I
Kennt ihr China, das Vaterland der geflügelten
Drachen und der porzellanenen Teekannen? Das
ganze Land ist ein Raritätenkabinett, umgeben von
einer unmenschlich langen Mauer und hunderttausend
tartarischen Schildwachen. Aber die Vögel und die
Gedanken der europäischen Gelehrten fliegen dar-
über, und wenn sie sich dort sattsam umgesehen und
wieder heimkehren, erzählen sie uns die köstlichsten
Dinge von dem kuriosen Land und kuriosen Volke.
Die Natur mit ihren grellen, verschnörkelten Erschei-
nungen, abenteuerlichen Riesenblumen, Zwergbäu-
men, verschnitzelten Bergen, barock wollüstigen
Früchten, aberwitzig geputzten Vögeln ist dort eine
ebenso fabelhafte Karikatur wie der Mensch mit sei-
nem spitzigen Zopfkopf, seinen Bücklingen, langen
Nägeln, altklugem Wesen und kindisch einsilbiger
Sprache. Mensch und Natur können dort einander
nicht ohne innere Lachlust ansehen. Sie lachen aber
nicht laut, weil sie beide viel zu zivilisiert höflich
sind; und um das Lachen zu unterdrücken, schneiden
sie die ernsthaft possierlichsten Gesichter. Es gibt
dort weder Schatten noch Perspektive. Auf den
buntscheckigen Häusern heben sich, übereinanderge-
stapelt, eine Menge Dächer, die wie aufgespannte Re-
genschirme aussehen und woran lauter metallne
Glöckchen hängen, so daß sogar der Wind, wenn er
vorbeistreift, durch ein närrisches Geklingel sich lä-
cherlich machen muß.
In einem solchen Glockenhause wohnte einst eine
Prinzessin, deren Füßchen noch kleiner waren als die
der übrigen Chinesinnen, deren kleine, schrägge-
schlitzte Äuglein noch süßträumerischer zwinkten als
die der übrigen Damen des himmlischen Reiches und
in deren kleinem kichernden Herzen die allertollsten
Launen nisteten. Es war nämlich ihre höchste Wonne,
wenn sie kostbare Seiden- und Goldstoffe zerreißen
konnte. Wenn das recht knisterte und krachte unter
ihren zerreißenden Fingern, dann jauchzte sie vor Ent-
zücken. Als sie aber endlich ihr ganzes Vermögen an
solcher Liebhaberei verschwendet, als sie all ihr Hab
und Gut zerrissen hatte, ward sie, auf Anraten sämtli-
cher Mandarine, als eine unheilbare Wahnsinnige, in
einen runden Turm eingesperrt.
Diese chinesische Prinzessin, die personifizierte
Kaprice, ist zugleich die personifizierte Muse eines
deutschen Dichters, der in einer Geschichte der ro-
mantischen Poesie nicht unerwähnt bleiben darf. Es
ist die Muse, die uns aus den Poesien des Herren Cle-
mens Brentano so wahnsinnig entgegenlacht. Da
zerreißt sie die glattesten Atlasschleppen und die
glänzendsten Goldtressen, und ihre zerstörungssüchti-
ge Liebenswürdigkeit und ihre jauchzend blühende
Tollheit erfüllt unsere Seele mit unheimlichem Ent-
zücken und lüsterner Angst. Seit funfzehn Jahr lebt
aber Herr Brentano entfernt von der Welt, einge-
schlossen, ja eingemauert in seinem Katholizismus.
Es gab nichts Kostbares mehr zu zerreißen. Er hat,
wie man sagt, die Herzen zerrissen, die ihn liebten,
und jeder seiner Freunde klagt über mutwillige Ver-
letzung. Gegen sich selbst und sein poetisches Talent
hat er am meisten seine Zerstörungssucht geübt. Ich
mache besonders aufmerksam auf ein Lustspiel dieses
Dichters, betitelt »Ponce de Leon«. Es gibt nichts
Zerrisseneres als dieses Stück, sowohl in Hinsicht der
Gedanken als auch der Sprache. Aber alle diese Fet-
zen leben und kreiseln in bunter Lust. Man glaubt
einen Maskenball von Worten und Gedanken zu
sehen. Das tummelt sich alles in süßester Verwirrung,
und nur der gemeinsame Wahnsinn bringt eine gewis-
se Einheit hervor. Wie Harlekine rennen die verrück-
testen Wortspiele durch das ganze Stück und schlagen
überallhin mit ihrer glatten Pritsche. Eine ernsthafte
Redensart tritt manchmal auf, stottert aber wie der
Dottore von Bologna. Da schlendert eine Phrase wie
ein weißer Pierrot mit zu weiten, schleppenden Är-
meln und allzu großen Westenknöpfen. Da springen
bucklichte Witze mit kurzen Beinchen, wie Polici-
nelle. Liebesworte wie neckende Kolombinen flattern
umher, mit Wehmut im Herzen. Und das tanzt und
hüpft und wirbelt und schnarrt, und drüberhin er-
schallen die Trompeten der bacchantischen Zerstö-
rungslust.
Eine große Tragödie desselben Dichters, »Die
Gründung Prags«, ist ebenfalls sehr merkwürdig. Es
sind Szenen darin, wo man von den geheimnisvollsten
Schauern der uralten Sagen angeweht wird. Da rau-
schen die dunkel böhmischen Wälder, da wandeln
noch die zornigen Slawengötter, da schmettern noch
die heidnischen Nachtigallen; aber die Wipfel der
Bäume bestrahlt schon das sanfte Morgenrot des
Christentums. Auch einige gute Erzählungen hat Herr
Brentano geschrieben, namentlich »Die Geschichte
vom braven Kasperl und dem schönen Nannerl«. Als
das schöne Nannerl noch ein Kind war und mit ihrer
Großmutter in die Scharfrichterei ging, um dort, wie
das gemeine Volk in Deutschland zu tun pflegt, einige
heilsame Arzneien zu kaufen, da bewegte sich plötz-
lich etwas in dem großen Schranke, vor welchem des
schöne Nannerl eben stand, und das Kind rief mit
Entsetzen: »Eine Maus! eine Maus!« Aber der Scharf-
richter erschrak noch weit mehr und wurde ernsthaft
wie der Tod und sagte zu der Großmutter: »Liebe
Frau, in diesem Schranke hängt mein Richtschwert,
und das bewegt sich jedesmal von selbst, wenn ihm
jemand nahet, der einst damit geköpft werden soll.
Mein Schwert lechzt nach dem Blute dieses Kindes.
Erlaubt mir, daß ich die Kleine nur ein wenig damit
am Hälschen ritze. Das Schwert ist dann zufriedenge-
stellt mit einem Tröpfchen Blut und trägt kein fürde-
res Verlangen.« Die Großmutter gab jedoch diesem
vernünftigen Rate kein Gehör und mochte es später-
hin genugsam bereuen, als das schöne Nannerl wirk-
lich geköpft wurde mit demselben Schwerte.
Herr Clemens Brentano mag wohl jetzt fünfzig
Jahr alt sein, und er lebt zu Frankfurt, einsiedlerisch
zurückgezogen, als ein korrespondierendes Mitglied
der katholischen Propaganda. Sein Name ist in der
letzten Zeit fast verschollen, und nur wenn die Rede
von den Volksliedern, die er mit seinem verstorbenen
Freunde Achim von Arnim herausgegeben, wird er
noch zuweilen genannt. Er hat nämlich, in Gemein-
schaft mit letzterm, unter dem Titel »Des Knaben
Wunderhorn« eine Sammlung Lieder herausgegeben,
die sie teils noch im Munde des Volkes, teils auch in
fliegenden Blättern und seltenen Druckschriften ge-
funden haben. Dieses Buch kann ich nicht genug rüh-
men; es enthält die holdseligsten Blüten des deut-
schen Geistes, und wer das deutsche Volk von einer
liebenswürdigen Seite kennenlernen will, der lese
diese Volkslieder. In diesem Augenblick liegt dieses
Buch vor mir, und es ist mir, als röche ich den Duft
der deutschen Linden. Die Linde spielt nämlich eine
Hauptrolle in diesen Liedern, in ihrem Schatten kosen
des Abends die Liebenden, sie ist ihr Lieblingsbaum,
und vielleicht aus dem Grunde, weil das Lindenblatt
die Form eines Menschenherzens zeigt. Diese Bemer-
kung machte einst ein deutscher Dichter, der mir am
liebsten ist, nämlich ich. Auf dem Titelblatte jenes
Buches ist ein Knabe, der das Horn bläst; und wenn
ein Deutscher in der Fremde dieses Bild lange be-
trachtet, glaubt er die wohlbekanntesten Töne zu ver-
nehmen, und es könnte ihn wohl dabei das Heimweh
beschleichen, wie den Schweizer Landsknecht, der auf
der Straßburger Bastei Schildwache stand, fern den
Kuhreigen hörte, die Pike von sich warf, über den
Rhein schwamm, aber bald wieder eingefangen und
als Deserteur erschossen wurde. »Des Knaben Wun-
derhorn« enthält darüber das rührende Lied:
Zu Straßburg auf der Schanz',
Da ging mein Trauern an,
Das Alphorn hört ich drüben wohl anstimmen,
Ins Vaterland mußt ich hinüberschwimmen,
Das ging nicht an.
Ein' Stund' in der Nacht,
Sie haben mich gebracht:
Sie führten mich gleich vor des Hauptmanns Haus,
Ach Gott, sie fischten mich im Strome auf,
Mit mir ist's aus.
Frühmorgens um zehn Uhr
Stellt man mich vor das Regiment;
Ich soll da bitten um Pardon,
Und ich bekomm doch meinen Lohn,
Das weiß ich schon.
Ihr Brüder allzumal,
Heut seht ihr mich zum letztenmal;
Der Hirtenbub ist doch nur schuld daran,
Das Alphorn hat mir solches angetan,
Das klag ich an. ---
Welch ein schönes Gedicht! Es liegt in diesen
Volksliedern ein sonderbarer Zauber. Die Kunstpoe-
ten wollen diese Naturerzeugnisse nachahmen, in
derselben Weise, wie man künstliche Mineralwässer
verfertigt. Aber wenn sie auch, durch chemischen Pro-
zeß, die Bestandteile ermittelt, so entgeht ihnen doch
die Hauptsache, die unzersetzbare sympathetische Na-
turkraft. In diesen Liedern fühlt man den Herzschlag
des deutschen Volks. Hier offenbart sich all seine dü-
stere Heiterkeit, all seine närrische Vernunft. Hier
trommelt der deutsche Zorn, hier pfeift der deutsche
Spott, hier küßt die deutsche Liebe. Hier perlt der
echt deutsche Wein und die echt deutsche Träne.
Letztere ist manchmal doch noch köstlicher als erste-
rer; es ist viel Eisen und Salz darin. Welche Naivität
in der Treue! In der Untreue, welche Ehrlichkeit!
