Die romantische Schule

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Text by Heinrich Heine (1797-1856)

Ich wäre in Verzweiflung, wenn die wenigen An-
deutungen, die mir [s. Zweites Buch, zweiter Ab-
schnitt] in betreff des großen Eklektikers entschlüpft 
sind, ganz mißverstanden werden. Wahrlich, fern ist 
von mir die Absicht, Herren Victor Cousin zu verklei-
nern. Die Titel dieses berühmten Philosophen ver-
pflichten mich sogar zu Preis und Lob. Er gehört zu 
jenem lebenden Pantheon Frankreichs, welches wir 
die Pairie nennen, und seine geistreichen Gebeine 
ruhen auf den Sammetbänken des Luxembourgs. 
Dabei ist er ein liebendes Gemüt, und er liebt nicht 
die banalen Gegenstände, die jeder Franzose lieben 
kann, z.B. den Napoleon, er liebt nicht einmal den 
Voltaire, der schon minder leicht zu lieben ist... nein, 
des Herren Cousins Herz versucht das Schwerste: er 
liebt Preußen. Ich wäre ein Bösewicht, wenn ich einen
solchen Mann verkleinern wollte, ich wäre ein Unge-
heuer von Undankbarkeit... denn ich selber bin ein 
Preuße. Wer wird uns lieben, wenn das große Herz 
eines Victor Cousin nicht mehr schlägt?
Ich muß wahrlich alle Privatgefühle, die mich zu 
einem überlauten Enthusiasmus verleiten könnten, ge-
waltsam unterdrücken. Ich möchte nämlich auch nicht
des Servilismus verdächtig werden; denn Herr Cousin
ist sehr einflußreich im Staate durch seine Stellung 
und Zunge. Diese Rücksicht könnte mich sogar bewe-
gen, ebenso freimütig seine Fehler wie seine Tugen-
den zu besprechen. Wird er selber dieses mißbilligen?
Gewiß nicht! Ich weiß, daß man große Geister nicht 
schöner ehren kann, als indem man ihre Mängel eben-
so gewissenhaft wie ihre Tugenden beleuchtet. Wenn 
man einen Herkules besingt, muß man auch erwäh-
nen, daß er einmal die Löwenhaut abgelegt und am 
Spinnrocken gesessen; er bleibt ja darum doch immer 
ein Herkules! Wenn wir ebensolche Umstände von 
Herrn Cousin berichten, dürfen wir jedoch feinlobend 
hinzufügen: Herr Cousin, wenn er auch zuweilen 
schwatzend am Spinnrocken saß, so hat er doch nie 
die Löwen, haut abgelegt.
In Vergleichung mit dem Herkules fortfahrend, 
dürften wir auch noch eines anderen schmeichelhaften
Unterschieds erwähnen. Das Volk hat nämlich dem 
Sohne der Alkmene auch jene Werke zugeschrieben, 
die von verschiedenen seiner Zeitgenossen vollbracht 
worden; die Werke des Herren Cousin sind aber so 
kolossal, so erstaunlich, daß das Volk nie begriff, wie
ein einziger Mensch dergleichen vollbringen konnte, 
und es entstand die Sage, daß die Werke, die unter 
dem Namen dieses Herren erschienen sind, von meh-
reren seiner Zeitgenossen herrühren.
So wird es auch einst Napoleon gehen; schon jetzt 
können wir nicht begreifen, wie ein einziger Held so 
viele Wundertaten vollbringen konnte. Wie man dem 
großen Victor Cousin schon jetzt nachsagt, daß er 
fremde Talente zu exploitieren und ihre Arbeiten als 
die seinigen zu publizieren gewußt, so wird man einst
auch von dem armen Napoleon behaupten, daß nicht 
er selber, sondern Gott weiß wer, vielleicht gar Herr 
Sebastiani, die Schlachten von Marengo, Austerlitz 
und Jena gewonnen habe.
