastische Formeln, nur den
Eingeweihten der ersten Klasse bekannt war. Meine
Offenbarungen erregten hierzulande die größte Ver-
wunderung, und ich erinnere mich, daß sehr bedeuten-
de französische Denker mir naiv gestanden, sie hätten
immer geglaubt, die deutsche Philosophie sei ein
gewisser mystischer Nebel, worin sich die Gottheit
wie in einer heiligen Wolkenburg verborgen halte,
und die deutschen Philosophen seien ekstatische
Seher, die nur Frömmigkeit und Gottesfurcht atmeten.
Es ist nicht meine Schuld, daß dieses nie der Fall ge-
wesen, daß die deutsche Philosophie just das Gegen-
teil ist von dem, was wir bisher Frömmigkeit und
Gottesfurcht nannten, und daß unsre modernsten Phi-
losophen den vollständigsten Atheismus als das letzte
Wort unsrer deutschen Philosophie proklamierten. Sie
rissen schonungslos und mit bacchantischer Lebens-
lust den blauen Vorhang vom deutschen Himmel und
riefen: »Sehet, alle Gottheiten sind entflohen, und dort
oben sitzt nur noch eine alte Jungfer mit bleiernen
Händen und traurigem Herzen: die Notwendigkeit.«
Ach! was damals so befremdlich klang, wird jetzt
jenseits des Rheins auf allen Dächern gepredigt, und
der fanatische Eifer mancher dieser Prädikanten ist
entsetzlich! Wir haben jetzt fanatische Mönche des
Atheismus, Großinquisitoren des Unglaubens, die den
Herrn von Voltaire verbrennen lassen würden, weil er
doch im Herzen ein verstockter Deist gewesen. Solan-
ge solche Doktrinen noch Geheimgut einer Aristokra-
tie von Geistreichen blieben und in einer vornehmen
Koteriesprache besprochen wurden, welche den Be-
dienten, die aufwartend hinter uns standen, während
wir bei unsern philosophischen Petitssoupers
blasphemierten, unverständlich war - so lange gehör-
te auch ich zu den leichtsinnigen Esprits forts, wovon
die meisten jenen liberalen Grandseigneurs glichen,
die kurz vor der Revolution mit den neuen Umsturzi-
deen die Langeweile ihres müßigen Hoflebens zu ver-
scheuchen suchten. Als ich aber merkte, daß die rohe
Plebs, der Jan Hagel, ebenfalls dieselben Themata zu
diskutieren begann in seinen schmutzigen Symposien,
wo statt der Wachskerzen und Girandolen nur Talg-
lichter und Tranlampen leuchteten, als ich sah, daß
Schmierlappen von Schuster- und Schneidergesellen
in ihrer plumpen Herbergsprache die Existenz Gottes
zu leugnen sich unterfingen - als der Atheismus an-
fing, sehr stark nach Käse, Branntwein und Tabak zu
stinken: da gingen mir plötzlich die Augen auf, und
was ich nicht durch meinen Verstand begriffen hatte,
das begriff ich jetzt durch den Geruchssinn, durch das
Mißbehagen des Ekels, und mit meinem Atheismus
hatte es, gottlob! ein Ende.
Um die Wahrheit zu sagen, es mochte nicht bloß
der Ekel sein, was mir die Grundsätze der Gottlosen
verleidete und meinen Rücktritt veranlaßte. Es war
hier auch eine gewisse weltliche Besorgnis im Spiel,
die ich nicht überwinden konnte; ich sah nämlich, daß
der Atheismus ein mehr oder minder geheimes Bünd-
nis geschlossen mit dem schauderhaft nacktesten,
ganz feigenblattlosen, kommunen Kommunismus.
Meine Scheu vor dem letztern hat wahrlich nichts ge-
mein mit der Furcht des Glückspilzes, der für seine
Kapitalien zittert, oder mit dem Verdruß der wohlha-
benden Gewerbsleute, die in ihren Ausbeutungsge-
schäften gehemmt zu werden fürchten: nein, mich be-
klemmt vielmehr die geheime Angst des Künstlers
und des Gelehrten, die wir unsre ganze moderne Zivi-
lisation, die mühselige Errungenschaft so vieler Jahr-
hunderte, die Frucht der edelsten Arbeiten unsrer Vor-
gänger, durch den Sieg des Kommunismus bedroht
sehen. Fortgerissen von der Strömung großmütiger
Gesinnung, mögen wir immerhin die Interessen der
Kunst und Wissenschaft, ja alle unsre Partikularinter-
essen dem Gesamtinteresse des leidenden und unter-
drückten Volkes aufopfern; aber wir können uns nim-
mermehr verhehlen, wessen wir uns zu gewärtigen
haben, sobald die große rohe Masse, welche die einen
das Volk, die andern den Pöbel nennen und deren le-
gitime Souveränetät bereits längst proklamiert wor-
den, zur wirklichen Herrschaft käme. Ganz besonders
empfindet der Dichter ein unheimliches Grauen vor-
dem Regierungsantritt dieses täppischen Souveräns.
Wir wollen gern für das Volk uns opfern, denn
Selbstaufopferung gehört zu unsern raffiniertesten
Genüssen - die Emanzipation des Volkes war die
große Aufgabe unseres Lebens, und wir haben dafür
gerungen und namenloses Elend ertragen, in der
Heimat wie im Exile -, aber die reinliche, sensitive
Natur des Dichters sträubt sich gegen jede persönlich
nahe Berührung mit dem Volke, und noch mehr
schrecken wir zusammen bei dem Gedanken an seine
Liebkosungen, vor denen uns Gott bewahre! Ein gro-
ßer Demokrat sagte einst: er würde, hätte ein König
ihm die Hand gedrückt, sogleich seine Hand ins Feuer
halten, um sie zu reinigen. Ich möchte in derselben
Weise sagen: ich würde meine Hand waschen, wenn
mich das souveräne Volk mit seinem Händedruck be-
ehrt hätte.
O das Volk, dieser arme König in Lumpen, hat
Schmeichler gefunden, die viel schamloser als die
Höflinge von Byzanz und Versailles ihm ihren Weih-
rauchkessel an den Kopf schlugen. Diese Hoflakaien
des Volkes rühmen beständig seine Vortrefflichkeiten
und Tugenden und rufen begeistert: »Wie schön ist
das Volk! wie gut ist das Volk! wie intelligent ist das
Volk!« - Nein, ihr lügt. Das arme Volk ist nicht
schön; im Gegenteil, es ist sehr häßlich. Aber diese
Häßlichkeit entstand durch den Schmutz und wird mit
demselben schwinden, sobald wir öffentliche Bäder
erbauen, wo Seine Majestät das Volk sich unentgelt-
lich baden kann. Ein Stückchen Seife könnte dabei
nicht schaden, und wir werden dann ein Volk sehen,
das hübsch propre ist, ein Volk, das sich gewaschen
hat. Das Volk, dessen Güte so sehr gepriesen wird, ist
gar nicht gut; es ist manchmal so böse wie einige an-
dere Potentaten. Aber seine Bosheit kommt vom Hun-
ger; wir müssen sorgen, daß das souveräne Volk
immer zu essen habe; sobald allerhöchst dasselbe ge-
hörig gefüttert und gesättigt sein mag, wird es euch
auch huldvoll und gnädig anlächeln, ganz wie die an-
dern. Seine Majestät das Volk ist ebenfalls nicht sehr
intelligent; es ist vielleicht dümmer als die andern, es
ist fast so bestialisch dumm wie seine Günstlinge.
Liebe und Vertrauen schenkt es nur denjenigen, die
den Jargon seiner Leidenschaft reden oder heulen,
während es jeden braven Mann haßt, der die Sprache
der Vernunft mit ihm spricht, um es zu erleuchten und
zu veredeln. So ist es in Paris, so war es in Jerusalem.
Laßt dem Volk die Wahl zwischen dem Gerechtesten
der Gerechten und dem scheußlichsten Straßenräuber,
seid sicher, es ruft: »Wir wollen den Barnabas! Es
lebe der Barnabas!« - Der Grund dieser Verkehrtheit
ist die Unwissenheit; dieses Nationalübel müssen wir
zu tilgen suchen durch öffentliche Schulen für das
Volk, wo ihm der Unterricht auch mit den dazugehö-
rigen Butterbröten und sonstigen Nahrungsmitteln un-
entgeltlich erteilt werde. - Und wenn jeder im Volke
in den Stand gesetzt ist, sich alle beliebigen Kenntnis-
se zu erwerben, werdet ihr bald auch ein intelligentes
Volk sehen. - Vielleicht wird dasselbe am Ende noch
so gebildet, so geistreich, so witzig sein, wie wir es
sind, nämlich wie ich und du, mein teurer Leser, und
wir bekommen bald noch andre gelehrte Friseure,
welche Verse machen, wie Monsieur Jasmin zu Tou-
louse, und noch viele andre philosophische Flick-
schneider, welche ernsthafte Bücher schreiben, wie
unser Landsmann, der famose Weitling.
Bei dem Namen dieses famosen Weitling taucht
mir plötzlich mit all ihrem komischen Ernste die
Szene meines ersten und letzten Zusammentreffens
mit dem damaligen Tageshelden wieder im Gedächt-
nis herauf. Der liebe Gott, der von der Höhe seiner
Himmelsburg alles sieht, lachte wohl herzlich über
die saure Miene, die ich geschnitten haben muß, als
mir in dem Buchladen meines Freundes Campe zu
Hamburg der berühmte Schneidergesell entgegentrat
und sich als einen Kollegen ankündigte, der sich zu
denselben revolutionären und atheistischen Doktrinen
bekenne. Ich hätte wirklich in diesem Augenblick ge-
wünscht, daß der liebe Gott gar nicht existiert haben
möchte, damit er nur nicht die Verlegenheit und Be-
schämung sähe, worin mich eine solche saubre Ge-
nossenschaft versetzte! Der liebe Gott hat mir gewiß
alle meine alten Frevel von Herzen verziehen, wenn er
die Demütigung in Anschlag brachte, die ich bei
jenem Handwerksgruß des ungläubigen Knotentums,
bei jenem kollegialischen Zusammentreffen mit Weit-
ling empfand. Was meinen Stolz am meisten
verletzte, war der gänzliche Mangel an Respekt, den
der Bursche an den Tag legte, während er mit mir
sprach. Er behielt die Mütze auf dem Kopf, und wäh-
rend ich vor ihm stand, saß er auf einer kleinen Holz-
bank, mit der einen Hand sein zusammengezogenes
rechtes Bein in die Höhe haltend, so daß er mit dem
Knie fast sein Kinn berührte; mit der andern Hand
rieb er beständig dieses Bein oberhalb der Fußknö-
chel. Diese unehrerbietige Positur hatte ich anfangs
den kauernden Handwerksgewöhnungen des Mannes
zugeschrieben, doch er belehrte mich eines Bessern,
als ich ihn befrug, warum er beständig in erwähnter
Weise sein Bein riebe. Er sagte mir nämlich im unbe-
fangen gleichgültigsten Tone, als handle es sich von
einer Sache, die ganz natürlich, daß er in den ver-
schiedenen deutschen Gefängnissen, worin er geses-
sen, gewöhnlich mit Ketten belastet worden sei; und
da manchmal der eiserne Ring, welcher das Bein an-
schloß, etwas zu eng gewesen, habe er an jener Stelle
eine juckende Empfindung bewahrt, die ihn zuweilen
veranlasse, sich dort zu reiben. Bei diesem naiven Ge-
ständnis muß der Schreiber dieser Blätter ungefähr so
ausgesehen haben wie der Wolf in der Äsopischen
Fabel, als er seinen Freund, den Hund, befragt hatte,
warum das Fell an seinem Halse so abgescheuert sei,
und dieser zur Antwort gab: »Des Nachts legt man
mich an die Kette.« - Ja, ich gestehe, ich wich einige
Schritte zurück, als der Schneider solchermaßen mit
seiner widerwärtigen Familiarität von den Ketten
sprach, womit ihn die deutschen Schließer zuweilen
belästigten, wenn er im Loch saß - »Loch! Schließer!