Welch ein ehrlicher Kerl ist der arme Schwartenhals,
obgleich er Straßenraub treibt! Hört einmal die phleg-
matisch rührende Geschichte, die er von sich selber
erzählt:
Ich kam vor einer Frau Wirtin Haus,
Man fragt' mich, wer ich wäre?
»Ich bin ein armer Schwartenhals,
Ich eß und trink so gerne.«
Man führt mich in die Stuben ein,
Da bot man mir zu trinken,
Die Augen ließ ich umhergehn,
Den Becher ließ ich sinken.
Man setzt, mich oben an den Tisch,
Als ob ich ein Kaufherr wäre,
Und da es an ein Zahlen ging,
Mein Säckel stand mir leere.
Da ich des Nachts wollt schlafen gehn,
Man wies mich in die Scheuer,
Da ward mir armen Schwartenhals
Mein Lachen viel zu teuer.
Und da ich in die Scheuer kam,
Da hub ich an zu nisteln,
Da stachen mich die Hagendorn,
Dazu die rauhen Disteln.
Da ich zu morgens früh aufstand,
Der Reif lag auf dem Dache,
Da mußt ich armer Schwartenhals
Meins Unglücks selber lachen.
Ich nahm mein Schwert wohl in die Hand,
Und gürt' es an die Seiten,
Ich Armer mußt zu Fuße gehn,
Weil ich nicht hatt zu reiten.
Ich hob mich auf und ging davon,
Und macht mich auf die Straßen,
Mir kam ein reicher Kaufmannssohn,
Sein' Tasch' mußt er mir lassen.
Dieser arme Schwartenhals ist der deutscheste Cha-
rakter, den ich kenne. Welche Ruhe, welche bewußte
Kraft herrscht in diesem Gedichte! Aber auch unser
Gretel sollt ihr kennenlernen. Es ist ein aufrichtiges
Mädel, und ich liebe sie sehr. Der Hans sprach zu
dem Gretel:
»Nun schürz dich, Gretlein, schürz dich,
Wohlauf mit mir davon,
Das Korn ist abgeschnitten,
Der Wein ist abgetan.«
Sie antwortet vergnügt:
»Ach Hänslein, liebes Hänslein,
So laß mich bei dir sein,
Die Wochen auf dem Felde,
Den Feiertag beim Wein.«
Da nahm er's bei den Händen,
Bei ihrer schneeweißen Hand,
Er führt, sie an ein Ende,
Da er ein Wirtshaus fand.
»Nun, Wirtin, liebe Wirtin,
Schaut um nach kühlem Wein,
Die Kleider dieses Gretlein
Müssen verschlemmet sein.«
Die Gret' hub an zu weinen,
Ihr Unmut, der war groß,
Daß ihr die lichte Zähre
Über die Wänglein floß.
»Ach Hänslein, liebes Hänslein,
Du redetest nicht also,
Als du mich heim ausführtest
Aus meines Vaters Hof.«
Er nahm sie bei den Händen,
Bei ihrer schneeweißen Hand'
Er führt, sie an ein Ende,
Da er ein Gärtlein fand. ---
»Ach Gretlein, liebes Gretlein,
Warum weinest du so sehr,
Reuet dich dein freier Mut,
Oder reut dich deine Ehr'?«
»Es reut mich nicht mein freier Mut,
Dazu auch nicht meine Ehr';
Es reuen mich meine Kleider,
Die werden mir nimmermehr.«
Das ist kein Goethesches Gretchen, und ihre Reue
wäre kein Stoff für Scheffer. Da ist kein deutscher
Mondschein. Es liegt ebensowenig Sentimentalität
drin, wenn ein junger Fant des Nachts bei seinem
Mädel Einlaß verlangt und sie ihn abweist mit den
Worten:
»Reit du nach jener Straße,
Reit du nach jener Heide,
Woher du gekommen bist;
Da liegt ein breiter Stein,
Den Kopf darauf nur leg,
Trägst keine Federn weg.«
Aber Mondschein, Mondschein die Hülle und Fülle
und die ganze Seele übergießend, strahlt in dem
Liede:
Wenn ich ein Vöglein wär
Und auch zwei Flüglein hätt,
Flög ich zu dir;
Weil's aber nicht kann sein,
Bleib ich allhier.
Bin ich gleich weit von dir,
Bin ich doch im Schlaf bei dir
Und red mit dir;
Wenn ich erwachen tu,
Bin ich allein.
Es vergeht keine Stund' in der Nacht,
Da mein Herze nicht erwacht
Und an dich gedenkt:
Daß du mir viel tausendmal
Dein Herz geschenkt.
Fragt man nun entzückt nach dem Verfasser sol-
cher Lieder, so antworten diese wohl selbst mit ihren
Schlußworten:
Wer hat das schöne Liedel erdacht?
Es haben's drei Gäns' übers Wasser gebracht,
Zwei graue und eine weiße.
Gewöhnlich ist es aber wanderndes Volk, Vaga-
bunden, Soldaten, fahrende Schüler oder Handwerks-
burschen, die solch ein Lied gedichtet. Es sind beson-
ders die Handwerksburschen. Gar oft, auf meinen
Fußreisen, verkehrte ich mit diesen Leuten und be-
merkte, wie sie zuweilen, angeregt von irgendeinem
ungewöhnlichen Ereignisse, ein Stück Volkslied im-
provisierten oder in die freie Luft hineinpfiffen. Das
erlauschten nun die Vögelein, die auf den Baumzwei-
gen saßen; und kam nachher ein andrer Bursch, mit
Ränzel und Wanderstab, vorbeigeschlendert, dann
pfiffen sie ihm jenes Stücklein ins Ohr, und er sang
die fehlenden Verse hinzu, und das Lied war fertig.
Die Worte fallen solchen Burschen vom Himmel
herab auf die Lippen, und er braucht sie nur auszu-
sprechen, und sie sind dann noch poetischer als all die
schönen poetischen Phrasen, die wir aus der Tiefe un-
seres Herzens hervorgrübeln. Der Charakter jener
deutschen Handwerksburschen lebt und webt in der-
gleichen Volksliedern. Es ist eine merkwürdige Men-
schensorte. Ohne Sou in der Tasche, wandern diese
Handwerksburschen durch ganz Deutschland, harm-
los, fröhlich und frei. Gewöhnlich fand ich, daß drei
zusammen auf solche Wanderschaft ausgingen. Von
diesen dreien war der eine immer der Räsoneur; er rä-
sonierte mit humoristischer Laune über alles, was
vorkam, über jeden bunten Vogel, der in der Luft
flog, über jeden Musterreuter, der vorüberritt, und
kamen sie gar in eine schlechte Gegend, wo ärmliche
Hütten und zerlumptes Bettelvolk, dann bemerkte er
auch wohl ironisch: »Der liebe Gott hat die Welt in
sechs Tagen erschaffen, aber, seht einmal, es ist auch
eine Arbeit darnach!« Der zweite Weggeselle bricht
nur zuweilen mit einigen wütenden Bemerkungen hin-
ein; er kann kein Wort sagen, ohne dabei zu fluchen;
er schimpft grimmig auf alle Meister, bei denen er ge-
arbeitet; und sein beständiger Refrain ist, wie sehr er
es bereue, daß er der Frau Wirtin in Halberstadt, die
ihm täglich Kohl und Wasserrüben vorgesetzt, nicht
eine Tracht Schläge zum Andenken zurückließ. Bei
dem Wort »Halberstadt« seufzt aber der dritte
Bursche aus tiefster Brust; er ist der jüngste, macht
zum erstenmal seine Ausfahrt in die Welt, denkt noch
immer an Feinsliebchens schwarzbraune Augen, läßt
immer den Kopf hängen und spricht nie ein Wort.
»Des Knaben Wunderhorn« ist ein zu merkwürdi-
ges Denkmal unserer Literatur und hat auf die Lyriker
der romantischen Schule, namentlich auf unseren vor-
trefflichen Herren Uhland, einen zu bedeutenden Ein-
fluß geübt, als daß ich es unbesprochen lassen durfte.
Dieses Buch und das »Nibelungenlied« spielten eine
Hauptrolle in jener Periode. Auch von letzterem muß
hier eine besondere Erwähnung geschehen. Es war
lange Zeit von nichts anderem als vom »Nibelungen-
lied« bei uns die Rede, und die klassischen Philolo-
gen wurden nicht wenig geärgert, wenn man dieses
Epos mit der »Ilias« verglich oder wenn man gar dar-
über stritt, welches von beiden Gedichten das vorzüg-
lichere sei. Und das Publikum sah dabei aus wie ein
Knabe, den man ernsthaft fragt: »Hast du lieber ein
Pferd oder einen Pfefferkuchen?« Jedenfalls ist aber
dieses »Nibelungenlied« von großer, gewaltiger
Kraft. Ein Franzose kann sich schwerlich einen Be-
griff davon machen. Und gar von der Sprache, worin
es gedichtet ist. Es ist eine Sprache von Stein, und die
Verse sind gleichsam gereimte Quadern. Hie und da,
aus den Spalten, quellen rote Blumen hervor, wie
Blutstropfen, oder zieht sich der lange Efeu herunter,
wie grüne Tränen. Von den Riesenleidenschaften, die
sich in diesem Gedichte bewegen, könnt ihr kleinen
artigen Leutchen euch noch viel weniger einen Begriff
machen. Denkt euch, es wäre eine helle Sommernacht,
die Sterne, bleich wie Silber, aber groß wie Sonnen,
träten hervor am blauen Himmel, und alle gotischen
Dome von Europa hätten sich ein Rendezvous gege-
ben auf einer ungeheuer weiten Ebene, und da kämen
nun ruhig herangeschritten der Straßburger Münster,
der Kölner Dom, der Glockenturm von Florenz, die
Kathedrale von Rouen usw., und diese machten der
schönen Notre-Dame de Paris ganz artig die Cour. Es
ist wahr, daß ihr Gang ein bißchen unbeholfen ist,
daß einige darunter sich sehr linkisch benehmen und
daß man über ihr verliebtes Wackeln manchmal la-
chen könnte. Aber dieses Lachen hätte doch ein Ende,
sobald man sähe, wie sie in Wut geraten, wie sie sich
untereinander würgen, wie Notre-Dame de Paris ver-
zweiflungsvoll ihre beiden Steinarme gen Himmel er-
hebt und plötzlich ein Schwert ergreift und dem größ-
ten aller Dorne das Haupt vom Rumpfe herunter-
schlägt. Aber nein, ihr könnt euch auch dann von den
Hauptpersonen des »Nibelungenlieds« keinen Begriff
machen; kein Turm ist so hoch und kein Stein ist so
hart wie der grimme Hagen und die rachgierige
Kriemhilde.