Große Männer wirken nicht bloß durch ihre Taten, 
sondern auch durch ihr persönliches Leben. In dieser 
Beziehung muß man Herren Cousin ganz unbedingt 
loben. Hier erscheint er in seiner tadellosesten Herr-
lichkeit. Er wirkte durch sein eignes Beispiel zur Zer-
störung eines Vorurteils, welches vielleicht bis jetzt 
die meisten seiner Landsleute davon abgehalten hat, 
sich dem Studium der Philosophie, der wichtigsten 
aller Bestrebungen, ganz hinzugeben. Hierzulande 
herrschte nämlich die Meinung, daß man durch das 
Studium der Philosophie für das praktische Leben un-
tauglich werde, daß man durch metaphysische Speku-
lationen den Sinn für industrielle Spekulationen ver-
liere und daß man, allem Ämterglanz entsagend, in 
naiver Armut und zurückgezogen von allen Intrigen 
leben müsse, wenn man ein großer Philosoph werden 
wolle. Diesen Wahn, der so viele Franzosen von dem 
Gebiete des Abstrakten fernhielt, hat nun Herr Cousin
glücklich zerstört, und durch sein eignes Beispiel hat 
er gezeigt, daß man ein unsterblicher Philosoph und 
zu gleicher Zeit ein lebenslänglicher Pair de France 
werden kann.
Freilich, einige Voltairianer erklären dieses Phäno-
men aus dem einfachen Umstande, daß von jenen 
zwei Eigenschaften des Herren Cousin nur die letztere
konstatiert sei. Gibt es eine lieblosere, unchristlichere 
Erklärung? Nur ein Voltairianer ist dergleichen Frivo-
lität fähig!
Welcher große Mann ist aber jemals der Persiflage 
seiner Zeitgenossen entgangen? Haben die Athener 
mit ihren attischen Epigrammen den großen Alexan-
der verschont? Haben die Römer nicht Spottlieder auf
Cäsar gesungen? Haben die Berliner nicht Pasquille 
gegen Friedrich den Großen gedichtet? Herren Cousin
trifft dasselbe Schicksal, welches schon Alexander, 
Cäsar und Friedrich getroffen und noch viele andere 
große Männer, mitten in Paris, treffen wird. Je größer 
der Mann, desto leichter trifft ihn der Pfeil des Spot-
tes, Zwerge sind schon schwerer zu treffen.
Die Masse aber, das Volk, liebt nicht den Spott. 
Das Volk, wie das Genie, wie die Liebe, wie der 
Wald, wie das Meer, ist von ernsthafter Natur, es ist 
abgeneigt jedem boshaften Salonwitz, und große Er-
scheinungen erklärt es in tiefsinnig mystischer Weise. 
Alle seine Auslegungen tragen einen poetischen, 
wunderbaren, legendenhaften Charakter. So z.B. Pa-
ganinis erstaunliches Violinspiel sucht das Volk da-
durch zu erklären, daß dieser Musiker aus Eifersucht 
seine Geliebte ermordet, deshalb lange Jahre im Ge-
fängnisse zugebracht, dort zur einzigen Erheiterung 
nur eine Violine besessen und, indem er sich Tag und 
Nacht darauf übte, endlich die höchste Meisterschaft 
auf diesem Instrumente erlangt habe. Die philosophi-
sche Virtuosität des Herren Cousin sucht das Volk in 
ähnlicher Weise zu erklären, und man erzählt, daß 
einst die deutschen Regierungen unseren großen Ek-
lektiker für einen Freiheitshelden angesehen und fest-
gesetzt haben, daß er im Gefängnisse kein anderes 
Buch außer Kants »Kritik der reinen Vernunft« zu 
lesen bekommen, daß er aus Langerweile beständig 
darin studiert und daß er dadurch jene Virtuosität in 
der deutschen Philosophie erlangte, die ihm späterhin,
in Paris, so viele Applaudissements erwarb, als er die 
schwierigsten Passagen derselben öffentlich vortrug.
Dieses ist eine sehr schöne Volkssage, märchen-
haft, abenteuerlich, wie die von Orpheus, von Bileam,
dem Sohne Boers, von Quaser dem Weisen, von Bud-
dha, und jedes Jahrhundert wird daran modeln, bis 
endlich der Name Cousin eine symbolische Bedeu-
tung gewinnt und die Mythologen in Herren Cousin 
nicht mehr ein wirkliches Individuum sehen, sondern 
nur die Personifikation des Märtyrers der Freiheit, 
der, im Kerker sitzend, Trost sucht in der Weisheit, in
der Kritik der reinen Vernunft; ein künftiger Ballan-
che sieht vielleicht in ihm eine Allegorie seiner Zeit 
selbst, eine Zeit, wo die Kritik und die reine Vernunft 
und die Weisheit gewöhnlich im Kerker saß.