Ketten!« lauter fatale Koterieworte einer geschlosse-
nen Gesellschaft, womit man mir eine schreckliche
Vertrautheit zumutete. Und es war hier nicht die Rede
von jenen metaphorischen Ketten, die jetzt die ganze
Welt trägt, die man mit dem größten Anstand tragen
kann und die sogar bei Leuten von gutem Tone in die
Mode gekommen - nein, bei den Mitgliedern jener
geschlossenen Gesellschaft sind Ketten gemeint in
ihrer eisernsten Bedeutung, Ketten, die man mit einem
eisernen Ring ans Bein befestigt - und ich wich eini-
ge Schritte zurück, als der Schneider Weitling von
solchen Ketten sprach. Nicht etwa die Furcht vor dem
Sprichwort »Mitgefangen, mitgehangen!«, nein, mich
schreckte vielmehr das Nebeneinandergehenktwerden.
Dieser Weitling, der jetzt verschollen, war übrigens
ein Mensch von Talent; es fehlte ihm nicht an Gedan-
ken, und sein Buch, betitelt »Die Garantien der Ge-
sellschaft«, war lange Zeit der Katechismus der deut-
schen Kommunisten. Die Anzahl dieser letztern hat
sich in Deutschland während der letzten Jahre unge-
heuer vermehrt, und diese Partei ist zu dieser Stunde
unstreitig eine der mächtigsten jenseits des Rheines.
Die Handwerker bilden den Kern einer
Unglaubensarmee, die vielleicht nicht sonderlich dis-
zipliniert, aber in doktrineller Beziehung ganz vor-
züglich einexerziert ist. Diese deutschen Handwerker
bekennen sich größtenteils zum krassesten Atheis-
mus, und sie sind gleichsam verdammt, dieser trostlo-
sen Negation zu huldigen, wenn sie nicht in einen Wi-
derspruch mit ihrem Prinzip und somit in völlige
Ohnmacht verfallen wollen. Diese Kohorten der Zer-
störung, diese Sappeure, deren Axt das ganze gesell-
schaftliche Gebäude bedroht, sind den Gleichmachern
und Umwälzern in andern Ländern unendlich überle-
gen, wegen der schrecklichen Konsequenz ihrer Dok-
trin; denn in dem Wahnsinn, der sie antreibt, ist, wie
Polonius sagen würde, Methode.
Das Verdienst, jene grauenhaften Erscheinungen,
welche erst später eintrafen, in meinem Buche »De
l'Allemagne« lange vorausgesagt zu haben, ist nicht
von großem Belange. Ich konnte leicht prophezeien,
welche Lieder einst in Deutschland gepfiffen und ge-
zwitschert werden dürften, denn ich sah die Vögel
ausbrüten, welche später die neuen Sangesweisen an-
stimmten. Ich sah, wie Hegel mit seinem fast komisch
ernsthaften Gesichte als Bruthenne auf den fatalen
Eiern saß, und ich hörte sein Gackern. Ehrlich gesagt,
selten verstand ich ihn, und erst durch späteres Nach-
denken gelangte ich zum Verständnis seiner Worte.
Ich glaube, er wollte gar nicht verstanden sein, und
daher sein verklausulierter Vortrag, daher vielleicht
auch seine Vorliebe für Personen, von denen er
wußte, daß sie ihn nicht verständen, und denen er um
so bereitwilliger die Ehre seines nähern Umgangs
gönnte. So wunderte sich jeder in Berlin über den in-
timen Verkehr des tiefsinnigen Hegel mit dem ver-
storbenen Heinrich Beer, einem Bruder des durch sei-
nen Ruhm allgemein bekannten und von den
geistreichsten Journalisten gefeierten Giacomo Meyer-
beer. Jener Beer, nämlich der Heinrich, war ein schier
unkluger Gesell, der auch wirklich späterhin von sei-
ner Familie für blödsinnig erklärt und unter Kuratel
gesetzt wurde, weil er, anstatt sich durch sein großes
Vermögen einen Namen zu machen in der Kunst oder
Wissenschaft, vielmehr für läppische Schnurrpfeife-
reien seinen Reichtum vergeudete und z.B. eines Tags
für sechstausend Taler Spazierstöcke gekauft hatte.
Dieser arme Mensch, der weder für einen großen Tra-
gödiendichter noch für einen großen Sterngucker oder
für ein lorbeerbekränztes musikalisches Genie, einen
Nebenbuhler von Mozart und Rossini, gelten wollte
und lieber sein Geld für Spazierstöcke ausgab - die-
ser aus der Art geschlagene Beer genoß den vertraute-
sten Umgang Hegels, er war der Intimus des Philoso-
phen, sein Pylades, und begleitete ihn überall wie sein
Schatten. Der ebenso witzige wie talentbegabte Felix
Mendelssohn suchte einst dieses Phänomen zu
erklären, indem er behauptete: Hegel verstände den
Heinrich Beer nicht. Ich glaube aber jetzt, der wirkli-
che Grund jenes intimen Umgangs bestand darin, daß
Hegel überzeugt war, Heinrich Beer verstände nichts
von allem, was er ihn reden höre, und er konnte daher
in seiner Gegenwart sich ungeniert allen Geistesergie-
ßungen des Moments überlassen. Überhaupt war das
Gespräch von Hegel immer eine Art von Monolog,
stoßweis hervorgeseufzt mit klangloser Stimme; das
Barocke der Ausdrücke frappierte mich oft, und von
letztern blieben mir viele im Gedächtnis. Eines schö-
nen hellgestirnten Abends standen wir beide neben-
einander am Fenster, und ich, ein zweiundzwanzig-
jähriger junger Mensch, ich hatte eben gut gegessen
und Kaffee getrunken, und ich sprach mit Schwärme-
rei von den Sternen und nannte sie den Aufenthalt der
Seligen. Der Meister aber brümmelte vor sich hin:
»Die Sterne, hum! hum! die Sterne sind nur ein leuch-
tender Aussatz am Himmel.« - »Um Gottes willen« -
rief ich -, »es gibt also droben kein glückliches
Lokal, um dort die Tugend nach dem Tode zu beloh-
nen?« Jener aber, indem er mich mit seinen bleichen
Augen stier ansah, sagte schneidend: »Sie wollen also
noch ein Trinkgeld dafür haben, daß Sie Ihre kranke
Mutter gepflegt und Ihren Herrn Bruder nicht vergiftet
haben?« - Bei diesen Worten sah er sich ängstlich
um, doch er schien gleich wieder beruhigt, als er
bemerkte, daß nur Heinrich Beer herangetreten war,
um ihn zu einer Partie Whist einzuladen.
Wie schwer das Verständnis der Hegelschen
Schriften ist, wie leicht man sich hier täuschen kann
und zu verstehen glaubt, während man nur dialekti-
sche Formeln nachzukonstruieren gelernt, das merkte
ich erst viele Jahre später hier in Paris, als ich mich
damit beschäftigte, aus dem abstrakten Schulidiom
jene Formeln in die Muttersprache des gesunden Ver-
standes und der allgemeinen Verständlichkeit, ins
Französische, zu übersetzen. Hier muß der Dolmetsch
bestimmt wissen, was er zu sagen hat, und der ver-
schämteste Begriff ist gezwungen, die mystischen Ge-
wänder fallenzulassen und sich in seiner Nacktheit zu
zeigen. Ich hatte nämlich den Vorsatz gefaßt, eine all-
gemeinverständliche Darstellung der ganzen Hegel-
schen Philosophie zu verfassen, um sie einer neuern
Ausgabe meines Buches »De l'Allemagne« als Ergän-
zung desselben einzuverleiben. Ich beschäftigte mich
während zwei Jahren mit dieser Arbeit, und es gelang
mir nur mit Not und Anstrengung, den spröden Stoff
zu bewältigen und die abstraktesten Partien so popu-
lär als möglich vorzutragen. Doch als das Werk end-
lich fertig war, erfaßte mich bei seinem Anblick ein
unheimliches Grauen, und es kam mir vor, als ob das
Manuskript mich mit fremden, ironischen, ja boshaf-
ten Augen ansähe. Ich war in eine sonderbare
Verlegenheit geraten: Autor und Schrift paßten nicht
mehr zusammen. Es hatte sich nämlich um jene Zeit
der obenerwähnte Widerwille gegen den Atheismus
schon meines Gemütes bemeistert, und da ich mir ge-
stehen mußte, daß allen diesen Gottlosigkeiten die
Hegelsche Philosophie den furchtbarsten Vorschub
geleistet, ward sie mir äußerst unbehaglich und fatal.
Ich empfand überhaupt nie eine allzu große Begeiste-
rung für diese Philosophie, und von Überzeugung
konnte in bezug auf dieselbe gar nicht die Rede sein.
Ich war nie abstrakter Denker, und ich nahm die Syn-
these der Hegelschen Doktrin ungeprüft an, da ihre
Folgerungen meiner Eitelkeit schmeichelten. Ich war
jung und stolz, und es tat meinem Hochmut wohl, als
ich von Hegel erfuhr, daß nicht, wie meine Großmut-
ter meinte, der liebe Gott, der im Himmel residiert,
sondern ich selbst hier auf Erden der liebe Gott sei.
Dieser törichte Stolz übte keineswegs einen verderbli-
chen Einfluß auf meine Gefühle, die er vielmehr bis
zum Heroismus steigerte; und ich machte damals
einen solchen Aufwand von Großmut und Selbstauf-
opferung, daß ich dadurch die brillantesten Hochtaten
jener guten Spießbürger der Tugend, die nur aus
Pflichtgefühl handelten und nur den Gesetzen der
Moral gehorchten, gewiß außerordentlich verdunkelte.
War ich doch selber jetzt das lebende Gesetz der
Moral und der Quell alles Rechtes und aller Befugnis.
Ich war die Ursittlichkeit, ich war unsündbar, ich war
die inkarnierte Reinheit; die anrüchigsten Magdalenen
wurden purifiziert durch die läuternde und sühnende
Macht meiner Liebesflammen, und fleckenlos wie Li-
lien und errötend wie keusche Rosen, mit einer ganz
neuen Jungfräulichkeit, gingen sie hervor aus den
Umarmungen des Gottes. Diese Restaurationen be-
schädigter Magdtümer, ich gestehe es, erschöpften zu-
weilen meine Kräfte. Aber ich gab, ohne zu feilschen,
und unerschöpflich war der Born meiner Barmherzig-
keit. Ich war ganz Liebe und war ganz frei von Haß.
Ich rächte mich auch nicht mehr an meinen Feinden,
da ich im Grunde keinen Feind mehr hatte oder viel-
mehr niemand als solchen anerkannte: für mich gab es
jetzt nur noch Ungläubige, die an meiner Göttlichkeit
zweifelten - Jede Unbill, die sie mir antaten, war ein
Sakrilegium, und ihre Schmähungen waren Blasphe-
mien. Solche Gottlosigkeiten konnte ich freilich nicht
immer ungeahndet lassen, aber alsdann war es nicht
eine menschliche Rache, sondern die Strafe Gottes,
die den Sünder traf. Bei dieser höhern Gerechtigkeits-
pflege unterdrückte ich zuweilen mit mehr oder weni-
ger Mühe alles gemeine Mitleid. Wie ich keine Feinde
besaß, so gab es für mich auch keine Freunde, son-
dern nur Gläubige, die an meine Herrlichkeit
glaubten, die mich anbeteten, auch meine Werke lob-
ten, sowohl die versifizierten wie die, welche ich in
Prosa geschaffen, und dieser Gemeinde von wahrhaft
Frommen und Andächtigen tat ich sehr viel Gutes,
zumal den jungen Devotinnen.
