Deutschland. Ein Wintermärchen

Text by Heinrich Heine (1797-1856)

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Das nachstehende Gedicht schrieb ich im diesjähri-
gen Monat Januar zu Paris, und die freie Luft des 
Ortes wehete in manche Strophe weit schärfer hinein, 
als mir eigentlich lieb war. Ich unterließ nicht, schon 
gleich zu mildern und auszuscheiden, was mit dem 
deutschen Klima unverträglich schien. Nichtsdesto-
weniger, als ich das Manuskript im Monat März an 
meinen Verleger nach Hamburg schickte, wurden mir 
noch mannigfache Bedenklichkeiten in Erwägung ge-
stellt. Ich mußte mich dem fatalen Geschäfte des Um-
arbeitens nochmals unterziehen, und da mag es wohl 
geschehen sein, daß die ernsten Töne mehr als nötig 
abgedämpft oder von den Schellen des Humors gar zu
heiter überklingelt wurden. Einigen nackten Gedan-
ken habe ich im hastigen Unmut ihre Feigenblätter 
wieder abgerissen, und zimperlich spröde Ohren habe
ich vielleicht verletzt. Es ist mir leid, aber ich tröste 
mich mit dem Bewußtsein, daß größere Autoren sich 
ähnliche Vergehen zuschulden kommen ließen. Des 
Aristophanes will ich zu solcher Beschönigung gar 
nicht erwähnen, denn der war ein blinder Heide, und 
sein Publikum zu Athen hatte zwar eine klassische 
Erziehung genossen, wußte aber wenig von Sittlich-
keit. Auf Cervantes und Molière könnte ich mich 
schon viel besser berufen; und ersterer schrieb für den
hohen Adel beider Kastilien, letzterer für den großen 
König und den großen Hof von Versailles! Ach, ich 
vergesse, daß wir in einer sehr bürgerlichen Zeit 
leben, und ich sehe leider voraus, daß viele Töchter 
gebildeter Stände an der Spree, wo nicht gar an der 
Alster, über mein armes Gedicht die mehr oder min-
der gebogenen Näschen rümpfen werden! Was ich 
aber mit noch größerem Leidwesen voraussehe, das 
ist das Zeter jener Pharisäer der Nationalität, die jetzt 
mit den Antipathien der Regierungen Hand in Hand 
gehen, auch die volle Liebe und Hochachtung der 
Zensur genießen und in der Tages presse den Ton an-
geben können, wo es gilt, jene Gegner zu befehden, 
die auch zugleich die Gegner ihrer allerhöchsten Herr-
schaften sind. Wir sind im Herzen gewappnet gegen 
das Mißfallen dieser heldenmütigen Lakaien in 
schwarzrotgoldner Livree. Ich höre schon ihre Bier-
stimmen: »Du lästerst sogar unsere Farben, Verächter
des Vaterlands, Freund der Franzosen, denen du den 
freien Rhein abtreten willst!« Beruhigt euch. Ich 
werde eure Farben achten und ehren, wenn sie es ver-
dienen, wenn sie nicht mehr eine müßige oder knech-
tische Spielerei sind. Pflanzt die schwarzrotgoldne 
Fahne auf die Höhe des deutschen Gedankens, macht 
sie zur Standarte des freien Menschtums, und ich will 
mein bestes Herzblut für sie hingeben. Beruhigt euch,
ich liebe das Vaterland ebensosehr wie ihr. Wegen 
dieser Liebe habe ich dreizehn Lebensjahre im Exile 
verlebt, und wegen ebendieser Liebe kehre ich wieder 
zurück ins Exil, vielleicht für immer, jedenfalls ohne 
zu flennen oder eine schiefmäulige Duldergrimasse zu
schneiden. Ich bin der Freund der Franzosen, wie ich 
der Freund aller Menschen bin, wenn sie vernünftig 
und gut sind, und weil ich selber nicht so dumm oder 
so schlecht bin, als daß ich wünschen sollte, daß 
meine Deutschen und die Franzosen, die beiden auser-
wählten Völker der Humanität, sich die Hälse brächen
zum Besten von England und Rußland und zur Scha-
denfreude aller Junker und Pfaffen dieses Erdballs. 
Seid ruhig, ich werde den Rhein nimmermehr den 