Was nun wirklich diese Gefangenschaftsgeschichte 
des Herren Cousin betrifft, so ist sie keineswegs ganz 
allegorischen Ursprungs. Er hat, in der Tat, einige 
Zeit, der Demagogie verdächtig, in einem deutschen 
Gefängnisse zugebracht, ebensogut wie Lafayette und 
Richard Löwenherz. Daß aber Herr Cousin dort, in 
seinen Mußestunden, Kants »Kritik der reinen Ver-
nunft« studiert habe, ist, aus drei Gründen, zu be-
zweifeln. Erstens: Dieses Buch ist auf deutsch ge-
schrieben. Zweitens: Man muß Deutsch verstehen, um
dieses Buch lesen zu können. Und drittens: Herr Cou-
sin versteht kein Deutsch.
Ich will dieses beileibe nicht in tadelnder Absicht 
gesagt haben. Die Größe des Herren Cousin tritt um 
so greller ins Licht, wenn man sieht, daß er die deut-
sche Philosophie erlernt hat, ohne die Sprache zu ver-
stehen, worin sie gelehrt wird. Dieser Genius, wie 
überragt er dadurch uns gewöhnliche Menschen, die 
wir nur mit großer Mühe diese Philosophie verstehen,
obgleich wir mit der deutschen Sprache von Kind auf 
ganz vertraut sind! Das Wesen eines solchen Genius 
wird uns immer unerklärlich bleiben; das sind jene 
intuitive Naturen, denen Kant das spontaneische Be-
greifen der Dinge in ihrer Totalität zuschreibt, im Ge-
gensatz zu uns gewöhnlichen analytischen Naturen, 
die wir erst durch ein Nacheinander und durch Kom-
bination der Einzelteile die Dinge zu begreifen wis-
sen. Kant scheint schon geahnt zu haben, daß einst 
ein solcher Mann erscheinen werde, der sogar seine 
»Kritik der reinen Vernunft« durch bloße intuitive 
Anschauung verstehen wird, ohne diskursiv analytisch
Deutsch gelernt zu haben. Vielleicht aber sind die 
Franzosen überhaupt glücklicher organisiert wie wir 
Deutschen, und ich habe bemerkt, daß man ihnen von 
einer Doktrin, von einer gelehrten Untersuchung, von 
einer wissenschaftlichen Ansicht nur ein weniges zu 
sagen braucht, und dieses wenige wissen sie so vor-
trefflich in ihrem Geiste zu kombinieren und zu verar-
beiten, daß sie alsdann die Sache noch weit besser 
verstehen wie wir selber und uns über unser eignes 
Wissen belehren können. Es will mich manchmal be-
dünken, als seien die Köpfe der Franzosen, ebenso 
wie ihre Kaffeehäuser, inwendig mit lauter Spiegeln 
versehen, so daß jede Idee, die ihnen in den Kopf ge-
langt, sich dort unzähligemal reflektiert: eine optische
Einrichtung, wodurch sogar die engsten und dürftig-
sten Köpfe sehr weit und strahlend erscheinen. Diese 
brillanten Köpfe, ebenso wie die glänzenden Kaffee-
häuser, pflegen einen armen Deutschen, wenn er 
zuerst nach Paris kömmt, sehr zu blenden.