Wer hat aber dieses Lied verfaßt? Ebensowenig
wie von den Volksliedern weiß man den Namen des
Dichters, der das »Nibelungenlied« geschrieben. Son-
derbar! von den vortrefflichsten Büchern, Gedichten,
Bauwerken und sonstigen Denkmälern der Kunst
weiß man selten den Urheber. Wie hieß der Baumei-
ster, der den Kölner Dom erdacht? Wer hat dort das
Altarbild gemalt, worauf die schöne Gottesmutter und
die Heiligen Drei Könige so erquicklich abkonterfeit
sind? Wer hat das Buch Hiob gedichtet, das so viele
leidende Menschengeschlechter getröstet hat? Die
Menschen vergessen nur zu leicht die Namen ihrer
Wohltäter; die Namen des Guten und Edelen, der für
das Heil seiner Mitbürger gesorgt, finden wir selten
im Munde der Völker, und ihr dickes Gedächtnis be-
wahrt nur die Namen ihrer Dränger und grausamen
Kriegshelden. Der Baum der Menschheit vergißt des
stillen Gärtners, der ihn gepflegt in der Kälte, getränkt
in der Dürre und vor schädlichen Tieren geschützt
hat; aber er bewahrt treulich die Namen, die man ihm
in seine Rinde unbarmherzig eingeschnitten mit
scharfem Stahl, und er überliefert sie in immer wach-
sender Größe den spätesten Geschlechtern.
II
Wegen ihrer gemeinschaftlichen Herausgabe des
»Wunderhorns« pflegt man auch sonst die Namen
Brentano und Arnim zusammen zu nennen, und da ich
ersteren besprochen, darf ich von dem andern um so
weniger schweigen, da er in weit höherem Grade un-
sere Aufmerksamkeit verdient. Ludwig Achim von
Arnim ist ein großer Dichter und war einer der origi-
nellsten Köpfe der romantischen Schule. Die Freunde
des Phantastischen würden an diesem Dichter mehr
als an jedem anderen deutschen Schriftsteller Ge-
schmack finden. Er übertrifft hier den Hoffmann so-
wohl als den Novalis. Er wußte noch inniger als die-
ser in die Natur hineinzuleben und konnte weit grau-
enhaftere Gespenster beschwören als Hoffmann. Ja,
wenn ich Hoffmann selbst zuweilen betrachtete, so
kam es mir vor, als hätte Arnim ihn gedichtet. Im
Volke ist dieser Schriftsteller ganz unbekannt geblie-
ben, und er hat nur eine Renommee unter den Litera-
ten. Letztere aber, obgleich sie ihm die unbedingteste
Anerkennung zollten, haben sie doch nie öffentlich
ihn nach Gebühr gepriesen. Ja, einige Schriftsteller
pflegten sogar wegwerfend von ihm sich zu äußern,
und das waren eben diejenigen, die seine Weise nach-
ahmten. Man könnte das Wort auf sie anwenden, das
Steevens von Voltaire gebraucht, als dieser den
Shakespeare schmähte, nachdem er dessen Othello zu
seinem Orosman benutzt; er sagte nämlich: »Diese
Leute gleichen den Dieben, die nachher das Haus an-
stecken, wo sie gestohlen haben.« Warum hat Herr
Tieck nie von Arnim gehörig gesprochen, er, der über
so manches unbedeutende Machwerk soviel Geistrei-
ches sagen konnte? Die Herren Schlegel haben eben-
falls den Arnim ignoriert. Nur nach seinem Tode er-
hielt er eine Art Nekrolog von einem Mitglied der
Schule.
Ich glaube, Arnims Renommee konnte besonders
deshalb nicht aufkommen, weil er seinen Freunden,
der katholischen Partei, noch immer viel zu protestan-
tisch blieb und weil wieder die protestantische Partei
ihn für einen Kryptokatholiken hielt. Aber warum hat
ihn das Volk abgelehnt, das Volk, welchem seine Ro-
mane und Novellen in jeder Leihbibliothek zugäng-
lich waren? Auch Hoffmann wurde in unseren Litera-
turzeitungen und ästhetischen Blättern fast gar nicht
besprochen, die höhere Kritik beobachtete in betreff
seiner ein vornehmes Schweigen, und doch wurde er
allgemein gelesen. Warum vernachlässigte nun das
deutsche Volk einen Schriftsteller, dessen Phantasie
von weltumfassender Weite, dessen Gemüt von
schauerlichster Tiefe und dessen Darstellungsgabe so
unübertrefflich war? Etwas fehlte diesem Dichter, und
dieses Etwas ist es eben, was das Volk in den Bü-
chern sucht: das Leben. Das Volk verlangt, daß die
Schriftsteller seine Tagesleidenschaften mitfühlen,
daß sie die Empfindungen seiner eigenen Brust ent-
weder angenehm anregen oder verletzen: das Volk
will bewegt werden. Dieses Bedürfnis konnte aber
Arnim nicht befriedigen. Er war kein Dichter des Le-
bens, sondern des Todes. In allem, was er schrieb,
herrscht nur eine schattenhafte Bewegung, die Figuren
tummeln sich hastig, sie bewegen die Lippen, als
wenn sie sprächen, aber man sieht nur ihre Worte,
man hört sie nicht. Diese Figuren springen, ringen,
stellen sich auf den Kopf, nahen sich uns heimlich
und flüstern uns leise ins Ohr: »Wir sind tot.« Sol-
ches Schauspiel würde allzu grauenhaft und peinigend
sein, wäre nicht die Arnimsche Grazie, die über jede
dieser Dichtungen verbreitet ist, wie das Lächeln
eines Kindes, aber eines toten Kindes. Arnim kann
die Liebe schildern, zuweilen auch die Sinnlichkeit,
aber sogar da können wir nicht mit ihm fühlen; wir
sehen schöne Leiber, wogende Busen, feingebaute
Hüften, aber ein kaltes, feuchtes Leichengewand um-
hüllt dieses alles. Manchmal ist Arnim witzig, und
wir müssen sogar lachen; aber es ist doch, als wenn
der Tod uns kitzle mit seiner Sense. Gewöhnlich je-
doch ist er ernsthaft, und zwar wie ein toter Deut-
scher. Ein lebendiger Deutscher ist schon ein
hinlänglich ernsthaftes Geschöpf, und nun erst ein
toter Deutscher! Ein Franzose hat gar keine Idee
davon, wie ernsthaft wir erst im Tode sind; da sind
unsere Gesichter noch viel länger, und die Würmer,
die uns speisen, werden melancholisch, wenn sie uns
dabei ansehen. Die Franzosen wähnen, wunder wie
schrecklich ernsthaft der Hoffmann sein könne; aber
das ist Kinderspiel in Vergleichung mit Arnim. Wenn
Hoffmann seine Toten beschwört und sie aus den
Gräbern hervorsteigen und ihn umtanzen, dann zittert
er selber vor Entsetzen und tanzt selbst in ihrer Mitte
und schneidet dabei die tollsten Affengrimassen.
Wenn aber Arnim seine Toten beschwört, so ist es,
als ob ein General Heerschau halte, und er sitzt so
ruhig auf seinem hohen Geisterschimmel und läßt die
entsetzlichen Scharen vor sich vorbeidefilieren, und
sie sehen ängstlich nach ihm hinauf und scheinen sich
vor ihm zu fürchten. Er nickt ihnen aber freundlich
zu.
Ludwig Achim von Arnim ward geboren 1781, in
der Mark Brandenburg, und starb den Winter 1830.
Er schrieb dramatische Gedichte, Romane und Novel-
len. Seine Dramen sind voll intimer Poesie, nament-
lich ein Stück darunter, betitelt »Der Auerhahn«. Die
erste Szene wäre selbst des allergrößten Dichters
nicht unwürdig. Wie wahr, wie treu ist die betrübteste
Langeweile da geschildert! Der eine von den drei
natürlichen Söhnen des verstorbenen Landgrafen sitzt
allein in dem verwaisten weiten Burgsaal und spricht
gähnend mit sich selber und klagt, daß ihm die Beine
unter dem Tische immer länger wüchsen und daß ihm
der Morgenwind so kalt durch die Zähne pfiffe. Sein
Bruder, der gute Franz, kommt nun langsam hereinge-
schlappt, in den Kleidern des seligen Vaters, die ihm
viel zu weit am Leibe hängen, und wehmütig gedenkt
er, wie er sonst um diese Stunde dem Vater beim An-
ziehen half, wie dieser ihm oft eine Brotkruste zuwarf,
die er mit seinen alten Zähnen nicht mehr beißen
konnte, wie er ihm auch manchmal verdrießlich einen
Tritt gab; diese letztere Erinnerung rührt den guten
Franz bis zu Tränen, und er beklagt, daß nun der
Vater tot sei und ihm keinen Tritt mehr geben könne.
Arnims Romane heißen »Die Kronwächter« und
»Die Gräfin Dolores«. Auch ersterer hat einen vor-
trefflichen Anfang. Der Schauplatz ist oben im Wart-
turme von Waiblingen, in dem traulichen Stübchen
des Türmers und seiner wackeren dicken Frau, die
aber doch nicht so dick ist, wie man unten in der Stadt
behauptet. In der Tat, es ist Verleumdung, wenn man
ihr nachsagte, sie sei oben in der Turmwohnung so
korpulent geworden, daß sie die enge Turmtreppe
nicht mehr herabsteigen könne und nach dem Tode
ihres ersten Ehegatten, des alten Türmers, genötigt
gewesen sei, den neuen Türmer zu heuraten. Aber
solche böse Nachrede grämte sich die arme Frau dro-
ben nicht wenig; und sie konnte nur deshalb die
Turmtreppe nicht hinabsteigen, weil sie am Schwin-
del litt.
Der zweite Roman von Arnim, »Die Gräfin Dolo-
res« hat ebenfalls den allervortrefflichsten Anfang,
und der Verfasser schildert uns da die Poesie der
Armut, und zwar einer adeligen Armut, die er, der da-
mals selber in großer Dürftigkeit lebte, sehr oft zum
Thema gewählt hat. Welch ein Meister ist Arnim auch
hier in der Darstellung der Zerstörnis! Ich meine es
immer vor Augen zu sehen, das wüste Schloß der jun-
gen Gräfin Dolores, das um so wüster aussieht, da es
der alte Graf in einem heiter italienischen Ge-
schmacke, aber nicht fertig gebaut hat. Nun ist es eine
moderne Ruine, und im Schloßgarten ist alles ver-
ödet: die geschnittenen Taxusalleen sind struppig ver-
wildert, die Bäume wachsen sich einander in den
Weg, der Lorbeer und der Oleander ranken schmerz-
lich am Boden, die schönen, großen Blumen werden
von verdrießlichem Unkraut umschlungen, die Götter-
statuen sind von ihren Postamenten herabgefallen,
und ein paar mutwillige Bettelbuben kauern neben
einer armen Venus, die im hohen Grase liegt, und mit
Brennesseln geißeln sie ihr den marmornen Hintern.