Aber die Repräsentationskosten eines Gottes, der
sich nicht lumpen lassen will und weder Leib noch
Börse schont, sind ungeheuer; um eine solche Rolle
mit Anstand zu spielen, sind besonders zwei Dinge
unentbehrlich: viel Geld und viel Gesundheit. Leider
geschah es, daß eines Tages - im Februar 1848 -
diese beiden Requisiten mir abhanden kamen, und
meine Göttlichkeit geriet dadurch sehr in Stocken.
Zum Glück war das verehrungswürdige Publikum in
jener Zeit mit so großen, unerhörten, fabelhaften
Schauspielen beschäftigt, daß das, selbe die Verände-
rung, die damals mit meiner kleinen Person vorging,
nicht besonders bemerken mochte. Ja, sie waren uner-
hört und fabelhaft, die Ereignisse in jenen tollen Fe-
bruartagen, wo die Weisheit der Klügsten zuschanden
gemacht und die Auserwählten des Blödsinns aufs
Schild gehoben wurden. Die Letzten wurden die Er-
sten, das Unterste kam zuoberst, sowohl die Dinge
wie die Gedanken waren umgestürzt, es war wirklich
die verkehrte Welt. - Wäre ich in dieser unsinnigen,
auf den Kopf gestellten Zeit ein vernünftiger Mensch
gewesen, so hätte ich gewiß durch jene Ereignisse
meinen Verstand verloren, aber verrückt, wie ich da-
mals war, mußte das Gegenteil geschehen, und
sonderbar! just in den Tagen des allgemeinen Wahn-
sinus kam ich selber wieder zur Vernunft! Gleich vie-
len anderen heruntergekommenen Göttern jener Um-
sturzperiode mußte auch ich kümmerlich abdanken
und in den menschlichen Privatstand wieder zurück-
treten. Das war auch das Gescheiteste, das ich tun
konnte. Ich kehrte zurück in die niedre Hürde der
Gottesgeschöpfe, und ich huldigte wieder der All-
macht eines höchsten Wesens, das den Geschicken
dieser Welt vorsteht und das auch hinfüro meine eig-
nen irdischen Angelegenheiten leiten sollte. Letztere
waren während der Zeit, wo ich meine eigne Vorse-
hung war, in bedenkliche Verwirrung geraten, und ich
war froh, sie gleichsam einem himmlischen Intendan-
ten zu übertragen, der sie mit seiner Allwissenheit
wirklich viel besser besorgt. Die Existenz eines Got-
tes war seitdem für mich nicht bloß ein Quell des
Heils, sondern sie überhob mich auch aller jener
quälerischen Rechnungsgeschäfte, die mir so verhaßt,
und ich verdanke ihr die größten Ersparnisse. Wie für
mich, brauche ich jetzt auch nicht mehr für andre zu
sorgen, und seit ich zu den Frommen gehöre, gebe ich
fast gar nichts mehr aus für Unterstützung von Hülfs-
bedürftigen; - ich bin zu bescheiden, als daß ich der
göttlichen Fürsehung wie ehemals ins Handwerk pfu-
schen sollte, ich bin kein Gemeindeversorger mehr,
kein Nachäffer Gottes, und meinen ehemaligen
Klienten habe ich mit frommer Demut angezeigt, daß
ich nur ein armseliges Menschengeschöpf bin, eine
seufzende Kreatur, die mit der Weltregierung nichts
mehr zu schaffen hat, und daß sie sich hinfüro in Not
und Trübsal an den Herrgott wenden müßten, der im
Himmel wohnt und dessen Budget ebenso unermeß-
lich wie seine Güte ist, während ich armer Exgott
sogar in meinen göttlichsten Tagen, um meinen
Wohltätigkeitsgelüsten zu genügen, sehr oft den Teu-
fel an dem Schwanz ziehen mußte.
»Tirer le diable par la queue« ist in der Tat einer
der glücklichsten Ausdrücke der französischen Spra-
che, aber die Sache selbst war höchst demütigend für
einen Gott. Ja, ich bin froh, meiner angemaßten Glo-
rie entledigt zu sein, und kein Philosoph wird mir je-
mals wieder einreden, daß ich ein Gott sei! Ich bin
nur ein armer Mensch, der obendrein nicht mehr ganz
gesund und sogar sehr krank ist. In diesem Zustand
ist es eine wahre Wohltat für mich, daß es jemand im
Himmel gibt, dem ich beständig die Litanei meiner
Leiden vorwimmern kann, besonders nach Mitter-
nacht, wenn Mathilde sich zur Ruhe begeben, die sie
oft sehr nötig hat. Gottlob! in solchen Stunden bin ich
nicht allein, und ich kann beten und flennen, soviel
ich will und ohne mich zu genieren, und ich kann
ganz mein Herz ausschütten vor dem Allerhöchsten
und ihm manches vertrauen, was wir sogar unsrer
eignen Frau zu verschweigen pflegen.
Nach obigen Geständnissen wird der geneigte
Leser leichtlich begreifen, warum mir meine Arbeit
über die Hegelsche Philosophie nicht mehr behagte.
Ich sah gründlich ein, daß der Druck derselben weder
den Publikum noch dem Autor heilsam sein konnte;
ich sah ein, daß die magersten Spittelsuppen der
christlichen Barmherzigkeit für die verschmachtende
Menschheit noch immer erquicklicher sein dürften als
das gekochte graue Spinnweb der Hegelschen Dialek-
tik; - ja ich will alles gestehen, ich bekam auf einmal
eine große Furcht vor den ewigen Flammen - es ist
freilich ein Aberglaube, aber ich hatte Furcht -, und
an einem stillen Winterabend, als eben in meinem
Kamin ein starkes Feuer brannte, benutzte ich die
schöne Gelegenheit, und ich warf mein Manuskript
über die Hegelsche Philosophie in die lodernde Glut;
die brennenden Blätter flogen hinauf in den Schlot mit
einem sonderbaren kichernden Geknister.
Gottlob, ich war sie los! Ach, könnte ich doch
alles, was ich einst über die deutsche Philosophie
drucken ließ, in derselben Weise vernichten! Aber das
ist unmöglich, und da ich nicht einmal den Wiederab-
druck bereits vergriffener Bücher verhindern kann,
wie ich jüngst betrübsamlichst erfahren, so bleibt mir
nichts übrig, als öffentlich zu gestehen, daß meine
Darstellung der deutschen philosophischen Systeme,
also fürnehmlich die ersten drei Abteilungen meines
Buches »De l'Allemagne«, die sündhaftesten Irrtümer
enthalten. Ich hatte die genannten drei Partien in einer
deutschen Version als ein besonderes Buch drucken
lassen, und da die letzte Ausgabe des selben vergrif-
fen war und mein Buchhändler das Recht besaß, eine
neue Ausgabe zu veröffentlichen, so versah ich das
Buch mit einer Vorrede, woraus ich eine Stelle hier
mitteile, die mich des traurigen Geschäftes überhebt,
in bezug auf die erwähnten drei Partien der »Allema-
gne« mich besonders auszusprechen. Sie lautet wie
folgt: »Ehrlich gestanden, es wäre mir lieb, wenn ich
das Buch ganz ungedruckt lassen könnte. Es haben
sich nämlich seit dem Erscheinen desselben meine
Ansichten über manche Dinge, besonders über göttli-
che Dinge, bedenklich geändert, und manches, was
ich behauptete, widerspricht jetzt meiner bessern
Überzeugung. Aber der Pfeil gehört nicht mehr dem
Schützen, sobald er von der Sehne des Bogens fort-
fliegt, und das Wort gehört nicht mehr dem Sprecher,
sobald es seiner Lippe entsprungen und gar durch die
Presse vervielfältigt worden. Außerdem würden frem-
de Befugnisse mir mit zwingendem Einspruch entge-
gentreten, wenn ich dieses Buch ungedruckt ließe und
meinen Gesamtwerken entzöge. Ich könnte zwar, wie
manche Schriftsteller in solchen Fällen tun, zu einer
Milderung der Ausdrücke, zu Verhüllungen durch
Phrase meine Zuflucht nehmen; aber ich hasse im
Grund meiner Seele die zweideutigen Worte, die
heuchlerischen Blumen, die feigen Feigenblätter.
Einem ehrlichen Manne bleibt aber unter allen Um-
ständen das unveräußerliche Recht, seinen Irrtum
offen zu gestehen, und ich will es ohne Scheu hier
ausüben. Ich bekenne daher unumwunden, daß alles,
was in diesem Buche namentlich auf die große Got-
tesfrage Bezug hat, ebenso falsch wie unbesonnen ist.
Ebenso unbesonnen wie falsch ist die Behauptung,
die ich der Schule nachsprach, daß der Deismus in der
Theorie zugrunde gerichtet sei und sich nur noch in
der Erscheinungswelt kümmerlich hinfriste. Nein, es
ist nicht wahr, daß die Vernunftkritik, welche die Be-
weistümer für das Dasein Gottes, wie wir dieselben
seit Anselm von Canterbury kennen, zernichtet hat,
auch dem Dasein Gottes selber ein Ende gemacht
habe. Der Deismus lebt, lebt sein lebendigstes Leben,
er ist nicht tot, und am allerwenigsten hat ihn die
neueste deutsche Philosophie getötet. Diese spinnwe-
bige Berliner Dialektik kann keinen Hund aus dem
Ofenloch locken, sie kann keine Katze töten, wieviel
weniger einen Gott. Ich habe es am eignen Leibe er-
probt, wie wenig gefährlich ihr Umbringen ist; sie
bringt immer um, und die Leute bleiben dabei am
Leben. Der Türhüter der Hegelschen Schule, der
grimme Ruge, behauptete einst steif und fest oder
vielmehr fest und steif, daß er mich mit seinem Por-
tierstock in den ›Hallischen Jahrbüchern‹ totgeschla-
gen habe, und doch zur selben Zeit ging ich umher auf
den Boulevards von Paris, frisch und gesund und un-
sterblicher als je. Der arme, brave Ruge! er selber
konnte sich später nicht des ehrlichsten Lachens ent-
halten, als ich ihm hier in Paris das Geständnis mach-
te, daß ich die fürchterlichen Totschlagblätter, die
›Hallischen Jahrbücher‹, nie zu Gesicht bekommen
hatte, und sowohl meine vollen roten Backen als auch
der gute Appetit, womit ich Austern schluckte, über-
zeugten ihn, wie wenig mir der Name einer Leiche ge-
bührte. In der Tat, ich war damals noch gesund und
feist, ich stand im Zenit meines Fettes und war so
übermütig wie der König Nebukadnezar vor seinem
Sturze.