Ich fürchte, ich komme aus den süßen Gewässern 
des Lobes unversehens in das bittere Meer des Ta-
dels. Ja, ich kann nicht umhin, den Herren Cousin 
wegen eines Umstandes bitter zu tadeln: nämlich er, 
der die Wahrheit liebt noch mehr als den Plato und 
den Tennemann, er ist ungerecht gegen sich selber, er 
verleumdet sich selber, indem er uns einreden möchte,
er habe aus der Philosophie der Herren Schelling und 
Hegel allerlei entlehnt. Gegen diese Selbstanschuldi-
gung muß ich Herren Cousin in Schutz nehmen. Auf 
Wort und Gewissen! dieser ehrliche Mann hat aus der
Philosophie der Herren Schelling und Hegel nicht das
mindeste gestohlen, und wenn er als ein Andenken 
von diesen beiden etwas mit nach Hause gebracht hat,
so war es nur ihre Freundschaft. Das macht seinem 
Herzen Ehre. Aber von solchen fälschlichen Selbstan-
klagen gibt es viele Beispiele in der Psychologie. Ich 
kannte einen Mann, der von sich selber aussagte, er 
habe an der Tafel des Königs silberne Löffel gestoh-
len; und doch wußten wir alle, daß der arme Teufel 
nicht hoffähig war und sich dieses Löffeldiebstahls 
anklagte, um uns glauben zu machen, er sei im 
Schlosse zu Gaste gewesen.
Nein, Herr Cousin hat in der deutschen Philosophie
immer das sechste Gebot befolgt, hier hat er auch 
nicht eine einzige Idee, auch nicht ein 
Zuckerlöffelchen von Idee eingesteckt. Alle Zeugen-
aussagen stimmen darin überein, daß Herr Cousin in 
dieser Beziehung, ich sage in dieser Beziehung, die 
Ehrlichkeit selbst sei. Und es sind nicht bloß seine 
Freunde, sondern auch seine Gegner, die ihm dieses 
Zeugnis geben. Ein solches Zeugnis enthalten z.B. die
»Berliner Jahrbücher der wissenschaftlichen Kritik« 
von diesem Jahre, und da der Verfasser dieser Urkun-
de, der große Hinrichs, keineswegs ein Lobhudler und
seine Worte also desto unverdächtiger sind, so will 
ich sie später in ihrem ganzen Umfange mitteilen. Es 
gilt einen großen Mann von einer schweren Anklage 
zu befreien, und nur deshalb erwähne ich das Zeugnis 
der »Berliner Jahrbücher«, die freilich durch einen 
etwas spöttischen Ton, womit sie von Herren Cousin 
reden, mein eigenes Gemüt unangenehm berühren. 
Denn ich bin ein wahrhafter Verehrer des großen Ek-
lektikers, wie ich schon gezeigt in diesen Blättern, wo
ich ihn mit allen möglichen großen Männern, mit 
Herkules, Napoleon, Alexander, Cäsar, Friedrich, Or-
pheus, Bileam, dem Sohn Boers, Quaser dem Weisen,
Buddha, Lafayette, Richard Löwenherz und Paganini,
verglichen habe.
Ich bin vielleicht der erste, der diesen großen 
Namen auch den Namen Cousin beigesellt. »Du sub-
lime au ridicule il n'y a qu'un pas!« werden freilich 
seine Feinde sagen, seine frivolen Gegner, jene 
Voltairianer, denen nichts heilig ist, die keine Religi-
on haben und die nicht einmal an Herrn Cousin glau-
ben. Aber es wird nicht das erstemal sein, daß eine 
Nation erst durch einen Fremden ihre großen Männer 
schätzen lernt. Ich habe vielleicht das Verdienst um 
Frankreich, daß ich den Wert des Herren Cousin für 
die Gegenwart und seine Bedeutung für die Zukunft 
gewürdigt habe. Ich habe gezeigt, wie das Volk ihn 
schon bei Lebzeiten poetisch ausschmückt und Wun-
derdinge von ihm erzählt. Ich habe gezeigt, wie er 
sich allmählich ins Sagenhafte verliert und wie einst 
eine Zeit kommt, wo der Name Victor Cousin eine 
Mythe sein wird. »Jetzt ist er schon eine Fabel«, ki-
chern die Voltairianer.
O ihr Verlästerer des Thrones und des Altars, ihr 
Bösewichter, die ihr, wie Schiller singt, »das Glän-
zende zu schwärzen und das Erhabene in den Staub 
zu ziehen« pflegt, ich prophezeie euch, daß die Re-
nommee des Herren Cousin, wie die französische Re-
volution, die Reise um die Welt macht! - Ich höre 
wieder boshaft hinzusetzen: »In der Tat, die Renom-
mee des Herren Cousin macht eine Reise um die 
Welt, und von Frankreich ist sie bereits abgereist.«

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