Wenn der alte Graf, nach langer Abwesenheit, wieder
in sein Schloß heimkehrt, ist ihm das sonderbare
Benehmen seiner Hausgenossenschaft, besonders sei-
ner Frau, sehr auffallend, es passiert bei Tische so al-
lerlei Befremdliches, und das kommt wohl daher, weil
die arme Frau vor Gram gestorben und ebenso wie
das übrige Hausgesinde längst tot war. Der Graf
scheint es aber am Ende selbst zu ahnen, daß er sich
unter lauter Gespenstern befindet, und ohne sich
etwas merken zu lassen, reist er in der Stille wieder
ab.
Unter Arnims Novellen dünkt mir die kostbarste
seine »Isabella von Ägypten«. Hier sehen wir das
wanderschaftliche Treiben der Zigeuner, die man hier
in Frankreich Bohémiens, auch Égyptiens nennt. Hier
lebt und webt das seltsame Märchenvolk mit seinen
braunen Gesichtern, freundlichen Wahrsageraugen
und seinem wehmütigen Geheimnis. Die bunte, gau-
kelnde Heiterkeit verhüllt einen großen mystischen
Schmerz. Die Zigeuner müssen nämlich nach der
Sage, die in dieser Novelle gar lieblich erzählt wird,
eine Zeitlang in der ganzen Welt herumwandeln, zur
Abbuße jener ungastlichen Härte, womit einst ihre
Vorfahren die heilige Muttergottes mit ihrem Kinde
abgewiesen, als diese, auf ihrer Flucht in Ägypten, ein
Nachtlager von ihnen verlangte. Deshalb hielt man
sich auch berechtigt, sie mit Grausamkeit zu behan-
deln. Da man im Mittelalter noch keine Schel-
lingschen Philosophen hatte, so mußte die Poesie
damals die Beschönigung der unwürdigsten und grau-
samsten Gesetze übernehmen. Gegen niemand waren
diese Gesetze barbarischer als gegen die armen Zigeu-
ner. In manchen Ländern erlaubten sie, jeden Zigeu-
ner bei Diebstahlsverdacht, ohne Untersuchung und
Urtel, aufzuknüpfen. So wurde ihr Oberhaupt Micha-
el, genannt Herzog von Ägypten, unschuldig gehenkt.
Mit diesem trüben Ereignis beginnt die Arnimsche
Novelle. Nächtlich nehmen die Zigeuner ihren toten
Herzog vom Galgen herab, legen ihm den roten Für-
stenmantel um die Schulter, setzen ihm die silberne
Krone auf das Haupt und versenken ihn in die Schel-
de, fest überzeugt, daß ihn der mitleidige Strom nach
Hause bringt, nach dem geliebten Ägypten. Die arme
Zigeunerprinzessin Isabella, seine Tochter, weiß
nichts von dieser traurigen Begebenheit, sie wohnt
einsam in einem verfallenen Hause an der Schelde
und hört des Nachts, wie es so sonderbar im Wasser
rauscht, und sie sieht plötzlich, wie ihr bleicher Vater
hervortaucht, im purpurnen Totenschmuck, und der
Mond wirft sein schmerzliches Licht auf die silberne
Krone. Das Herz des schönen Kindes will schier bre-
chen vor unnennbarem Jammer, vergebens will sie
den toten Vater festhalten; er schwimmt ruhig weiter
nach Ägypten, nach seinem heimatlichen Wunder-
land, wo man seiner Ankunft harrt, um ihn in einer
der großen Pyramiden nach Würden zu begraben.
Rührend ist das Totenmahl, womit das arme Kind den
verstorbenen Vater ehrt; sie legt ihren weißen Schleier
über einen Feldstein, und darauf stellt sie Speis, und
Trank, welches sie feierlich genießt. Tief rührend ist
alles, was uns der vortreffliche Arnim von den Zigeu-
nern erzählt, denen er schon an anderen Orten sein
Mitleid gewidmet, z.B. in seiner Nachrede zum
»Wunderhorn«, wo er behauptet, daß wir den Zigeu-
nern soviel Gutes und Heilsames, namentlich die
mehrsten unserer Arzneien, verdanken. Wir hätten sie
mit Undank verstoßen und verfolgt. Mit all ihrer
Liebe, klagt er, hatten sie bei uns keine Heimat erwer-
ben können. Er vergleicht sie in dieser Hinsicht mit
den kleinen Zwergen, wovon die Sage erzählt, daß sie
alles herbeischafften, was sich ihre großen, starken
Feinde zu Gastmählern wünschten, aber einmal für
wenige Erbsen, die sie aus Not vom Felde ablasen,
jämmerlich geschlagen und aus dem Lande gejagt
wurden. Das war nun ein wehmütiger Anblick, wie
die armen kleinen Menschen nächtlich über die
Brücke wegtrappelten, gleich einer Schafherde, und
jeder dort ein Münzchen niederlegen mußte, bis sie
ein Faß damit füllten.
Eine Übersetzung der erwähnten Novelle »Isabella
von Ägypten« würde den Franzosen nicht bloß eine
Idee von Arnims Schriften geben, sondern auch zei-
gen, daß all die furchtbaren, unheimlichen, grausigen
und gespenstischen Geschichten, die sie sich in der
letzten Zeit gar mühsam abgequält, in Vergleichung
mit Arnimschen Dichtungen nur rosige Morgenträume
einer Operntänzerin zu sein scheinen. In sämtlichen
französischen Schauergeschichten ist nicht soviel Un-
heimliches zusammengepackt wie in jener Kutsche,
die Arnim von Brake nach Brüssel fahren läßt und
worin folgende vier Personnagen beieinandersitzen:
1. Eine alte Zigeunerin, welche zugleich Hexe ist.
Sie sieht aus wie die schönste von den sieben Todsün-
den und strotzt im buntesten Goldflitter- und Seiden-
putz.
2. Ein toter Bärenhäuter, welcher, um einige Duka-
ten zu verdienen, aus dem Grabe gestiegen und sich
auf sieben Jahr als Bedienter verdingt. Es ist ein fetter
Leichnam, der einen Oberrock von weißem Bärenfell
trägt, weshalb er auch Bärenhäuter genannt wird, und
der dennoch immer friert.
3. Ein Golem; nämlich eine Figur von Lehm, wel-
che ganz wie ein schönes Weib geformt ist und wie
ein schönes Weib sich gebärdet. Auf der Stirn, ver-
borgen unter den schwarzen Locken, steht mit hebräi-
schen Buchstaben das Wort »Wahrheit«, und wenn
man dieses auslischt, fallt die ganze Figur wieder leb-
los zusammen, als eitel Lehm.
4. Der Feldmarschall Cornelius Nepos, welcher
durchaus nicht mit dem berühmten Historiker dieses
Namens verwandt ist, ja welcher sich nicht einmal
einer bürgerlichen Abkunft rühmen kann, indem er
von Geburt eigentlich eine Wurzel ist, eine Alraun-
wurzel, welche die Franzosen Mandragora nennen.
Diese Wurzel wächst unter dem Galgen, wo die zwei-
deutigsten Tränen eines Gehenkten geflossen sind. Sie
gab einen entsetzlichen Schrei, als die schöne Isabella
sie dort um Mitternacht aus dem Boden gerissen. Sie
sah aus wie ein Zwerg, nur daß sie weder Augen,
Mund noch Ohren hatte. Das liebe Mädchen pflanzte
ihr ins Gesicht zwei schwarze Wacholderkerne und
eine rote Hagebutte, woraus Augen und Mund ent-
standen. Nachher streute sie dem Männlein auch ein
bißchen Hirse auf den Kopf, welches als Haar, aber
etwas struppig, in die Höhe wuchs. Sie wiegte das
Mißgeschöpf in ihren weißen Armen, wenn es wie ein
Kind greinte; mit ihren holdseligen Rosenlippen
küßte sie ihm das Hagebuttmaul ganz schief; sie
küßte ihm vor Liebe fast die Wacholderäuglein aus
dem Kopf; und der garstige Knirps wurde dadurch so
verzogen, daß er am Ende Feldmarschall werden
wollte und eine brillante Feldmarschalluniform anzog
und sich durchaus »Herr Feldmarschall« titulieren
ließ.
Nicht wahr, das sind vier sehr ausgezeichnete Per-
sonen? Wenn ihr die Morgue, die Totenacker, die
Cour de miracle und sämtliche Pesthöfe des
Mittelalters ausplündert, werdet ihr doch keine so
gute Gesellschaft zusammenbringen wie jene, die in
einer einzigen Kutsche von Brake nach Brüssel fuhr.
Ihr Franzosen solltet doch endlich einsehen, daß das
Grauenhafte nicht euer Fach und daß Frankreich kein
geeigneter Boden für Gespenster jener Art. Wenn ihr
Gespenster beschwört, müssen wir lachen. Ja, wir
Deutschen, die wir bei euren heitersten Witzen ganz
ernsthaft bleiben können, wir lachen desto herzlicher
bei euren Gespenstergeschichten. Denn eure Gespen-
ster sind doch immer Franzosen; und französische
Gespenster! welch ein Widerspruch in den Worten! In
dem Wort »Gespenst« liegt soviel Einsames, Mürri-
sches, Deutsches, Schweigendes, und in dem Worte
»Französisch« liegt hingegen soviel Geselliges, Arti-
ges, Französisches, Schwatzendes! Wie könnte ein
Franzose ein Gespenst sein, oder gar, wie könnten in
Paris Gespenster existieren! In Paris, im Foyer der eu-
ropäischen Gesellschaft! Zwischen zwölf und ein Uhr,
der Stunde, die nun einmal von jeher den Gespenstern
zum Spuken angewiesen ist, rauscht noch das leben-
digste Leben in den Gassen von Paris, in der Oper
klingt eben dann das brausendste Finale, aus den Va-
riétés und dem Gymnase strömen die heitersten Grup-
pen, und das wimmelt und tänzelt und lacht und schä-
kert auf den Boulevards, und man geht in die Soiree.
Wie müßte sich ein armes spukendes Gespenst
unglücklich fühlen in dieser heiteren Menschenbewe-
gung! Und wie könnte ein Franzose, selbst wenn er
tot ist, den zum Spuken nötigen Ernst beibehalten,
wenn ihn von allen Seiten die bunteste Volkslust um-
jauchzt! Ich selbst, obgleich ein Deutscher, im Fall
ich tot wäre und hier in Paris des Nachts spuken soll-
te, ich könnte meine Gespensterwürde gewiß nicht be-
haupten, wenn mir etwa an einer Straßenecke irgend-
eine jener Göttinnen des Leichtsinns entgegenrennte,
die einem dann so köstlich ins Gesicht zu lachen wis-
sen. Gäbe es wirklich in Paris Gespenster, so bin ich
überzeugt, gesellig wie die Franzosen sind, sie wür-
den sich sogar als Gespenster einander anschließen,
sie würden bald Gespensterreunions bilden, sie wür-
den ein Totenkaffeehaus stiften, eine Totenzeitung
herausgeben, eine Pariser Totenrevue, und es gäbe
bald Totensoirees, où l'on fera de la musique. Ich bin
überzeugt, die Gespenster würden sich hier in Paris
weit mehr amüsieren als bei uns die Lebenden. Was
mich betrifft, wüßte ich, daß man solcherweise in
Paris als Gespenst existieren könnte, ich würde den
Tod nicht mehr fürchten. Ich würde nur Maßregeln
treffen, daß ich am Ende auf dem Père-Lachaise beer-
digt werde und in Paris spuken kann, zwischen zwölf
und ein Uhr. Welche köstliche Stunde! Ihr deutschen
Landsleute, wenn ihr nach meinem Tode mal nach
Paris kommt und mich des Nachts hier als Gespenst
erblickt, erschreckt nicht; ich spuke nicht in furchtbar
unglücklich deutscher Weise, ich spuke vielmehr zu
meinem Vergnügen.