Franzosen abtreten, schon aus dem ganz einfachen 
Grunde: weil mir der Rhein gehört. Ja, mir gehört er, 
durch unveräußerliches Geburtsrecht, ich bin des frei-
en Rheins noch weit freierer Sohn, an seinem Ufer 
stand meine Wiege, und ich sehe gar nicht ein, warum
der Rhein irgendeinem andern gehören soll als den 
Landeskindern. Elsaß und Lothringen kann ich frei-
lich dem deutschen Reiche nicht so leicht einverlei-
ben, wie ihr es tut, denn die Leute in jenen Landen 
hängen fest an Frankreich wegen der Rechte, die sie 
durch die französische Staatsumwälzung gewonnen, 
wegen jener Gleichheitsgesetze und freien Institutio-
nen, die dem bürgerlichen Gemüte sehr angenehm 
sind, aber dem Magen der großen Menge dennoch 
vieles zu wünschen übriglassen. Indessen, die Elsas-
ser und Lothringer werden sich wieder an Deutsch-
land anschließen, wenn wir das vollenden, was die 
Franzosen begonnen haben, wenn wir diese überflü-
geln in der Tat, wie wir es schon getan im Gedanken, 
wenn wir uns bis zu den letzten Folgerungen dessel-
ben emporschwingen, wenn wir die Dienstbarkeit bis 
in ihrem letzten Schlupfwinkel, dem Himmel, zerstö-
ren, wenn wir den Gott, der auf Erden im Menschen 
wohnt, aus seiner Erniedrigung retten, wenn wir die 
Erlöser Gottes werden, wenn wir das arme, 
glückenterbte Volk und den verhöhnten Genius und 
die geschändete Schönheit wieder in ihre Würde ein-
setzen, wie unsere großen Meister gesagt und gesun-
gen und wie wir es wollen, wir, die Jünger - ja, nicht 
bloß Elsaß und Lothringen, sondern ganz Frankreich 
wird uns alsdann zufallen, ganz Europa, die ganze 
Welt - die ganze Welt wird deutsch werden! Von die-
ser Sendung und Universalherrschaft Deutschlands 
träume ich oft, wenn ich unter Eichen wandle. Das ist 
mein Patriotismus.
Ich werde in einem nächsten Buche auf dieses 
Thema zurückkommen, mit letzter Entschlossenheit, 
mit strenger Rücksichtslosigkeit, jedenfalls mit Loya-
lität. Den entschiedensten Widerspruch werde ich zu 
achten wissen, wenn er aus einer Überzeugung 
hervorgeht. Selbst der rohesten Feindseligkeit will ich
alsdann geduldig verzeihen; ich will sogar der Dumm-
heit Rede stehen, wenn sie nur ehrlich gemeint ist. 
Meine ganze schweigende Verachtung widme ich hin-
gegen dem gesinnungslosen Wichte, der aus leidiger 
Scheelsucht oder unsauberer Privatgiftigkeit meinen 
guten Leumund in der öffentlichen Meinung herabzu-
würdigen sucht und dabei die Maske des Patriotis-
mus, wo nicht gar die der Religion und der Moral, be-
nutzt. Der anarchische Zustand der deutschen politi-
schen und literarischen Zeitungsblätterwelt ward in 
solcher Beziehung zuweilen mit einem Talente ausge-
beutet, das ich schier bewundern mußte. Wahrhaftig, 
Schufterle ist nicht tot, er lebt noch immer und steht 
seit Jahren an der Spitze einer wohlorganisierten 
Bande von literarischen Strauchdieben, die in den 
böhmischen Wäldern unserer Tagespresse ihr Wesen 
treiben, hinter jedem Busch, hinter jedem Blatt ver-
steckt liegen und dem leisesten Pfiff ihres würdigen 
Hauptmanns gehorchen.
Noch ein Wort. Das »Wintermärchen« bildet den 
Schluß der »Neuen Gedichte«, die in diesem Augen-
blick bei Hoffmann und Campe erscheinen. Um den 
Einzeldruck veranstalten zu können, mußte mein Ver-
leger das Gedicht den überwachenden Behörden zu 
besonderer Sorgfalt überliefern, und neue Varianten 
und Ausmerzungen sind das Ergebnis dieser höheren 
Kritik.

Hamburg, den 17. September 1844


 

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