Ach! einige Jahre später ist eine leibliche und gei-
stige Veränderung eingetreten. Wie oh seitdem denke
ich an die Geschichte dieses babylonischen Königs,
der sich selbst für den lieben Gott hielt, aber von der
Höhe seines Dünkels erbärmlich herabstürzte, wie ein
Tier am Boden kroch und Gras aß - (es wird wohl
Salat gewesen sein). In dem prachtvoll grandiosen
Buch Daniel steht diese Legende, die ich nicht bloß
dem guten Ruge, sondern auch meinem noch viel ver-
stocktern Freunde Marx, ja auch den Herren Feuer-
bach, Daumer, Bruno Bauer, Hengstenberg, und wie
sie sonst heißen mögen, diese gottlosen Selbstgötter,
zur erbaulichen Beherzigung empfehle. Es stehen
überhaupt noch viel schöne und merkwürdige Erzäh-
lungen in der Bibel, die ihrer Beachtung wert wären,
z.B. gleich im Anfang die Geschichte von dem verbo-
tenen Baume im Paradiese und von der Schlange, der
kleinen Privatdozentin, die schon sechstausend Jahre
vor Hegels Geburt die ganze Hegelsche Philosophie
vortrug. Dieser Blaustrumpf ohne Füße zeigt sehr
scharfsinnig, wie das Absolute in der Identität von
Sein und Wissen besteht, wie der Mensch zum Gotte
werde durch die Erkenntnis oder, was dasselbe ist,
wie Gott im Menschen zum Bewußtsein seiner selbst
gelange. - Diese Formel ist nicht so klar wie die ur-
sprünglichen Worte: ›Wenn ihr vom Baume der Er-
kenntnis genossen, werdet ihr wie Gott sein!‹ Frau
Eva verstand von der ganzen Demonstration nur das
eine, daß die Frucht verboten sei, und weil sie verbo-
ten, aß sie davon, die gute Frau. Aber kaum hatte sie
von dem lockenden Apfel gegessen, so verlor sie ihre
Unschuld, ihre naive Unmittelbarkeit, sie fand, daß
sie viel zu nackend sei für eine Person von ihrem
Stande, die Stammutter so vieler künftigen Kaiser und
Könige, und sie verlangte ein Kleid. Freilich nur ein
Kleid von Feigenblättern, weil damals noch keine
Lyoner Seidenfabrikanten geboren waren und weil es
auch im Paradiese noch keine Putzmacherinnen und
Modehändlerinnen gab - o Paradies! Sonderbar,
sowie das Weib zum denkenden Selbstbewußtsein
kommt, ist ihr erster Gedanke ein neues Kleid! Auch
diese biblische Geschichte, zumal die Rede der
Schlange, kommt mir nicht aus dem Sinn, und ich
möchte sie als Motto diesem Buche voransetzen, in
derselben Weise, wie man oft vor fürstlichen Gärten
eine Tafel sieht mit der warnenden Aufschrift: ›Hier
liegen Fußangeln und Selbstschüsse‹.«
Nach der Stelle, welche ich hier zitiert, folgen Ge-
ständnisse über den Einfluß, den die Lektüre der
Bibel auf meine spätere Geistesevolution ausübte. Die
Wiedererweckung meines religiösen Gefühls verdan-
ke ich jenem heiligen Buche, und dasselbe ward für
mich ebensosehr eine Quelle des Heils als ein Gegen-
stand der frömmigsten Bewunderung. Sonderbar!
Nachdem ich mein ganzes Leben hindurch mich auf
allen Tanzböden der Philosophie herumgetrieben,
allen Orgien des Geistes mich hingegeben, mit allen
möglichen Systemen gebuhlt, ohne befriedigt worden
zu sein, wie Messaline nach einer lüderlichen Nacht -
jetzt befinde ich mich plötzlich auf demselben Stand-
punkt, worauf auch der Onkel Tom steht, auf dem der
Bibel, und ich knie neben dem schwarzen Betbruder
nieder in derselben Andacht -
Welche Demütigung! mit all meiner Wissenschaft
habe ich es nicht weiter gebracht als der arme
unwissende Neger, der kaum buchstabieren gelernt!
Der arme Tom scheint freilich in dem heiligen Buche
noch tiefere Dinge zu sehen als ich, dem besonders
die letzte Partie noch nicht ganz klar geworden. Tom
versteht sie vielleicht besser, weil mehr Prügel darin
vorkommen, nämlich jene unaufhörlichen
Peitschendiebe, die mich manchmal bei der Lektüre
der Evangelien und der Apostelgeschichte sehr unäs-
thetisch anwiderten. So ein armer Negersklave liest
zugleich mit dem Rücken und begreift daher viel bes-
ser als wir. Dagegen glaube ich mir schmeicheln zu
dürfen, daß mir der Charakter des Moses in der ersten
Abteilung des heiligen Buches einleuchtender aufge-
gangen sei. Diese große Figur hat mir nicht wenig im-
poniert. Welche Riesengestalt! Ich kann mir nicht
vorstellen, daß Ok, König von Basan, größer gewesen
sei. Wie klein erscheint der Sinai, wenn der Moses
darauf steht! Dieser Berg ist nur das Postament, wor-
auf die Füße des Mannes stehen, dessen Haupt in den
Himmel hineinragt, wo er mit Gott spricht - Gott ver-
zeih mir die Sünde, manchmal wollte es mich bedün-
ken, als sei dieser mosaische Gott nur der
zurückgestrahlte Lichtglanz des Moses selbst, dem er
so ähnlich sieht, ähnlich in Zorn und in Liebe - Es
wäre eine große Sünde, es wäre Anthropomorphis-
mus, wenn man eine solche Identität des Gottes und
seines Propheten annähme - aber die Ähnlichkeit ist
frappant.
Ich hatte Moses früher nicht sonderlich geliebt,
wahrscheinlich, weil der hellenische Geist in mir vor-
waltend war und ich dem Gesetzgeber der Juden sei-
nen Haß gegen alle Bildlichkeit, gegen die Plastik,
nicht verzeihte. Ich sah nicht, daß Moses, trotz seiner
Befeindung der Kunst, dennoch selber ein großer
Künstler war und den wahren Künstlergeist besaß.
Nur war dieser Künstlergeist bei ihm, wie bei seinen
ägyptischen Landsleuten, nur auf das Kolossale und
Unverwüstliche gerichtet. Aber nicht wie die Ägypter
formierte er seine Kunstwerke aus Backstein und Gra-
nit, sondern er baute Menschenpyramiden, er meißelte
Menschenobelisken, er nahm einen armen Hirten-
stamm und schuf daraus ein Volk, das ebenfalls den
Jahrhunderten trotzen sollte, ein großes, ewiges, heili-
ges Volk, ein Volk Gottes, das allen andern Völkern
als Muster, ja der ganzen Menschheit als Prototyp
dienen konnte: er schuf Israel! Mit größerm Rechte
als der römische Dichter darf jener Künstler, der Sohn
Amrams und der Hebamme Jochebed, sich rühmen,
ein Monument errichtet zu haben, das alle Bildungen
aus Erz überdauern wird!
Wie über den Werkmeister, hab ich auch über das
Werk, die Juden, nie mit hinlänglicher Ehrfurcht ge-
sprochen, und zwar gewiß wieder meines hellenischen
Naturells wegen, dem der judäische Asketismus
zuwider war. Meine Vorliebe für Hellas hat seitdem
abgenommen. Ich sehe jetzt, die Griechen waren nur
schöne Jünglinge, die Juden aber waren immer Män-
ner, gewaltige, unbeugsame Männer, nicht bloß ehe-
mals, sondern bis auf den heutigen Tag, trotz acht-
zehn Jahrhunderten der Verfolgung und des Elends.
Ich habe sie seitdem besser würdigen gelernt, und
wenn nicht jeder Geburtsstolz bei dem Kämpen der
Revolution und ihrer demokratischen Prinzipien ein
närrischer Widerspruch wäre, so könnte der Schreiber
dieser Blätter stolz darauf sein, daß seine Ahnen dem
edlen Hause Israel angehörten, daß er ein Abkömm-
ling jener Märtyrer, die der Welt einen Gott und eine
Moral gegeben und auf allen Schlachtfeldern des Ge-
dankens gekämpft und gelitten haben.
Die Geschichte des Mittelalters und selbst der mo-
dernen Zeit hat selten in ihre Tagesberichte die
Namen solcher Ritter des heiligen Geistes eingezeich-
net, denn sie fochten gewöhnlich mit verschlossenem
Visier. Ebensowenig die Taten der Juden wie ihr ei-
gentliches Wesen sind der Welt bekannt. Man glaubt
sie zu kennen, weil man ihre Bärte gesehen, aber
mehr kam nie von ihnen zum Vorschein, und wie im
Mittelalter sind sie auch noch in der modernen Zeit
ein wandelndes Geheimnis. Es mag enthüllt werden
an dem Tage, wovon der Prophet geweissagt, daß es
alsdann nur noch einen Hirten und eine Herde geben
wird und der Gerechte, der für das Heil der Mensch-
heit geduldet, seine glorreiche Anerkennung emp-
fängt.
Man sieht, ich, der ich ehemals den Homer zu zitie-
ren pflegte, ich zitiere jetzt die Bibel, wie der Onkel
Tom. In der Tat, ich verdanke ihr viel. Sie hat, wie ich
oben gesagt, das religiöse Gefühl wieder in mir er-
weckt; und diese Wiedergeburt des religiösen Gefühls
genügte dem Dichter, der vielleicht weit leichter als
andre Sterbliche der positiven Glaubensdogmen ent-
behren kann. Er hat die Gnade, und seinem Geist er-
schließt sich die Symbolik des Himmels und der Erde,
er bedarf dazu keines Kirchenschlüssels. Die töricht-
sten und widersprechendsten Gerüchte sind in dieser
Beziehung über mich in Umlauf gekommen. Sehr
fromme, aber nicht sehr gescheute Männer des prote-
stantischen Deutschlands haben mich dringend be-
fragt, ob ich dem lutherisch-evangelischen Bekennt-
nisse, zu welchem ich mich bisher nur in lauer, offizi-
eller Weise bekannte, jetzt, wo ich krank und gläubig
geworden, mit größerer Sympathie als zuvor zugetan
sei. Nein, ihr lieben Freunde, es ist in dieser Bezie-
hung keine Änderung mit mir vorgegangen, und wenn
ich überhaupt dem evangelischen Glauben angehörig
bleibe, so geschieht es, weil er mich auch jetzt durch-
aus nicht geniert, wie er mich früher nie allzusehr ge-
nierte. Freilich, ich gestehe es aufrichtig, als ich mich
in Preußen und zumal in Berlin befand, hätte ich, wie
manche meiner Freunde, mich gern von jedem kirchli-
chen Bande bestimmt losgesagt, wenn nicht die dorti-
gen Behörden jedem, der sich zu keiner von den staat-
lich privilegierten positiven Religionen bekannte, den
Aufenthalt in Preußen und zumal in Berlin verweiger-
ten. Wie Henri IV einst lachend sagte: »Paris vaut
bien une messe«, so konnte ich mit Fug sagen: »Ber-
lin vaut bien un prêche«, und ich konnte mir, nach
wie vor, das sehr aufgeklärte und von jedem Aber-
glauben filtrierte Christentum gefallen lassen, das
man damals sogar ohne Gottheit Christi, wie Schild-
krötensuppe ohne Schildkröte, in den Berliner Kir-
chen haben konnte. Zu jener Zeit war ich selbst noch
ein Gott, und keine der positiven Religionen hatte
mehr Wert für mich als die andere; ich konnte aus
Courtoisie ihre Uniformen tragen, wie z.B. der russi-
sche Kaiser sich in einen preußischen Gardeoffizier
verkleidet, wenn er dem König von Preußen die Ehre
erzeigt, einer Revue in Potsdam bei zuwohnen.
Jetzt, wo durch das Wiedererwachen des religiösen
Gefühls, sowie auch durch meine körperlichen Lei-
den, mancherlei Veränderung in mir vorgegangen -
entspricht jetzt die lutherische Glaubensuniform eini-
germaßen meinem innersten Gedanken? Inwieweit ist
das offizielle Bekenntnis zur Wahrheit geworden?
Solcher Frage will ich durch keine direkte
Beantwortung begegnen, sie soll mir nur eine Gele-
genheit bieten, die Verdienste zu beleuchten, die sich
der Protestantismus, nach meiner jetzigen Einsicht,
um das Heil der Welt erworben; und man mag danach
ermessen, inwiefern ihm eine größere Sympathie von
meiner Seite gewonnen ward.