Da man, wie ich in allen Gespenstergeschichten ge-
lesen, gewöhnlich an den Orten spuken muß, wo man
Geld begraben hat, so will ich aus Vorsorge einige
Sous irgendwo auf den Boulevards begraben. Bis
jetzt habe ich zwar schon in Paris Geld totgeschlagen,
aber nie begraben.
O ihr armen französischen Schriftsteller, ihr solltet
doch endlich einsehen, daß eure Schauerromane und
Spukgeschichten ganz unpassend sind für ein Land,
wo es entweder gar keine Gespenster gibt oder wo
doch die Gespenster so gesellschaftlich heiter wie wir
anderen sich gehaben würden. Ihr kommt mir vor wie
die Kinder, die sich Masken vors Gesicht halten, um
sich einander Furcht einzujagen. Es sind ernsthafte,
furchtbare Larven, aber durch die Augenluken schau-
en fröhliche Kinderaugen. Wir Deutschen hingegen
tragen zuweilen die freundlich jugendlichsten Larven,
und aus den Augen lauscht der greise Tod. Ihr seid
ein zierliches, liebenswürdiges, vernünftiges und le-
bendiges Volk, und nur das Schöne und Edle und
Menschliche liegt im Bereiche eurer Kunst. Das
haben schon eure älteren Schriftsteller eingesehen,
und ihr, die neueren, werden am Ende ebenfalls zu
dieser Einsicht gelangen. Laßt ab vom Schauerlichen
und Gespenstischen. Laßt uns Deutschen alle
Schrecknisse des Wahnsinns, des Fiebertraums und
der Geisterwelt. Deutschland ist ein gedeihlicheres
Land für alte Hexen, tote Bärenhäuter, Golems jedes
Geschlechts und besonders für Feldmarschälle wie der
kleine Cornelius Nepos. Nur jenseits des Rheins kön-
nen solche Gespenster gedeihen; nimmermehr in
Frankreich. Als ich hierher reiste, begleiteten mich
meine Gespenster bis an die französische Grenze. Da
nahmen sie betrübt von mir Abschied. Denn der An-
blick der dreifarbigen Fahne verscheucht die Gespen-
ster jeder Art. Oh! ich möchte mich auf den Straßbur-
ger Münster stellen, mit einer dreifarbigen Fahne in
der Hand, die bis nach Frankfurt reichte. Ich glaube,
wenn ich die geweihte Fahne über mein teures Vater-
land hinüberschwenkte und die rechten exorzierenden
Worte dabei ausspräche, die alten Hexen würden auf
ihren Besenstielen davonfliegen, die kalten Bärenhäu-
ter würden wieder in ihre Gräber hinabkriechen, die
Golems würden wieder als eitel Lehm zusammenfal-
len, der Feldmarschall Cornelius Nepos kehrte wieder
zurück nach dem Orte, woher er gekommen, und der
ganze Spuk wäre zu Ende.
III
Die Geschichte der Literatur ist ebenso schwierig
zu beschreiben wie die Naturgeschichte. Dort wie hier
hält man sich an die besonders hervortretende Er-
scheinungen. Aber wie in einem kleinen Wasserglas
eine ganze Welt wunderlicher Tierchen enthalten ist,
die ebensosehr von der Allmacht Gottes zeugen wie
die größten Bestien, so enthält der kleinste Musenal-
manach zuweilen eine Unzahl Dichterlinge, die dem
stillen Forscher ebenso interessant dünken wie die
größten Elefanten der Literatur. Gott ist groß!
Die meisten Literaturhistoriker geben uns wirklich
eine Literaturgeschichte wie eine wohlgeordnete Me-
nagerie, und immer besonders abgesperrt zeigen sie
uns epische Säugedichter, lyrische Luftdichter, drama-
tische Wasserdichter, prosaische Amphibien, die so-
wohl Land- wie Seeromane schreiben, humoristische
Mollusken usw. Andere, im Gegenteil, treiben die Li-
teraturgeschichte pragmatisch, beginnen mit den ur-
sprünglichen Menschheitsgefühlen, die sich in den
verschiedenen Epochen ausgebildet und endlich eine
Kunstform angenommen; sie beginnen ab ovo wie der
Geschichtschreiber, der den Trojanischen Krieg mit
der Erzählung vom Ei der Leda eröffnet. Und wie die-
ser handeln sie töricht. Denn ich bin überzeugt, wenn
man das Ei der Leda zu einer Omelette verwendet
hätte, würden sich dennoch Hektor und Achilles vor
dem Skäischen Tore begegnet und ritterlich bekämpft
haben. Die großen Fakta und die großen Bücher ent-
stehen nicht aus Geringfügigkeiten, sondern sie sind
notwendig, sie hängen zusammen mit den Kreisläufen
von Sonne, Mond und Sterne, und sie entstehen viel-
leicht durch deren Influenz auf die Erde. Die Fakta
sind nur die Resultate der Ideen;... aber wie kommt
es, daß zu gewissen Zeiten sich gewisse Ideen so ge-
waltig geltend machen, daß sie das ganze Leben der
Menschen, ihr Tichten und Trachten, ihr Denken und
Schreiben, aufs wunderbarste umgestalten? Es ist
vielleicht an der Zeit, eine literarische Astrologie zu
schreiben und die Erscheinung gewisser Ideen oder
gewisser Bücher, worin diese sich offenbaren, aus der
Konstellation der Gestirne zu erklären.
Oder entspricht das Aufkommen gewisser Ideen
nur den momentanen Bedürfnissen der Menschen?
Suchen sie immer die Ideen, womit sie ihre jedesmali-
gen Wünsche legitimieren können? In der Tat, die
Menschen sind ihrem innersten Wesen nach lauter
Doktrinäre; sie wissen immer eine Doktrin zu finden,
die alle ihre Entsagungen oder Begehrnisse justifi-
ziert. In bösen, mageren Tagen, wo die Freude ziem-
lich unerreichbar geworden, huldigen sie dem Dogma
der Abstinenz und behaupten, die irdischen Trauben
seien sauer; werden jedoch die Zeiten wohlhabender,
wird es den Leuten möglich, emporzulangen nach den
schönen Früchten dieser Welt, dann tritt auch eine
heitere Doktrin ans Licht, die dem Leben alle seine
Süßigkeiten und sein volles, unveräußerliches Genuß-
recht vindiziert.
Nahen wir dem Ende der christlichen Fastenzeit,
und bricht das rosige Weltalter der Freude schon
leuchtend heran? Wie wird die heitere Doktrin die Zu-
kunft gestalten?
In der Brust der Schriftsteller eines Volkes liegt
schon das Abbild von dessen Zukunft, und ein Kriti-
ker, der mit hinlänglich scharfem Messer einen neue-
ren Dichter sezierte, könnte, wie aus den Eingeweiden
eines Opfertiers, sehr leicht prophezeien, wie sich
Deutschland in der Folge gestalten wird. Ich würde
herzlich gern, als ein literarischer Kalchas, in dieser
Absicht einige unserer jüngsten Poeten kritisch ab-
schlachten, müßte ich nicht befürchten, in ihren Ein-
geweiden viele Dinge zu sehen, über die ich mich hier
nicht aussprechen darf. Man kann nämlich unsere
neueste deutsche Literatur nicht besprechen, ohne ins
tiefste Gebiet der Politik zu geraten. In Frankreich,
wo sich die belletristischen Schriftsteller von der poli-
tischen Zeitbewegung zu entfernen suchen, sogar
mehr als löblich, da mag man jetzt die Schöngeister
des Tages beurteilen und den Tag selbst
unbesprochen lassen können. Aber jenseits des Rhei-
nes werfen sich jetzt die belletristischen Schriftsteller
mit Eifer in die Tagesbewegung, wovon sie sich so
lange entfernt gehalten. Ihr Franzosen seid während
fünfzig Jahren beständig auf den Beinen gewesen und
seid jetzt müde; wir Deutsche hingegen haben bis
jetzt am Studiertische gesessen und haben alte Klassi-
ker kommentiert und möchten uns jetzt einige Bewe-
gung machen.
Derselbe Grund, den ich oben angedeutet, verhin-
dert mich, mit gehöriger Würdigung einen Schriftstel-
ler zu besprechen, über welchen Frau von Staël nur
flüchtige Andeutungen gegeben und auf welchen seit-
dem, durch die geistreichen Artikel von Philarète
Chasles, das französische Publikum noch besonders
aufmerksam geworden. Ich rede von Jean Paul Fried-
rich Richter. Man hat ihn den Einzigen genannt. Ein
treffliches Urteil, das ich jetzt erst ganz begreife,
nachdem ich vergeblich darüber nachgesonnen, an
welcher Stelle man in einer Literaturgeschichte von
ihm reden müßte. Er ist fast gleichzeitig mit der ro-
mantischen Schule aufgetreten, ohne im mindesten
daran teilzunehmen, und ebensowenig hegte er später
die mindeste Gemeinschaft mit der Goetheschen
Kunstschule. Er steht ganz isoliert in seiner Zeit, eben
weil er, im Gegensatz zu den beiden Schulen, sich
ganz seiner Zeit hingegeben und sein Herz ganz
davon erfüllt war. Sein Herz und seine Schriften
waren eins und dasselbe. Diese Eigenschaft, diese
Ganzheit finden wir auch bei den Schriftstellern des
heutigen Jungen Deutschlands, die ebenfalls keinen
Unterschied machen wollen zwischen Leben und
Schreiben, die nimmermehr die Politik trennen von
Wissenschaft, Kunst und Religion und die zu gleicher
Zeit Künstler, Tribune und Apostel sind.
Ja, ich wiederhole das Wort Apostel, denn ich weiß
kein bezeichnenderes Wort. Ein neuer Glaube beseelt
sie mit einer Leidenschaft, von welcher die Schrift-
steller der früheren Periode keine Ahnung hatten. Es
ist dieses der Glaube an den Fortschritt, ein Glaube,
der aus dem Wissen entsprang. Wir haben die Lande
gemessen, die Naturkräfte gewogen, die Mittel der In-
dustrie berechnet, und siehe, wir haben ausgefunden,
daß diese Erde groß genug ist; daß sie jedem hinläng-
lichen Raum bietet, die Hütte seines Glückes darauf
zu bauen; daß diese Erde uns alle anständig ernähren
kann, wenn wir alle arbeiten und nicht einer auf Ko-
sten des anderen leben will; und daß wir nicht nötig
haben, die größere und ärmere Klasse an den Himmel
zu verweisen. - Die Zahl dieser Wissenden und Gläu-
bigen ist freilich noch gering. Aber die Zeit ist ge-
kommen, wo die Völker nicht mehr nach Köpfen ge-
zählt werden, sondern nach Herzen. Und ist das große
Herz eines einzigen Heinrich Laube nicht mehr wert
als ein ganzer Tiergarten von Raupachen und Komö-
dianten?
Ich habe den Namen Heinrich Laube genannt; denn
wie könnte ich von dem Jungen Deutschland spre-
chen, ohne des großen, flammenden Herzens zu ge-
denken, das daraus am glänzendsten hervorleuchtet.
Heinrich Laube, einer jener Schriftsteller, die seit der
Juliusrevolution aufgetreten sind, ist für Deutschland
von einer sozialen Bedeutung, deren ganzes Gewicht
jetzt noch nicht ermessen werden kann. Er hat alle
guten Eigenschaften, die wir bei den Autoren der ver-
gangenen Periode finden, und verbindet damit den
apostolischen Eifer des Jungen Deutschlands. Dabei
ist seine gewaltige Leidenschaft durch hohen Kunst-
sinn gemildert und verklärt. Er ist begeistert für das
Schöne ebensosehr wie für das Gute; er hat ein feines
Ohr und ein scharfes Auge für edle Form; und gemei-
ne Naturen widern ihn an, selbst wenn sie als Käm-
pen für noble Gesinnung dem Vaterlande nutzen. Die-
ser Kunstsinn, der ihm angeboren, schützte ihn auch
vor der großen Verirrung jenes patriotischen Pöbels,
der noch immer nicht aufhört, unseren großen Meister
Goethe zu verlästern und zu schmähen.
In dieser Hinsicht verdient auch ein anderer Schrift-
steller der jüngsten Zeit, Herr Karl Gutzkow, das
höchste Lob. Wenn ich diesen erst nach Laube erwäh-
ne, so geschieht es keineswegs, weil ich ihm nicht
ebensoviel Talent zutraue, noch viel weniger, weil ich
von seinen Tendenzen minder erbaut wäre; nein, auch
Karl Gutzkow muß ich die schönsten Eigenschaften
der schaffenden Kraft und des urteilenden Kunstsin-
nes zuerkennen, und auch seine Schriften erfreuen
mich durch die richtige Auffassung unserer Zeit und
ihrer Bedürfnisse; aber in allem, was Laube schreibt,
herrscht eine weitaustönende Ruhe, eine selbstbewuß-
te Größe, eine stille Sicherheit, die mich persönlich
tiefer anspricht als die pittoreske, farbenschillernde
und stechend gewürzte Beweglichkeit des Gutz-
kowschen Geistes.
Herr Karl Gutzkow, dessen Seele voller Poesie,
mußte ebenso wie Laube sich zeitig von jenen Zelo-
ten, die unseren großen Meister schmähen, aufs be-
stimmteste lossagen. Dasselbe gilt von den Herren L.
Wienbarg und Gustav Schlesier, zwei höchst ausge-
zeichneten Schriftstellern der jüngsten Periode, die ich
hier, wo vom Jungen Deutschland die Rede ist, eben-
falls nicht unerwähnt lassen darf. Sie verdienen in der
Tat, unter dessen Chorführern genannt zu werden, und
ihr Name hat guten Klang gewonnen im Lande. Es ist
hier nicht der Ort, ihr Können und Wirken ausführli-
cher zu besprechen. Ich habe mich zu sehr von mei-
nem Thema entfernt; nur noch von Jean Paul will ich
mit einigen Worten reden.
Ich habe erwähnt, wie Jean Paul Friedrich Richter
in seiner Hauptrichtung dem Jungen Deutschland vor-
anging. Dieses letztere jedoch, aufs Praktische ange-
wiesen, hat sich der abstrusen Verworrenheit, der ba-
rocken Darstellungsart und des ungenießbaren Stiles
der Jean Paulschen Schriften zu enthalten gewußt.
Von diesem Stile kann sich ein klarer, wohlredigierter
französischer Kopf nimmermehr einen Begriff ma-
chen. Jean Pauls Periodenbau besteht aus lauter klei-
nen Stübchen, die manchmal so eng sind, daß, wenn
eine Idee dort mit einer anderen zusammentrifft, sie
sich beide die Köpfe zerstoßen; oben an der Decke
sind lauter Haken, woran Jean Paul allerlei Gedanken
hängt, und an den Wänden sind lauter geheime
Schubladen, worin er Gefühle verbirgt. Kein deut-
scher Schriftsteller ist so reich wie er an Gedanken
und Gefühlen, aber er läßt sie nie zur Reife kommen,
und mit dem Reichtum seines Geistes und seines Ge-
mütes bereitet er uns mehr Erstaunen als Erquickung.
Gedanken und Gefühle, die zu ungeheuren Bäumen
auswachsen würden, wenn er sie ordentlich Wurzel
fassen und mit allen ihren Zweigen, Blüten und Blät-
tern sich ausbreiten ließe: diese rupft er aus, wenn sie
kaum noch kleine Pflänzchen, oft sogar noch bloße
Keime sind, und ganze Geisteswälder werden uns sol-
chermaßen, auf einer gewöhnlichen Schüssel, als Ge-
müse vorgesetzt. Dieses ist nun eine wundersame, un-
genießbare Kost; denn nicht jeder Magen kann junge
Eichen, Zedern, Palmen und Banjanen in solcher
Menge vertragen. Jean Paul ist ein großer Dichter und
Philosoph, aber man kann nicht unkünstlerischer sein
als eben er im Schaffen und Denken. Er hat in seinen
Romanen echt poetische Gestalten zur Welt gebracht,
aber alle diese Geburten schleppen eine närrisch lange
Nabelschnur mit sich herum und verwickeln und wür-
gen sich damit. Statt Gedanken gibt er uns eigentlich
sein Denken selbst, wir sehen die materielle Tätigkeit
seines Gehirns; er gibt uns, sozusagen, mehr Gehirn
als Gedanken. In allen Richtungen hüpfen dabei seine
Witze, die Flöhe seines erhitzten Geistes. Er ist der
lustigste Schriftsteller und zugleich der sentimental-
ste. Ja, die Sentimentalität überwindet ihn immer, und
sein Lachen verwandelt sich jählings in Weinen. Er
vermummt sich manchmal in einen bettelhaften,
plumpen Gesellen, aber dann plötzlich, wie die Für-
sten inkognito, die wir auf dem Theater sehen, knöpft
er den groben Oberrock auf, und wir erblicken als-
dann den strahlenden Stern.
Hierin gleicht Jean Paul ganz dem großen Irländer,
womit man ihn oft verglichen. Auch der Verfasser de
»Tristram Shandy«, wenn er sich in den rohesten Tri-
vialitäten verloren, weiß uns plötzlich, durch erhabe-
ne Übergänge, an seine fürstliche Würde, an seine
Ebenbürtigkeit mit Shakespeare zu erinnern. Wie Lo-
renz Sterne hat auch Jean Paul in seinen Schriften
seine Persönlichkeit preisgegeben, er hat sich eben-
falls in menschlichster Blöße gezeigt, aber doch mit
einer gewissen unbeholfenen Scheu, besonders in ge-
schlechtlicher Hinsicht. Lorenz Sterne zeigt sich dem
Publikum ganz entkleidet, er ist ganz nackt; Jean Paul
hingegen hat nur Löcher in der Hose. Mit Unrecht
glauben einige Kritiker, Jean Paul habe mehr wahres
Gefühl besessen als Sterne, weil dieser, sobald der
Gegenstand, den er behandelt, eine tragische Höhe er-
reicht, plötzlich in den scherzhaftesten, lachendsten
Ton überspringt; statt daß Jean Paul, wenn der Spaß
nur im mindesten ernsthaft wird, allmählich zu flen-
nen beginnt und ruhig seine Tränendrüsen austräufen
läßt. Nein, Sterne fühlte vielleicht noch tiefer als Jean
Paul, denn er ist ein größerer Dichter. Er ist, wie ich
schon erwähnt, ebenbürtig mit William Shakespeare,
und auch ihn, den Lorenz Sterne, haben die Musen
erzogen auf dem Parnaß. Aber nach Frauenart haben
sie ihn, besonders durch ihre Liebkosungen, schon
frühe verdorben. Er war das Schoßkind der bleichen
tragischen Göttin. Einst, in einem Anfall von grausa-
mer Zärtlichkeit, küßte diese ihm das junge Herz so
gewaltig, so liebestark, so inbrünstig saugend, daß
das Herz zu bluten begann und plötzlich alle Schmer-
zen dieser Welt verstand und von unendlichem Mit-
leid erfüllt wurde. Armes, junges Dichterherz! Aber
die jüngere Tochter Mnemosynes, die rosige Göttin
des Scherzes, hüpfte schnell hinzu und nahm den lei-
denden Knaben in ihre Arme und suchte ihn zu erhei-
tern mit Lachen und Singen und gab ihm als Spiel-
zeug die komische Larve und die närrischen Glöck-
chen und küßte begütigend seine Lippen und küßte
ihm darauf all ihren Leichtsinn, all ihre trotzige Lust,
all ihre witzige Neckerei.
Und seitdem gerieten Sternes Herz und Sternes
Lippen in einen sonderbaren Widerspruch: wenn sein
Herz manchmal ganz tragisch bewegt ist und er seine
tiefsten blutenden Herzensgefühle aussprechen will,
dann, zu seiner eignen Verwunderung, flattern von
seinen Lippen die lachend ergötzlichsten Worte.
IV
Im Mittelalter herrschte unter dem Volke die Mei-
nung: wenn irgendein Gebäude zu errichten sei,
müsse man etwas Lebendiges schlachten und auf dem
Blute desselben den Grundstein legen; dadurch werde
das Gebäude fest und unerschütterlich stehenbleiben.
War es nun der altheidnische Wahnwitz, daß man
sich die Gunst der Götter durch Blutopfer erwerbe,
oder war es Mißbegriff der christlichen Versöhnungs-
lehre, was diese Meinung von der Wunderkraft des
Blutes, von einer Heiligung durch Blut, von diesem
Glauben an Blut hervorgebracht hat: genug, er war
herrschend, und in Liedern und Sagen lebt die schau-
erliche Kunde, wie man Kinder oder Tiere geschlach-
tet, um mit ihrem Blute große Bauwerke zu festigen.