Früherhin, wo die Philosophie ein überwiegendes
Interesse für mich hatte, wußte ich den Protestantis-
mus nur wegen der Verdienste zu schätzen, die er sich
durch die Eroberung der Denkfreiheit erworben, die
doch der Boden ist, auf welchem sich später Leibniz,
Kant und Hegel bewegen konnten - Luther, der ge-
waltige Mann mit der Axt, mußte diesen Kriegern
vorangehen und ihnen den Weg bahnen. In dieser Be-
ziehung habe ich auch die Reformation als den An-
fang der deutschen Philosophie gewürdigt und meine
kampflustige Parteinahme für den Protestantismus ju-
stifiziert. Jetzt, in meinen spätern und reifern Tagen,
wo das religiöse Gefühl wieder überwältigend in mir
aufwogt und der gescheiterte Metaphysiker sich an die
Bibel festklammert: jetzt würdige ich den Protestan-
tismus ganz absonderlich ob der Verdienste, die er
sich durch die Auffindung und Verbreitung des heili-
gen Buches erworben. Ich sage die Auffindung, denn
die Juden, die das selbe aus dem großen Brande des
zweiten Tempels gerettet und es im Exile gleichsam
wie ein portatives Vaterland mit sich
herumschleppten, das ganze Mittelalter hindurch, sie
hielten diesen Schatz sorgsam verborgen in ihrem
Ghetto, wo die deutschen Gelehrten, Vorgänger und
Beginner der Reformation, hinschlichen, um Hebrä-
isch zu lernen, um den Schlüssel zu der Truhe zu ge-
winnen, welche den Schatz barg. Ein solcher Gelehr-
ter war der fürtreffliche Reuchlinus, und die Feinde
desselben, die Hoogstraeten u. Komp. in Köln, die
man als blödsinnige Dunkelmänner darstellte, waren
keineswegs so ganz dumme Tröpfe, sondern sie waren
fernsichtige Inquisitoren, welche das Unheil, das die
Bekanntschaft mit der Heiligen Schrift für die Kirche
herbeiführen würde, wohl voraussahen: daher ihr Ver-
folgungseifer gegen alle hebräische Schriften, die sie
ohne Ausnahme zu verbrennen rieten, während sie die
Dolmetscher dieser heiligen Schriften, die Juden,
durch den verhetzten Pöbel auszurotten suchten. Jetzt,
wo die Motive jener Vorgänge aufgedeckt liegen,
sieht man, wie jeder im Grunde recht hatte. Die Köl-
ner Dunkelmänner glaubten das Seelenheil der Welt
bedroht, und alle Mittel, sowohl Lüge als Mord,
dünkten ihnen erlaubt, zumal in betreff der Juden.
Das arme niedere Volk, die Kinder des Erbelends,
haßte die Juden schon wegen ihrer aufgehäuften
Schätze, und was heutzutage der Haß der Proletarier
gegen die Reichen überhaupt genannt wird, hieß ehe-
mals Haß gegen die Juden. In der Tat, da diese
letztern, ausgeschlossen von jedem Grundbesitz und
jedem Erwerb durch Handwerk, nur auf den Handel
und die Geldgeschäfte angewiesen waren, welche die
Kirche für Rechtgläubige verpönte, so waren sie, die
Juden, gesetzlich dazu verdammt, reich, gehaßt und
ermordet zu werden. Solche Ermordungen freilich tru-
gen in jenen Zeiten noch einen religiösen Deckmantel,
und es hieß, man müsse diejenigen töten, die einst un-
sern Herrgott getötet. Sonderbar! ebendas Volk, das
der Welt einen Gott gegeben und dessen ganzes
Leben nur Gottesandacht atmete, ward als Deizide
verschrien! Die blutige Parodie eines solchen Wahn-
sinns sahen wir beim Ausbruch der Revolution von
Sankt Domingo, wo ein Negerhaufen, der die Pflan-
zungen mit Mord und Brand heimsuchte, einen
schwarzen Fanatiker an seiner Spitze hatte, der ein
ungeheures Kruzifix trug und blutdürstig schrie: »Die
Weißen haben Christum getötet, laßt uns alle Weißen
totschlagen!«
Ja, den Juden, denen die Welt ihren Gott verdankt,
verdankt sie auch dessen Wort, die Bibel; sie haben
sie gerettet aus dem Bankerott des römischen Reichs,
und in der tollen Raufzeit der Völkerwanderung be-
wahrten sie das teure Buch, bis es der Protestantismus
bei ihnen aufsuchte und das gefundene Buch in die
Landessprachen übersetzte und in alle Welt verbreite-
te. Diese Verbreitung hat die segensreichsten Früchte
hervorgebracht und dauert noch bis auf heutigen Tag,
wo die Propaganda der Bibelgesellschaft eine provi-
dentielle Sendung erfüllt, die bedeutsamer ist und je-
denfalls ganz andere Folgen haben wird, als die from-
men Gentlemen dieser britischen Christentums-Spedi-
tions-Sozietät selber ahnen. Sie glauben eine kleine
enge Dogmatik zur Herrschaft zu bringen und wie das
Meer auch den Himmel zu monopolisieren, denselben
zur britischen Kirchendomäne zu machen: und siehe!
sie fördern, ohne es zu wissen, den Untergang aller
protestantischen Sekten, die alle in der Bibel ihr
Leben haben und in einem allgemeinen Bibeltume
aufgehen. Sie fördern die große Demokratie, wo jeder
Mensch nicht bloß König, sondern auch Bischof in
seiner Hausburg sein soll; indem sie die Bibel über
die ganze Erde verbreiten, sie sozusagen der ganzen
Menschheit durch merkantilische Kniffe, Schmuggel
und Tausch, in die Hände spielen und der Exegese,
der individuellen Vernunft überliefern, stiften sie das
große Reich des Geistes, das Reich des religiösen Ge-
fühls, der Nächstenliebe, der Reinheit und der wahren
Sittlichkeit, die nicht durch dogmatische Begriffsfor-
meln gelehrt werden kann, sondern durch Bild und
Beispiel, wie dergleichen enthalten ist in dem schönen
heiligen Erziehungsbuche für kleine und große Kin-
der, in der Bibel.
Es ist für den beschaulichen Denker ein
wunderbares Schauspiel, wenn er die Länder betrach-
tet, wo die Bibel schon seit der Reformation ihren bil-
denden Einfluß ausgeübt auf die Bewohner und ihnen
in Sitte, Denkungsart und Gemütlichkeit jenen Stem-
pel des palästinischen Lebens aufgeprägt hat, das in
dem Alten wie in dem Neuen Testamente sich bekun-
det. Im Norden von Europa und Amerika, namentlich
in den skandinavischen und anglosächsischen, über-
haupt in germanischen und einigermaßen auch in kel-
tischen Landen, hat sich das Palästinatum so geltend
gemacht, daß man sich dort unter Juden versetzt zu
sehen glaubt. Zum Beispiel die protestantischen
Schotten, sind sie nicht Hebräer, deren Namen überall
biblisch, deren cant sogar etwas jerusalemitisch-pha-
risäisch klingt und deren Religion nur ein Judentum
ist, welches Schweinefleisch frißt? So ist es auch mit
manchen Provinzen Norddeutschlands und mit Däne-
mark; ich will gar nicht reden von den meisten neuen
Gemeinden der Vereinigten Staaten, wo man das alt-
testamentarische Leben pedantisch nachäfft. Letzteres
erscheint hier wie daguerreotypiert, die Konturen sind
ängstlich richtig, doch alles ist grau in grau, und es
fehlt der sonnige Farbenschmelz des Gelobten Lan-
des. Aber die Karikatur wird einst schwinden, das
Echte, Unvergängliche und Wahre, nämlich die Sitt-
lichkeit des alten Judentums, wird in jenen Ländern
ebenso gotterfreulich blühen wie einst am Jordan und
auf den Höhen des Libanons. Man hat keine Palme
und Kamele nötig, um gut zu sein, und Gutsein ist
besser denn Schönheit.
Vielleicht liegt es nicht bloß in der Bildungsfähig-
keit der erwähnten Völker, daß sie das jüdische Leben
in Sitte und Denkweise so leicht in sich aufgenom-
men. Der Grund dieses Phänomens ist vielleicht auch
in dem Charakter des jüdischen Volks zu suchen, das
immer sehr große Wahlverwandtschaft mit dem Cha-
rakter der germanischen und einigermaßen auch der
keltischen Rasse hatte. Judäa erschien mir immer wie
ein Stück Okzident, das sich mitten in den Orient ver-
loren. In der Tat, mit seinem spiritualistischen Glau-
ben, seinen strengen, keuschen, sogar asketischen Sit-
ten, kurz, mit seiner abstrakten Innerlichkeit, bildete
dieses Land und sein Volk immer den sonderbarsten
Gegensatz zu den Nachbarländern und Nachbarvöl-
kern, die, den üppig buntesten und brünstigsten Na-
turkulten huldigend, im bacchantischen Sinnenjubel
ihr Dasein verluderten. Israel saß fromm unter seinem
Feigenbaum und sang das Lob des unsichtbaren Got-
tes und übte Tugend und Gerechtigkeit, während in
den Tempeln von Babel, Ninive, Sidon und Tyrus
jene blutigen und unzüchtigen Orgien gefeiert wur-
den, ob deren Beschreibung uns noch jetzt das Haar
sich sträubt! Bedenkt man diese Umgebung, so kann
man die frühe Größe Israels nicht genug bewundern.
Von der Freiheitsliebe Israels, während nicht bloß in
seiner Umgebung, sondern bei allen Völkern des Al-
tertums, sogar bei den philosophischen Griechen, die
Sklaverei justifiziert war und in Blüte stand, will ich
gar nicht reden, um die Bibel nicht zu kompromittie-
ren bei den jetzigen Gewalthabern. Es gibt wahrhaftig
keinen Sozialisten, der terroristischer wäre als unser
Herr und Heiland, und bereits Moses war ein solcher
Sozialist, obgleich er, als ein praktischer Mann, be-
stehende Gebräuche, namentlich in bezug auf das Ei-
gentum, nur umzumodeln suchte. Ja, statt mit dem
Unmöglichen zu ringen, statt die Abschaffung des Ei-
gentums tollköpfig zu dekretieren, erstrebte Moses
nur die Moralisation desselben, er suchte das Eigen-
tum in Einklang zu bringen mit der Sittlichkeit, mit
dem wahren Vernunftrecht, und solches bewirkte er
durch die Einführung des Jubeljahrs, wo jedes alie-
nierte Erbgut, welches bei einem ackerbauenden
Volke immer Grundbesitz war, an den ursprünglichen
Eigentümer zurückfiel, gleichviel, in welcher Weise
dasselbe veräußert worden. Diese Institution bildet
den entschiedensten Gegensatz zu der »Verjährung«
bei den Römern, wo nach Ablauf einer gewissen Zeit
der faktische Besitzer eines Gutes von dem legitimen
Eigentümer nicht mehr zur Rückgabe gezwungen
werden kann, wenn letzterer nicht zu beweisen ver-
mag, während jener Zeit eine solche Restitution in
gehöriger Form begehrt zu haben. Diese letzte Be-
dingnis ließ der Schikane offnes Feld, zumal in einem
Staate, wo Despotismus und Jurisprudenz blühte und
dem ungerechten Besitzer alle Mittel der Ab-
schreckung, besonders dem Armen gegenüber, der die
Streitkosten nicht erschwingen kann, zu Gebote stehn.
Der Römer war zugleich Soldat und Advokat, und das
Fremdgut, das er mit dem Schwerte erbeutet, wußte er
durch Zungendrescherei zu verteidigen. Nur ein Volk
von Räubern und Kasuisten konnte die Proskription,
die Verjährung, erfinden und dieselbe konsakrieren in
jenem abscheulichsten Buche, welches die Bibel des
Teufels genannt werden kann, im Kodex des römi-
schen Zivilrechts, der leider noch jetzt herrschend ist.