Heutzutage ist die Menschheit verständiger; wir glau-
ben nicht mehr an die Wunderkraft des Blutes, weder
an das Blut eines Edelmanns noch eines Gottes, und
die große Menge glaubt nur an Geld. Besteht nun die
heutige Religion in der Geldwerdung Gottes oder in
der Gottwerdung des Geldes? Genug, die Leute glau-
ben nur an Geld; nur dem gemünzten Metall, den sil-
bernen und goldenen Hostien, schreiben sie eine
Wunderkraft zu; das Geld ist der Anfang und das
Ende aller ihrer Werke; und wenn sie ein Gebäude zu
errichten haben, so tragen sie große Sorge, daß unter
den Grundstein einige Geldstücke, eine Kapsel mit
allerlei Münzen, gelegt werden.
Ja, wie im Mittelalter alles, die einzelnen Bauwer-
ke ebenso wie das ganze Staats- und Kirchengebäude,
auf den Glauben an Blut beruhte, so beruhen alle un-
sere heutigen Institutionen auf den Glauben an Geld,
auf wirkliches Geld. Jenes war Aberglauben, doch
dieses ist der bare Egoismus. Ersteren zerstörte die
Vernunft, letzteren wird das Gefühl zerstören. Die
Grundlage der menschlichen Gesellschaft wird einst
eine bessere sein, und alle großen Herzen Europas
sind schmerzhaft beschäftigt, diese neue bessere Basis
zu entdecken.
Vielleicht war es der Mißmut ob dem jetzigen
Geldglauben, der Widerwille gegen den Egoismus,
den sie überall hervorgrinsen sahen, was in Deutsch-
land einige Dichter von der romantischen Schule, die
es ehrlich meinten, zuerst bewogen hatte, aus der Ge-
genwart in die Vergangenheit zurückzuflüchten und
die Restauration des Mittelalters zu befördern. Dieses
mag namentlich bei denjenigen der Fall sein, die nicht
die eigentliche Koterie bildeten. Zu dieser letztern ge-
hörten die Schriftsteller, die ich im zweiten Buche be-
sonders abgehandelt, nachdem ich im ersten Buche
die romantische Schule im allgemeinen besprochen.
Nur wegen dieser literarhistorischen Bedeutung, nicht
wegen ihres inneren Wertes, habe ich von diesen Ko-
teriegenossen, die in Gemeinschaft wirkten, zuerst
und ganz umständlich geredet. Man wird mich daher
nicht mißverstehen, wenn von Zacharias Werner, von
dem Baron de la Motte Fouqué und von Herren Lud-
wig Uhland eine spätere und kärglichere Meldung ge-
schieht. Diese drei Schriftsteller verdienten vielmehr
ihrem Werte nach weit ausführlicher besprochen und
gerühmt zu werden. Denn Zacharias Werner war der
einzige Dramatiker der Schule, dessen Stücke auf der
Bühne aufgeführt und vom Parterre applaudiert wur-
den. Der Herr Baron de la Motte Fouqué war der ein-
zige epische Dichter der Schule, dessen Romane das
ganze Publikum ansprachen. Und Herr Ludwig Uh-
land ist der einzige Lyriker der Schule, dessen Lieder
in die Herzen der großen Menge gedrungen sind und
noch jetzt im Munde der Menschen leben.
In dieser Hinsicht verdienen die erwähnten drei
Dichter einen Vorzug vor Herren Ludwig Tieck, den
ich als einen der besten Schriftsteller der Schule ge-
priesen habe. Herr Tieck hat nämlich, obgleich das
Theater sein Steckenpferd ist und er von Kind auf bis
heute sich mit dem Komödiantentum und mit den
kleinsten Details desselben beschäftigt hat, doch
immer darauf verzichten müssen, jemals von der
Bühne herab die Menschen zu bewegen, wie es dem
Zacharias Werner gelungen ist. Herr Tieck hat sich
immer ein Hauspublikum halten müssen, dem er sel-
ber seine Stücke vordeklamierte und auf deren Hände-
klatschen ganz sicher zu rechnen war. Während Herr
de la Motte Fouqué von der Herzogin bis zur Wä-
scherin mit gleicher Lust gelesen wurde und als die
Sonne der Leihbibliotheken strahlte, war Herr Tieck
nur die Astrallampe der Teegesellschaften, die, ange-
glänzt von seiner Poesie, bei der Vorlesung seiner
Novellen ganz seelenruhig ihren Tee verschluckten.
Die Kraft dieser Poesie mußte immer desto mehr her-
vortreten, je mehr sie mit der Schwäche des Tees kon-
trastierte, und in Berlin, wo man den mattesten Tee
trinkt, mußte Herr Tieck als einer der kräftigsten
Dichter erscheinen. Während die Lieder unseres vor-
trefflichen Uhland in Wald und Tal erschollen und
noch jetzt von wilden Studenten gebrüllt und von zar-
ten Jungfrauen gelispelt werden, ist kein einziges Lied
des Herren Tieck in unsere Seelen gedrungen, kein
einziges Lied des Herren Ludwig Tieck ist in unserem
Ohre geblieben, das große Publikum kennt kein einzi-
ges Lied dieses großen Lyrikers.
Zacharias Werner ist geboren zu Königsberg in
Preußen, den 18. November 1768. Seine Verbindung
mit den Schlegeln war keine persönliche, sondern nur
eine sympathetische. Er begriff in der Ferne, was sie
wollten, und tat sein möglichstes, in ihrem Sinne zu
dichten. Aber er konnte sich für die Restauration des
Mittelalters nur einseitig, nämlich nur für die hierar-
chisch katholische Seite desselben, begeistern; die
feudalistische Seite hat sein Gemüt nicht so stark in
Bewegung gesetzt. Hierüber hat uns sein Landsmann
Th. A. Hoffmann, in den »Serapionsbrüdern«, einen
merkwürdigen Aufschluß erteilt. Er erzählt nämlich,
daß Werners Mutter gemütskrank gewesen und wäh-
rend ihrer Schwangerschaft sich eingebildet, daß sie
die Muttergottes sei und den Heiland zur Welt bringe.
Der Geist Werners trug nun, sein ganzes Leben hin-
durch, das Muttermal dieses religiösen Wahnsinns.
Die entsetzlichste Religionschwärmerei finden wir in
allen seinen Dichtungen. Eine einzige, »Der
vierundzwanzigste Februar«, ist frei davon und gehört
zu den kostbarsten Erzeugnissen unserer dramati-
schen Literatur. Sie hat, mehr als Werners übrige
Stücke, auf dem Theater den größten Enthusiasmus
hervorgebracht. Seine anderen dramatischen Werke
haben den großen Haufen weniger angesprochen, weil
es dem Dichter, bei aller drastischen Kraft, fast gänz-
lich an Kenntnis der Theaterverhältnisse fehlte.
Der Biograph Hoffmanns, der Herr Kriminalrat
Hitzig, hat auch Werners Leben beschrieben. Eine ge-
wissenhafte Arbeit, für den Psychologen ebenso inter-
essant wie für den Literarhistoriker. Wie man mir
jüngst erzählt, war Werner auch einige Zeit hier in
Paris, wo er an den peripatetischen Philosophinnen,
die damals des Abends, im brillantesten Putz, die Ga-
lerien des Palais Royal durchwandelten, sein besonde-
res Wohlgefallen fand. Sie liefen immer hinter ihm
drein und neckten ihn und lachten über seinen komi-
schen Anzug und seine noch komischeren Manieren.
Das war die gute alte Zeit! Ach, wie das Palais Royal,
so hat sich auch Zacharias Werner späterhin sehr ver-
ändert; die letzte Lampe der Lust erlosch im Gemüte
des vertrübten Mannes, zu Wien trat er in den Orden
der Liguorianer, und in der Sankt-Stephans-Kirche
predigte er dort über die Nichtigkeit aller irdischen
Dinge. Er hatte ausgefunden, daß alles auf Erden eitel
sei. Der Gürtel der Venus, behauptete er jetzt, sei nur
eine häßliche Schlange, und die erhabene Juno trage
unter ihrem weißen Gewande ein Paar hirschlederne,
nicht sehr reinliche Postillionshosen. Der Pater Za-
charias kasteite sich jetzt und fastete und eiferte gegen
unsere verstockte Weltlust. »Verflucht ist das
Fleisch!« schrie er so laut und mit so grell ostpreußi-
schem Akzent, daß die Heiligenbilder in Sankt Ste-
phan erzitterten und die Wiener Grisetten allerliebst
lächelten. Außer dieser wichtigen Neuigkeit erzählte
er den Leuten beständig, daß er ein großer Sünder sei.
Genau betrachtet, ist sich der Mann immer konse-
quent geblieben, nur daß er früherhin bloß besang,
was er späterhin wirklich übte. Die Helden seiner
meisten Dramen sind schon mönchisch entsagende
Liebende, asketische Wollüstlinge, die in der Absti-
nenz eine erhöhte Wonne entdeckt haben, die durch
die Marter des Fleisches ihre Genußsucht spirituali-
sieren, die in den Tiefen der religiösen Mystik die
schauerlichsten Seligkeiten suchen, heilige Roués.
Kurz vor seinem Tode war die Freude an dramati-
scher Gestaltung noch einmal in Wernern erwacht,
und er schrieb noch eine Tragödie, betitelt »Die Mut-
ter der Makkabäer«. Hier galt es aber nicht, den pro-
fanen Lebensernst mit romantischen Späßen zu festo-
nieren; zu dem heiligen Stoff wählte er auch einen
kirchlich breitgezogenen Ton, die Rhythmen sind fei-
erlich gemessen wie Glockengeläute, bewegen sich
langsam wie eine Karfreitagsprozession, und es ist
eine palästinasche Legende in griechischer Tragödien-
form. Das Stück fand wenig Beifall bei den Menschen
hier unten; ob es den Engeln im Himmel besser gefiel,
das weiß ich nicht.
Aber der Pater Zacharias starb bald darauf, Anfang
des Jahres 1823, nachdem er über vierundfünfzig Jahr
auf dieser sündigen Erde gewandelt.
Wir lassen ihn ruhen, den Toten, und wenden uns
zu dem zweiten Dichter des romantischen Triumvi-
rats. Es ist der vortreffliche Freiherr Friedrich de la
Motte Fouqué, geboren in der Mark Brandenburg im
Jahr 1777 und zum Professor ernannt an der Universi-
tät Halle im Jahr 1833. Früher stand er als Major im
königl. preuß. Militärdienst und gehört zu den San-
geshelden oder Heldensängern, deren Leier und
Schwert während dem sogenannten Freiheitskriege am
lautesten erklang. Sein Lorbeer ist von echter Art. Er
ist ein wahrer Dichter, und die Weihe der Poesie ruht
auf seinem Haupte. Wenigen Schriftstellern ward so
allgemeine Huldigung zuteil wie einst unserem vor-
trefflichen Fouqué. Jetzt hat er seine Leser nur noch
unter dem Publikum der Leihbibliotheken. Aber die-
ses Publikum ist immer groß genug, und Herr Fouqué
kann sich rühmen, daß er der einzige von der romanti-
schen Schule ist, an dessen Schriften auch die niede-
ren Klassen Geschmack gefunden. Während man in
den ästhetischen Teezirkeln Berlins über den herun-
tergekommenen Ritter die Nase rümpfte, fand ich, in
einer kleinen Harzstadt, ein wunderschönes Mädchen,
welches von Fouqué mit entzückender Begeisterung
sprach und errötend gestand, daß sie gern ein Jahr
ihres Lebens dafür hingäbe, wenn sie nur einmal den
Verfasser der »Undine« küssen könnte. - Und dieses
Mädchen hatte die schönsten Lippen, die ich jemals
gesehen.