Ich habe oben von der Verwandtschaft gesprochen,
welche zwischen Juden und Germanen, die ich einst
»die beiden Völker der Sittlichkeit« nannte, stattfin-
det, und in dieser Beziehung erwähne ich auch als
einen merkwürdigen Zug den ethischen Unwillen,
womit das alte deutsche Recht die Verjährung stigma-
tisiert; in dem Munde des niedersächsischen Bauers
lebt noch heute das rührend schöne Wort: »Hundert
Jahr Unrecht machen nicht ein Jahr Recht.« Die mo-
saische Gesetzgebung protestiert noch entschiedener
durch die Institution des Jubeljahrs. Moses wollte
nicht das Eigentum abschaffen, er wollte vielmehr,
daß jeder dessen besäße, damit niemand durch Armut
ein Knecht mit knechtischer Gesinnung sei. Freiheit
war immer des großen Emanzipators letzter Gedanke,
und dieser atmet und flammt in allen seinen Gesetzen,
die den Pauperismus betreffen. Die Sklaverei selbst
haßte er über alle Maßen, schier ingrimmig, aber auch
diese Unmenschlichkeit konnte er nicht ganz vernich-
ten, sie wurzelte noch zu sehr im Leben jener Urzeit,
und er mußte sich darauf beschränken, das Schicksal
der Sklaven gesetzlich zu mildern, den Loskauf zu er-
leichtern und die Dienstzeit zu beschränken. Wollte
aber ein Sklave, den das Gesetz endlich befreite,
durchaus nicht das Haus des Herrn verlassen, so be-
fahl Moses, daß der unverbesserliche servile Lump
mit dem Ohr an den Türpfosten des herrschaftlichen
Hauses angenagelt würde, und nach dieser schimpfli-
chen Ausstellung war er verdammt, auf Lebenszeit zu
dienen. O Moses, unser Lehrer, Mosche Rabenu,
hoher Bekämpfer der Knechtschaft, reiche mir Ham-
mer und Nägel, damit ich unsre gemütlichen Sklaven
in schwarzrotgoldner Livree mit ihren langen Ohren
festnagle an das Brandenburger Tor!
Ich verlasse den Ozean allgemeiner religiös-mora-
lisch-historischer Betrachtungen und lenke mein Ge-
dankenschiff wieder bescheiden in das stille Binnen-
landgewässer, wo der Autor so treu sein eignes Bild
abspiegelt.
Ich habe oben erwähnt, wie protestantische
Stimmen aus der Heimat, in sehr indiskret gestellten
Fragen, die Vermutung ausdrückten, als ob bei dem
Wiedererwachen meines religiösen Gefühls auch der
Sinn für das Kirchliche in mir stärker geworden. Ich
weiß nicht, inwieweit ich merken ließ, daß ich weder
für ein Dogma noch für irgendeinen Kultus außeror-
dentlich schwärme und ich in dieser Beziehung der-
selbe geblieben bin, der ich immer war. Ich mache
dieses Geständnis jetzt auch, um einigen Freunden,
die mit großem Eifer der römisch-katholischen Kirche
zugetan sind, einen Irrtum zu benehmen, in den sie
ebenfalls in bezug auf meine jetzige Denkungsart ver-
fallen sind. Sonderbar! zur selben Zeit, wo mir in
Deutschland der Protestantismus die unverdiente Ehre
erzeigte, mir eine evangelische Erleuchtung zuzu-
trauen, verbreitete sich auch das Gerücht, als sei ich
zum katholischen Glauben übergetreten, ja manche
gute Seelen versicherten, ein solcher Übertritt habe
schon vor vielen Jahren stattgefunden, und sie unter-
stützten ihre Behauptung mit der Angabe der be-
stimmtesten Details, sie nannten Zeit und Ort, sie
gaben Tag und Datum an, sie bezeichneten mit
Namen die Kirche, wo ich die Ketzerei des Protestan-
tismus abgeschworen und den alleinseligmachenden
römisch-katholisch-apostolischen Glauben angenom-
men haben sollte; es fehlte nur die Angabe, wieviel
Glockengeläute und Schellengeklingel der Mesner bei
dieser Feierlichkeit spendierte.
Wie sehr solches Gerücht Konsistenz gewonnen,
ersehe ich aus Blättern und Briefen, die mir zukom-
men, und ich gerate fast in eine wehmütige Verlegen-
heit, wenn ich die wahrhafte Liebesfreude sehe, die
sich in manchen Zuschriften so rührend ausspricht.
Reisende erzählen mir, daß meine Seelenrettung sogar
der Kanzelberedsamkeit Stoff geliefert. Junge katholi-
sche Geistliche wollen ihre homiletischen Erstlings-
schriften meinem Patronate anvertrauen. Man sieht in
mir ein künftiges Kirchenlicht. Ich kann nicht darüber
lachen, denn der fromme Wahn ist so ehrlich ge-
meint - und was man auch den Zeloten des Katholi-
zismus nachsagen mag, eins ist gewiß: sie sind keine
Egoisten, sie bekümmern sich um ihre Nebenmen-
schen; leider oft ein bißchen zuviel. Jene falschen Ge-
rüchte kann ich nicht der Böswilligkeit, sondern nur
dem Irrtum zuschreiben; die unschuldigsten Tatsa-
chen hat hier gewiß nur der Zufall entstellt. Es hat
nämlich ganz seine Richtigkeit mit jener Angabe von
Zeit und Ort, ich war in der Tat an dem genannten
Tage in der genannten Kirche, die sogar einst eine
Jesuitenkirche gewesen, nämlich in Saint-Sulpice, und
ich habe mich dort einem religiösen Akte unterzogen
- Aber dieser Akt war keine gehässige Abjuration,
sondern eine sehr unschuldige Konjugation; ich ließ
nämlich dort meine Ehe mit meiner Gattin, nach der
Ziviltrauung, auch kirchlich einsegnen, weil meine
Gattin, von erzkatholischer Familie, ohne solche Ze-
remonie sich nicht gottgefällig genug verheiratet ge-
glaubt hätte. Und ich wollte um keinen Preis bei die-
sem teuren Wesen in den Anschauungen der angebor-
nen Religion eine Beunruhigung oder Störnis verursa-
chen.
Es ist übrigens sehr gut, wenn die Frauen einer po-
sitiven Religion anhängen. Ob bei den Frauen evan-
gelischer Konfession mehr Treue zu finden, lasse ich
dahingestellt sein. Jedenfalls ist der Katholizismus
der Frauen für den Gemahl sehr heilsam. Wenn sie
einen Fehler begangen haben, behalten sie nicht lange
den Kummer darüber im Herzen, und sobald sie vom
Priester Absolution erhielten, sind sie wieder trällernd
aufgeheitert und verderben sie ihrem Manne nicht die
gute Laune oder Suppe durch kopfhängerisches Nach-
grübeln über eine Sünde, die sie sich verpflichtet hal-
ten, bis an ihr Lebensende durch grämliche Prüderie
und zänkische Übertugend abzubüßen. Auch noch in
andrer Beziehung ist die Beichte hier so nützlich: die
Sünderin behält ihr furchtbares Geheimnis nicht lange
lastend im Kopfe, und da doch die Weiber am Ende
alles ausplaudern müssen, ist es besser, sie gestehen
gewisse Dinge nur ihrem Beichtiger, als daß sie in die
Gefahr geraten, plötzlich in überwallender Zärtlich-
keit oder Schwatzsucht oder Gewissensbissigkeit dem
armen Gatten die fatalen Geständnisse zu machen!
Der Unglauben ist in der Ehe jedenfalls gefährlich,
und so freigeistig ich selbst gewesen, so durfte doch
in meinem Hause nie ein frivoles Wort gesprochen
werden. Wie ein ehrsamer Spießbürger lebte ich mit-
ten in Paris, und deshalb, als ich heiratete, wollte ich
auch kirchlich getraut werden, obgleich hierzulande
die gesetzlich eingeführte Zivilehe hinlänglich von der
Gesellschaft anerkannt ist. Meine liberalen Freunde
grollten mir deshalb und überschütteten mich mit
Vorwürfen, als hätte ich der Klerisei eine zu große
Konzession gemacht. Ihr Murrsinn über meine
Schwäche würde sich noch sehr gesteigert haben, hät-
ten sie gewußt, wieviel größere Konzessionen ich da-
mals der ihnen verhaßten Priesterschaft machte. Als
Protestant, der sich mit einer Katholikin verheiratete,
bedurfte ich, um von einem katholischen Priester
kirchlich getraut zu werden, eine besondere Dispens
des Erzbischofs, der diese aber in solchen Fällen nur
unter der Bedingung erteilt, daß der Gatte sich schrift-
lich verpflichtet, die Kinder, die er zeugen würde, in
der Religion ihrer Mutter erziehen zu lassen. Es wird
hierüber ein Revers ausgestellt, und wie sehr auch die
protestantische Welt über solchen Zwang schreit, so
will mich bedünken, als sei die katholische Priester-
schaft ganz in ihrem Rechte, denn wer ihre einsegnen-
de Garantie nachsucht, muß sich auch ihren
Bedingungen fügen. Ich fügte mich denselben ganz de
bonne foi, und ich wäre gewiß meiner Verpflichtung
redlich nachgekommen. Aber, unter uns gesagt, da ich
wohl wußte, daß Kinderzeugen nicht meine Speziali-
tät ist, so konnte ich besagten Revers mit desto leich-
term Gewissen unterzeichnen, und als ich die Feder
aus der Hand legte, kicherten in meinem Gedächtnis
die Worte der schönen Ninon de Lenclos: »Oh, le
beau billet qu'a Lechastre!«
Ich will meinen Bekenntnissen die Krone aufset-
zen, indem ich gestehe, daß ich damals, um die Dis-
pens des Erzbischofs zu erlangen, nicht bloß meine
Kinder, sondern sogar mich selbst der katholischen
Kirche verschrieben hätte - Aber der ogre de Rome,
der wie das Ungeheuer in den Kindermärchen sich die
künftige Geburt für seine Dienste ausbedingt, be-
gnügte sich mit den armen Kindern, die freilich nicht
geboren wurden, und so blieb ich ein Protestant, nach
wie vor, ein protestierender Protestant, und ich prote-
stiere gegen Gerüchte, die, ohne verunglimpfend zu
sein, dennoch zum Schaden meines guten Leumunds
ausgebeutet werden können.
Ja, ich, der ich immer selbst das aberwitzigste Ge-
rede, ohne mich viel darum zu bekümmern, über mich
hingehen ließ, ich habe mich zu obiger Berichtigung
verpflichtet geglaubt, um der Partei des edlen Atta
Troll, die noch immer in Deutschland herumtroddelt,
keinen Anlaß zu gewähren, in ihrer täppisch treulosen
Weise meinen Wankelmut zu bejammern und dabei
wieder auf ihre eigne, unwandelbare, in der dicksten
Bärenhaut eingenähte Charakterfestigkeit zu pochen.
Gegen den armen ogre de Rome, gegen die römische
Kirche, ist also diese Reklamation nicht gerichtet. Ich
habe längst aller Befehdung derselben entsagt, und
längst ruht in der Scheide das Schwert, das ich einst
zog im Dienste einer Idee und nicht einer Privatlei-
denschaft. Ja, ich war in diesem Kampf gleichsam ein
officier de fortune, der sich brav schlägt, aber nach
der Schlacht oder nach dem Scharmützel keinen Trop-
fen Groll im Herzen bewahrt, weder gegen die be-
kämpfte Sache noch gegen ihre Vertreter Von fanati-
scher Feindschaft gegen die römische Kirche kann bei
mir nicht die Rede sein, da es mir immer an jener
Borniertheit fehlt, die zu einer solchen Animosität
nötig ist. Ich kenne zu gut meine geistige Taille, um
nicht zu wissen, daß ich einem Kolosse, wie die Pe-
terskirche ist, mit meinem wütendsten Anrennen
wenig schaden dürfte; nur ein bescheidener Handlan-
ger konnte ich sein bei dem langsamen Abtragen sei-
ner Quadern, welches Geschäft freilich doch noch
viele Jahrhunderte dauern mag. Ich war zu sehr Ge-
schichtskundiger, als daß ich nicht die Riesenhaftig-
keit jenes Granitgebäudes erkannt hätte; - nennt es
immerhin die Bastille des Geistes, behauptet
immerhin, dieselbe werde jetzt nur noch von Invali-
den verteidigt; aber es ist darum nicht minder wahr,
daß auch diese Bastille nicht so leicht einzunehmen
wäre und noch mancher junge Anstürmer an seinen
Wällen den Hals brechen wird. Als Denker, als Meta-
physiker, mußte ich immer der Konsequenz der rö-
misch-katholischen Dogmatik meine Bewunderung
zollen; auch darf ich mich rühmen, weder das Dogma
noch den Kultus je durch Witz oder Spötterei be-
kämpft zu haben, und man hat mir zugleich zuviel
Ehre und zuviel Unehre erzeigt, wenn man mich einen
Geistesverwandten Voltaires nannte. Ich war immer
ein Dichter, und deshalb mußte sich mir die Poesie,
welche in der Symbolik des katholischen Dogmas und
Kultus blüht und lodert, viel tiefer als andern Leuten
offenbaren, und nicht selten in meiner Jünglingszeit
überwältigte auch mich die unendliche Süße, die ge-
heimnisvoll selige Überschwenglichkeit und schauer-
liche Todeslust jener Poesie: auch ich schwärmte
manchmal für die hochgebenedeite Königin des Him-
mels, die Legenden ihrer Huld und Güte brachte ich
in zierliche Reime, und meine erste Gedichtesamm-
lung enthält Spuren dieser schönen Madonnaperiode,
die ich in spätern Sammlungen lächerlich sorgsam
ausmerzte.
Die Zeit der Eitelkeit ist vorüber, und ich erlaube
jedem, über diese Geständnisse zu lächeln.
Ich brauche wohl nicht erst zu gestehen, daß in
derselben Weise, wie kein blinder Haß gegen die rö-
mische Kirche in mir waltete, auch keine kleinliche
Ranküne gegen ihre Priester in meinem Gemüte ni-
sten konnte: wer meine satirische Begabnis und die
Bedürfnisse meines parodierenden Übermuts kennt,
wird mir gewiß das Zeugnis erteilen, daß ich die
menschlichen Schwächen der Klerisei immer schonte,
obgleich in meiner spätern Zeit die frommtuenden,
aber dennoch sehr bissigen Ratten, die in den Sakri-
steien Bayerns und Österreichs herumrascheln, das
verfaulte Pfaffengeschmeiß, mich oft genug zur Ge-
genwehr reizte. Aber ich bewahrte im zornigsten Ekel
dennoch immer eine Ehrfurcht vor dem wahren Prie-
sterstand, indem ich, in die Vergangenheit zurück-
blickend, der Verdienste gedachte, die er sich einst
um mich erwarb. Denn katholische Priester waren es,
denen ich als Kind meinen ersten Unterricht verdank-
te; sie leiteten meine ersten Geistesschritte. Auch in
der höhern Unterrichtsanstalt zu Düsseldorf, welche
unter der französischen Regierung das Lyzeum hieß,
waren die Lehrer fast lauter katholische Geistliche,
die sich alle mit ernster Güte meiner Geistesbildung
annahmen; seit der preußischen Invasion, wo auch
jene Schule den preußisch-griechischen Namen Gym-
nasium annahm, wurden die Priester allmählich durch
weltliche Lehrer ersetzt. Mit ihnen wurden auch ihre
Lehrbücher abgeschafft, die kurzgefaßten, in lateini-
scher Sprache geschriebenen Leitfaden und Chresto-
mathien, welche noch aus den Jesuitenschulen her-
stammten, und sie wurden ebenfalls ersetzt durch
neue Grammatiken und Kompendien, geschrieben in
einem schwindsüchtigen, pedantischen Berliner-
deutsch, in einem abstrakten Wissenschaftsjargon, der
den jungen Intelligenzen minder zugänglich war als
das leichtfaßliche, natürliche und gesunde Jesuitenla-
tein. Wie man auch über die Jesuiten denkt, so muß
man doch eingestehen, sie bewährten immer einen
praktischen Sinn im Unterricht, und ward auch bei
ihrer Methode die Kunde des Altertums sehr verstüm-
melt mitgeteilt, so haben sie doch diese Altertums-
kenntnis sehr verallgemeinert, sozusagen demokrati-
siert, sie ging in die Massen über, statt daß bei der
heutigen Methode der einzelne Gelehrte, der Geistesa-
ristokrat, das Altertum und die Alten besser begreifen
lernt, aber der großen Volksmenge sehr selten ein
klassischer Brocken, irgendein Stück Herodot oder
eine Äsopische Fabel oder ein Horazischer Vers, im
Hirntopfe zurückbleibt, wie ehemals, wo die armen
Leute an den alten Schulbrotkrusten ihrer Jugend spä-
ter noch lange zu knuspern hatten. »So ein bißchen
Latein ziert den ganzen Menschen«, sagte mir einst
ein alter Schuster, dem aus der Zeit, wo er mit dem
schwarzen Mäntelchen in das Jesuitenkollegium ging,
so mancher schöne Ciceronianische Passus aus den
Catilinarischen Reden im Gedächtnisse geblieben,
den er gegen heutige Demagogen so oft und so spaß-
haft glücklich zitierte. Pädagogik war die Spezialität
der Jesuiten, und obgleich sie dieselbe im Interesse
ihres Ordens treiben wollten, so nahm doch die Lei-
denschaft für die Pädagogik selbst, die einzige
menschliche Leidenschaft, die ihnen blieb, manchmal
die Oberhand, sie vergaßen ihren Zweck, die Unter-
drückung der Vernunft zugunsten des Glaubens, und
statt die Menschen wieder zu Kindern zu machen, wie
sie beabsichtigten, haben sie im Gegenteil, gegen
ihren Willen, durch den Unterricht die Kinder zu
Menschen gemacht. Die größten Männer der Revolu-
tion sind aus den Jesuitenschulen hervorgegangen,
und ohne die Disziplin dieser letztern wäre vielleicht
die große Geisterbewegung erst ein Jahrhundert später
ausgebrochen.
Arme Väter von der Gesellschaft Jesu! Ihr seid der
Popanz und der Sündenbock der liberalen Partei ge-
worden, man hat jedoch nur eure Gefährlichkeit, aber
nicht eure Verdienste begriffen. Was mich betrifft, so
konnte ich nie einstimmen in das Zetergeschrei meiner
Genossen, die bei dem Namen Loyola immer in Wut
gerieten, wie Ochsen, denen man einen roten Lappen
vorhält! Und dann, ohne im geringsten die Hut meiner
Parteiinteressen zu verabsäumen, mußte ich mir in der
Besonnenheit meines Gemütes zuweilen gestehen, wie
es oft von den kleinsten Zufälligkeiten abhing, daß
wir dieser statt jener Partei zufielen und uns jetzt
nicht in einem ganz entgegengesetzten Feldlager be-
fänden. In dieser Beziehung kommt mir oft ein Ge-
spräch in den Sinn, das ich mit meiner Mutter führte,
vor etwa acht Jahren, wo ich die hochbetagte Frau,
die schon damals achtzigjährig, in Hamburg besuchte.
Eine sonderbare Äußerung entschlüpfte ihr, als wir
von den Schulen, worin ich meine Knabenzeit zu-
brachte, und von meinen katholischen Lehrern spra-
chen, worunter sich, wie ich jetzt erfuhr, manche ehe-
malige Mitglieder des Jesuitenordens befanden. Wir
sprachen viel von unserm alten lieben Schallmeyer,
dem in der französischen Periode die Leitung des
Düsseldorfer Lyzeums als Rektor anvertraut war und
der auch für die oberste Klasse Vorlesungen über Phi-
losophie hielt, worin er unumwunden die freigeistig-
sten griechischen Systeme auseinandersetzte, wie grell
diese auch gegen die orthodoxen Dogmen abstachen,
als deren Priester er selbst zuweilen in geistlicher
Amtstracht am Altar fungierte. Es ist gewiß bedeut-
sam, und vielleicht einst vor den Assisen im Tale Jo-
saphat kann es mir als circonstance atténuante ange-
rechnet werden, daß ich schon im Knabenalter den be-
sagten philosophischen Vorlesungen beiwohnen durf-
te. Diese bedenkliche Begünstigung genoß ich
vorzugsweise, weil der Rektor Schallmeyer sich als
Freund unsrer Familie ganz besonders für mich inter-
essierte; einer meiner Öhme, der mit ihm zu Bonn stu-
diert hatte, war dort sein akademischer Pylades gewe-
sen, und mein Großvater errettete ihn einst aus einer
tödlichen Krankheit. Der alte Herr besprach sich des-
halb sehr oft mit meiner Mutter über meine Erziehung
und künftige Laufbahn, und in solcher Unterredung
war es, wie mir meine Mutter später in Hamburg er-
zählte, daß er ihr den Rat erteilte, mich dem Dienst
der Kirche zu widmen und nach Rom zu schicken, um
in einem dortigen Seminar katholische Theologie zu
studieren; durch die einflußreichen Freunde, die der
Rektor Schallmeyer unter den Prälaten höchsten Ran-
ges zu Rom besaß, versicherte er, imstande zu sein,
mich zu einem bedeutenden Kirchenamte zu fördern.
Als mir dieses meine Mutter erzählte, bedauerte sie
sehr, daß sie dem Rate des geistreichen alten Herrn
nicht Folge geleistet, der mein Naturell frühzeitig
durchschaut hatte und wohl am richtigsten begriff,
welches geistige und physische Klima demselben am
angemessensten und heilsamsten gewesen sein möch-
te. Die alte Frau bereute jetzt sehr, einen so vernünfti-
gen Vorschlag abgelehnt zu haben; aber zu jener Zeit
träumte sie für mich sehr hochfliegende weltliche
Würden, und dann war sie eine Schülerin Rousseaus,
eine strenge Deistin, und es war ihr auch außerdem
nicht recht, ihren ältesten Sohn in jene Soutane zu
stecken, welche sie von deutschen Priestern mit so
plumpem Ungeschick tragen sah. Sie wußte nicht, wie
ganz anders ein römischer Abate dieselbe mit einem
graziösen Schick trägt und wie kokett er das schwarz-
seidne Mäntelchen achselt, das die fromme Uniform
der Galanterie und der Schöngeisterei ist im ewig
schönen Rom.
Oh, welch ein glücklicher Sterblicher ist ein römi-
scher Abate, der nicht bloß der Kirche Christi, son-
dern auch dem Apoll und den Musen dient. Er selbst
ist ihr Liebling, und die drei Göttinnen der Anmut
halten ihm das Tintenfaß, wenn er seine Sonette ver-
fertigt, die er in der Akademie der Arkadier mit zierli-
chen Kadenzen rezitiert. Er ist ein Kunstkenner, und
er braucht nur den Hals einer jungen Sängerin zu be-
tasten, um voraussagen zu können, ob sie einst eine
celeberrima cantatrice, eine Diva, eine Weltprimadon-
na, sein wird. Er versteht sich auf Antiquitäten, und
über den ausgegrabenen Torso einer griechischen
Bacchantin schreibt er eine Abhandlung im schönsten
ciceronianischen Latein, die er dem Oberhaupte der
Christenheit, dem Pontifex maximus, wie er ihn
nennt, ehrfurchtsvoll widmet. Und gar welcher Ge-
mäldekenner ist der Signor Abate, der die Maler in
ihren Ateliers besucht und ihnen über ihre weiblichen
Modelle die feinsten anatomischen Beobachtungen
mitteilt. Der Schreiber dieser Blätter hätte ganz das
Zeug dazu gehabt, ein solcher Abate zu werden und
im süßesten Dolcefarniente dahinzuschlendern durch
die Bibliotheken, Galerien, Kirchen und Ruinen der
Ewigen Stadt, studierend im Genusse und genießend
im Studium, und ich hätte Messe gelesen vor den aus-
erlesensten Zuhörern, ich wäre auch in der heiligen
Woche als strenger Sittenprediger auf die Kanzel ge-
treten, freilich auch hier niemals in asketische Roheit
ausartend - ich hätte am meisten die römischen
Damen erbaut und wäre vielleicht durch solche Gunst
und Verdienste in der Hierarchie der Kirche zu den
höchsten Würden gelangt, ich wäre vielleicht ein
Monsignore geworden, ein Violettstrumpf, sogar der
rote Hut konnte mir auf den Kopf fallen - und wie
das Sprüchlein heißt:
Es ist kein Pfäfflein noch so klein,
Es möchte gern ein Päpstlein sein -,
so hätte ich am Ende vielleicht gar jenen erhabensten
Ehrenposten erklommen - denn obgleich ich von
Natur nicht ehrgeizig bin, so würde ich dennoch die
Ernennung zum Papste nicht ausgeschlagen haben,
wenn die Wahl des Konklaves auf mich gefallen
wäre. Es ist dieses jedenfalls ein sehr anständiges und
auch mit gutem Einkommen versehenes Amt, das ich
gewiß mit hinlänglichem Geschick versehen konnte.
Ich hätte mich ruhig niedergesetzt auf den Stuhl Petri,
allen frommen Christen, sowohl Priestern als Laien,
das Bein hinstreckend zum Fußkuß. Ich hätte mich
ebenfalls mit gehöriger Seelenruhe durch die Pfeiler-
gänge der großen Basilika in Triumph herumtragen
lassen, und nur im wackelndsten Falle würde ich mich
ein bißchen festgeklammert haben an der Armlehne
des goldnen Sessels, den sechs stämmige karmoisin-
rote Camerieren auf ihren Schultern tragen, während
nebenher glatzköpfige Kapuziner mit brennenden
Kerzen und galonierte Lakaien wandeln, welche unge-
heuer große Pfauenwedel emporhalten und das Haupt
des Kirchenfürsten befächeln - wie gar lieblich zu
schauen ist auf dem Prozessionsgemälde des Horaz
Vernet. Mit einem gleichen unerschütterlichen sazer-
dotalen Ernste - denn ich kann sehr ernst sein, wenn
es durchaus nötig ist - hätte ich auch vom Lateran
herab der ganzen Christenheit den jährlichen Segen
erteilt; in pontificalibus, mit der dreifachen Krone auf
dem Kopfe und umgeben von einem Generalstab von
Rothüten und Bischofsmützen, Goldbrokatgewändern
und Kutten von allen Couleuren, hätte sich Meine
Heiligkeit auf dem hohen Balkon dem Volke gezeigt,
das tief unten, in unabsehbar wimmelnder Menge, mit
gebeugten Köpfen und kniend hingelagert - und ich
hätte ruhig die Hände ausgestreckt und den Segen
erteilt, der Stadt und der Welt.
Aber, wie du wohl weißt, geneigter Leser, ich bin
kein Papst geworden, auch kein Kardinal, nicht mal
ein römischer Nuntius, und wie in der weltlichen, so
auch in der geistlichen Hierarchie habe ich weder Amt
noch Würden errungen. Ich habe es, wie die Leute
sagen, auf dieser schönen Erde zu nichts gebracht. Es
ist nichts aus mir geworden, nichts als ein Dichter.
Nein, ich will keiner heuchlerischen Demut mich
hingebend diesen Namen geringschätzen. Man ist
viel, wenn man ein Dichter ist, und gar wenn man ein
großer lyrischer Dichter ist in Deutschland, unter dem
Volke, das in zwei Dingen, in der Philosophie und im
Liede, alle andern Nationen überflügelt hat. Ich will
nicht mit der falschen Bescheidenheit, welche die
Lumpen erfunden, meinen Dichterruhm verleugnen.
Keiner meiner Landsleute hat in so frühem Alter wie
ich den Lorbeer errungen, und wenn mein Kollege
Wolfgang Goethe wohlgefällig davon singt, »daß der
Chinese mit zitternder Hand Werthern und Lotten auf
Glas male«, so kann ich, soll doch einmal geprahlt
werden, dem chinesischen Ruhm einen noch weit fa-
belhaftern, nämlich einen japanischen, entgegenset-
zen. Als ich mich vor etwa zwölf Jahren hier im Hôtel
des Princes bei meinem Freunde H. Wöhrmann aus
Riga befand, stellte mir derselbe einen Holländer vor,
der eben aus Japan gekommen, dreißig Jahre dort in
Nangasaki zugebracht und begierig wünschte, meine
Bekanntschaft zu machen. Es war der Dr. Bürger, der
jetzt in Leiden mit dem gelehrten Seybold das große
Werk über Japan herausgibt. Der Holländer erzählte
mir, daß er einen jungen Japanesen Deutsch gelehrt,
der später meine Gedichte in japanischer Übersetzung
drucken ließ, und dieses sei das erste europäische
Buch gewesen, das in japanischer Sprache erschie-
nen - übrigens fände ich über diese kuriose Übertra-
gung einen weitläufigen Artikel in der englischen
»Review« von Kalkutta. Ich schickte sogleich nach
mehreren cabinets de lecture, doch keine ihrer gelehr-
ten Vorsteherinnen konnte mir die »Review« von Kal-
kutta verschaffen, und auch an Julien und Paulthier
wandte ich mich vergebens -
Seitdem habe ich über meinen japanischen Ruhm
keine weitern Nachforschungen angestellt. In diesem
Augenblick ist er mir ebenso gleichgültig wie etwa
mein finnländischer Ruhm. Ach! der Ruhm über-
haupt, dieser sonst so süße Tand, süß wie Ananas und
Schmeichelei, er ward mir seit geraumer Zeit sehr ver-
leidet; er dünkt mich jetzt bitter wie Wermut. Ich
kann wie Romeo sagen: »Ich bin der Narr des
Glücks.« Ich stehe jetzt vor dem großen Breinapf,
aber es fehlt mir der Löffel. Was nützt es mir, daß bei
Festmahlen aus goldnen Pokalen und mit den besten
Weinen meine Gesundheit getrunken wird, wenn ich
selbst unterdessen, abgesondert von aller Weltlust,
nur mit einer schalen Tisane meine Lippen netzen
darf! Was nützt es mir, daß begeisterte Jünglinge und
Jungfrauen meine marmorne Büste mit Lorbeeren um-
kränzen, wenn derweilen meinem wirklichen Kopfe
von den welken Händen einer alten Wärterin eine spa-
nische Fliege hinter die Ohren gedrückt wird! Was
nützt es mir, daß alle Rosen von Schiras so zärtlich
für mich glühen und duften - ach, Schiras ist zweitau-
send Meilen entfernt von der Rue d'Amsterdam, wo
ich in der verdrießlichen Einsamkeit meiner Kranken-
stube nichts zu riechen bekomme als etwa die Par-
füms von gewärmten Servietten. Ach; der Spott Got-
tes lastet schwer auf mir. Der große Autor des Welt-
alls, der Aristophanes des Himmels, wollte dem klei-
nen irdischen, sogenannten deutschen Aristophanes
recht grell dartun, wie die witzigsten Sarkasmen des-
selben nur armselige Spöttereien gewesen im Ver-
gleich mit den seinigen und wie kläglich ich ihm
nachstehen muß im Humor, in der kolossalen Spaß-
macherei.
Ja, die Lauge der Verhöhnung, die der Meister über
mich herabgeußt, ist entsetzlich, und schauerlich
grausam ist sein Spaß. Demütig bekenne ich seine
Überlegenheit, und ich beuge mich vor ihm im Stau-
be. Aber wenn es mir auch an solcher höchsten
Schöpfungskraft fehlt, so blitzt doch in meinem
Geiste die ewige Vernunft, und ich darf sogar den
Spaß Gottes vor ihr Forum ziehen und einer ehr-
furchtsvollen Kritik unterwerfen. Und da wage ich
nun zunächst die untertänigste Andeutung auszuspre-
chen, es wolle mich bedünken, als zöge sich jener
grausame Spaß, womit der Meister den armen Schüler
heimsucht, etwas zu sehr in die Länge; er dauert
schort über sechs Jahre, was nachgerade langweilig
wird. Dann möchte ich ebenfalls mir die unmaßgebli-
che Bemerkung erlauben, daß jener Spaß nicht neu ist
und daß ihn der große Aristophanes des Himmels
schon bei einer andern Gelegenheit angebracht und
also ein Plagiat an hoch sich selber begangen habe.
Um diese Behauptung zu unterstützen, will ich eine
Stelle der »Limburger Chronik« zitieren. Diese Chro-
nik ist sehr interessant für diejenigen, welche sich
über Sitten und Bräuche des deutschen Mittelalters
unterrichten wollen. Sie beschreibt, wie ein Mode-
journal, die Kleidertrachten, sowohl die männlichen
als die weiblichen, welche in jeder Periode aufkamen.
Sie gibt auch Nachricht von den Liedern, die in jedem
Jahre gepfiffen und gesungen wurden, und von man-
chem Lieblingsliede der Zeit werden die Anfänge mit-
geteilt. So vermeldet sie von Anno 1480, daß man in
diesem Jahre in ganz Deutschland Lieder gepfiffen
und gesungen, die süßer und lieblicher als alle Wei-
sen, so man zuvor in deutschen Landen kannte, und
jung und alt, zumal das Frauenzimmer, sei ganz
davon vernarrt gewesen, so daß man sie von Morgen
bis Abend singen hörte; diese Lieder aber, setzt die
Chronik hinzu, habe ein junger Klerikus gedichtet,
der von der Misselsucht behaftet war und sich, vor
aller Welt verborgen, in einer Einöde aufhielt. Du
weißt gewiß, lieber Leser, was für ein schauderhaftes
Gebreste im Mittelalter die Misselsucht war und wie
die armen Leute, die solchem unheilbaren Siechtum
verfallen, aus jeder bürgerlichen Gesellschaft ausge-
stoßen waren und sich keinem menschlichen Wesen
nahen durften. Lebendig Tote wandelten sie einher,
vermummt vom Haupt bis zu den Füßen, die Kapuze
über das Gesicht gezogen und in der Hand eine Klap-
per tragend, die sogenannte Lazarusklapper, womit
sie ihre Nähe ankündigten, damit ihnen jeder zeitig
aus dem Wege gehen konnte. Der arme Klerikus, von
dessen Ruhm als Liederdichter die obgenannte »Lim-
burger Chronik« gesprochen, war nun ein solcher
Misselsüchtiger, und er saß traurig in der Öde seines
Elends, während jauchzend und jubelnd ganz
Deutschland seine Lieder sang und pfiff! Oh, dieser
Ruhm war die uns wohlbekannte Verhöhnung, der
grausame Spaß Gottes, der auch hier derselbe ist, ob-
gleich er diesmal im romantischern Kostüme des Mit-
telalters erscheint. Der blasierte König von Judäa
sagte mit Recht: »Es gibt nichts Neues unter der
Sonne« - Vielleicht ist diese Sonne selbst ein alter
aufgewärmter Spaß, der, mit neuen Strahlen geflickt,
jetzt so imposant funkelt!
Manchmal in meinen trüben Nachtgesichten glaube
ich den armen Klerikus der »Limburger Chronik«,
meinen Bruder in Apoll, vor mir zu sehen, und seine
leidenden Augen lugen sonderbar stier hervor aus sei-
ner Kapuze; aber im selben Augenblick huscht er von
dannen, und verhallend, wie das Echo eines Traumes,
hör ich die knarrenden Töne der Lazarusklapper. |
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