Aber welch ein wunderliebliches Gedicht ist die
»Undine«! Dieses Gedicht ist selbst ein Kuß; der Ge-
nius der Poesie küßte den schlafenden Frühling, und
dieser schlug lächelnd die Augen auf, und alle Rosen
dufteten, und alle Nachtigallen sangen, und was die
Rosen dufteten und die Nachtigallen sangen, das hat
unser vortrefflicher Fouqué in Worte gekleidet, und er
nannte es »Undine«.
Ich weiß nicht, ob diese Novelle ins Französische
übersetzt worden. Es ist die Geschichte von der schö-
nen Wasserfee, die keine Seele hat, die nur dadurch,
daß sie sich in einen Ritter verliebt, eine Seele be-
kömmt... aber, ach! mit dieser Seele bekömmt sie
auch unsere menschlichen Schmerzen, ihr ritterlicher
Gemahl wird treulos, und sie küßt ihn tot. Denn der
Tod ist in diesem Buche ebenfalls nur ein Kuß.
Diese Undine könnte man als die Muse der Fou-
quéschen Poesie betrachten. Obgleich sie unendlich
schön ist, obgleich sie ebenso leidet wie wir und irdi-
scher Kummer sie hinlänglich belastet, so ist sie doch
kein eigentlich menschliches Wesen. Unsere Zeit aber
stößt alle solche Luft- und Wassergebilde von sich,
selbst die schönsten, sie verlangt wirkliche Gestalten
des Lebens, und am allerwenigsten verlangt sie
Nixen, die in adligen Rittern verliebt sind. Das war
es. Die retrograde Richtung, das beständige Loblied
auf den Geburtadel, die unaufhörliche Verherrlichung
des alten Feudalwesens, die ewige Rittertümelei miß-
behagte am Ende den bürgerlich Gebildeten im deut-
schen Publikum, und man wandte sich ab von dem
unzeitgemäßen Sänger. In der Tat, dieser beständige
Singsang von Harnischen, Turnierrossen, Burgfrauen,
ehrsamen Zunftmeistern, Zwergen, Knappen, Schloß-
kapellen, Minne und Glaube, und wie der mittelalter-
liche Trödel sonst heißt, wurde uns endlich lästig; und
als der ingeniose Hidalgo Friedrich de la Motte Fou-
qué sich immer tiefer in seine Ritterbücher versenkte
und im Traume der Vergangenheit das Verständnis
der Gegenwart einbüßte, da mußten sogar seine be-
sten Freunde sich kopfschüttelnd von ihm abwenden.
Die Werke, die er in dieser späteren Zeit schrieb,
sind ungenießbar. Die Gebrechen seiner früheren
Schriften sind hier aufs höchste gesteigert. Seine Rit-
tergestalten bestehen nur aus Eisen und Gemüt; sie
haben weder Fleisch noch Vernunft. Seine
Frauenbilder sind nur Bilder oder vielmehr nur Pup-
pen, deren goldne Locken gar zierlich herabwallen
über die anmutigen Blumengesichter. Wie die Werke
von Walter Scott mahnen auch die Fouquéschen Rit-
terromane an die gewirkten Tapeten, die wir Gobelins
nennen und die durch reiche Gestaltung und Farben-
pracht mehr unser Auge als unsere Seele ergötzen.
Das sind Ritterfeste, Schäferspiele, Zweikämpfe, alte
Trachten, alles recht hübsch nebeneinander, abenteu-
erlich ohne tieferen Sinn, bunte Oberflächlichkeit. Bei
den Nachahmern Fouqués wie bei den Nachahmern
des Walter Scott ist diese Manier, statt der inneren
Natur der Menschen und Dinge nur ihre äußere Er-
scheinung und das Kostüm zu schildern, noch trübse-
liger ausgebildet. Diese flache Art und leichte Weise
grassiert heutigentags in Deutschland ebensogut wie
in England und Frankreich. Wenn auch die Darstel-
lungen nicht mehr die Ritterzeit verherrlichen, son-
dern auch unsere moderne Zustände betreffen, so ist
es doch noch immer die vorige Manier, die statt der
Wesenheit der Erscheinung nur das Zufällige dersel-
ben auffaßt. Statt Menschenkenntnis bekunden unsere
neueren Romanciers bloß Kleiderkenntnis, und sie
fußen vielleicht auf dem Sprüchwort »Kleider machen
Leute«. Wie anders die älteren Romanenschreiber, be-
sonders bei den Engländern. Richardson gibt uns die
Anatomie der Empfindungen. Goldsmith behandelt
pragmatisch die Herzensaktionen seiner Helden. Der
Verfasser des »Tristram Shandy« zeigt uns die ver-
borgensten Tiefen der Seele; er öffnet eine Luke der
Seele, erlaubt uns einen Blick in ihre Abgründe, Para-
diese und Schmutzwinkel und läßt gleich die Gardine
davor wieder fallen. Wir haben von vorn in das selt-
same Theater hineingeschaut, Beleuchtung und Per-
spektive hat ihre Wirkung nicht verfehlt, und indem
wir das Unendliche geschaut zu haben meinen, ist
unser Gefühl unendlich geworden, poetisch. Was
Fielding betrifft, so führt er uns gleich hinter die Ku-
lissen, er zeigt uns die falsche Schminke auf allen Ge-
fühlen, die plumpesten Springfedern der zartesten
Handlungen, das Kolophonium, das nachher als Be-
geisterung aufblitzen wird, die Pauke, worauf noch
friedlich der Klopfer ruht, der späterhin den gewaltig-
sten Donner der Leidenschaft daraus hervortrommeln
wird; kurz, er zeigt uns jene ganze innere Maschine-
rie, die große Lüge, wodurch uns die Menschen an-
ders erscheinen, als sie wirklich sind, und wodurch
alle freudige Realität des Lebens verlorengeht. Doch
wozu als Beispiel die Engländer wählen, da unser
Goethe, in seinem »Wilhelm Meister«, das beste Mu-
ster eines Romans geliefert hat.
Die Zahl der Fouquéschen Romane ist Legion; er
ist einer der fruchtbarsten Schriftsteller. »Der Zauber-
ring« und »Thiodolf der Isländer« verdienen
besonders rühmend angeführt zu werden. Seine metri-
schen Dramen, die nicht für die Bühne bestimmt sind,
enthalten große Schönheiten. Besonders »Sigurd der
Schlangentöter« ist ein kühnes Werk, worin die alt-
skandinavische Heldensage mit all ihrem Riesen- und
Zauberwesen sich abspiegelt. Die Hauptperson des
Dramas, der Sigurd, ist eine ungeheure Gestalt. Er ist
stark wie die Felsen von Norweg und ungestüm wie
das Meer, das sie umrauscht. Er hat soviel Mut wie
hundert Löwen und soviel Verstand wie zwei Esel.
Herr Fouqué hat auch Lieder gedichtet. Sie sind die
Lieblichkeit selbst. Sie sind so leicht, so bunt, so
glänzend, so heiter dahinflatternd; es sind süße lyri-
sche Kolibri.
Der eigentliche Liederdichter aber ist Herr Ludwig
Uhland, der, geboren zu Tübingen im Jahr 1787, jetzt
als Advokat in Stuttgart lebt. Dieser Schriftsteller hat
einen Band Gedichte, zwei Tragödien und zwei Ab-
handlungen Über Walther von der Vogelweide und
Über französische Troubadouren geschrieben. Es sind
zwei kleine historische Untersuchungen und zeugen
von fleißigem Studium des Mittelalters. Die Tragödi-
en heißen »Ludwig der Bayer« und »Herzog Ernst
von Schwaben«. Erstere habe ich nicht gelesen; ist
mir auch nicht als die vorzüglichere gerühmt worden.
Die zweite jedoch enthält große Schönheiten und er-
freut durch Adel der Gefühle und Würde der
Gesinnung. Es weht darin ein süßer Hauch der Poe-
sie, wie er in den Stücken, die jetzt auf unserem Thea-
ter soviel Beifall ernten, nimmermehr angetroffen
wird. Deutsche Treue ist das Thema dieses Dramas,
und wir sehen sie hier, stark wie eine Eiche, allen
Stürmen trotzen; deutsche Liebe blüht, kaum bemerk-
bar, in der Ferne, doch ihr Veilchenduft dringt uns um
so rührender ins Herz. Dieses Drama oder vielmehr
dieses Lied enthält Stellen, welche zu den schönsten
Perlen unserer Literatur gehören. Aber das Theaterpu-
blikum hat das Stück dennoch mit Indifferenz aufge-
nommen oder vielmehr abgelehnt. Ich will die guten
Leute des Parterres nicht allzu bitter darob tadeln.
Diese Leute haben bestimmte Bedürfnisse, deren Be-
friedigung sie vom Dichter verlangen. Die Produkte
des Poeten sollen nicht eben den Sympathien seines
eignen Herzens, sondern viel eher dem Begehr des
Publikums entsprechen. Dieses letztere gleicht ganz
dem hungrigen Beduinen in der Wüste, der einen
Sack mit Erbsen gefunden zu haben glaubt und ihn
hastig öffnet; aber ach! es sind nur Perlen. Das Publi-
kum verspeist mit Wonne des Herren Raupachs dürre
Erbsen und Madame Birch-Pfeiffers Saubohnen; Uh-
lands Perlen findet es ungenießbar.
Da die Franzosen höchstwahrscheinlich nicht wis-
sen, wer Madame Birch-Pfeiffer und Herr Raupach
ist, so muß ich hier erwähnen, daß dieses göttliche
Paar, geschwisterlich nebeneinander stehend wie
Apoll und Diana, in den Tempeln unserer dramati-
schen Kunst am meisten verehrt wird. Ja, Herr Rau-
pach ist ebensosehr dem Apoll wie Madame Birch-
Pfeiffer der Diana vergleichbar. Was ihre reale Stel-
lung betrifft, so ist letztere als kaiserl. östreichische
Hofschauspielerin in Wien und ersterer als königl.
preußischer Theaterdichter in Berlin angestellt. Die
Dame hat schon eine Menge Dramen geschrieben,
worin sie selber spielt. Ich kann nicht umhin, hier
einer Erscheinung zu erwähnen, die den Franzosen
fast unglaublich vorkommen wird: eine große Anzahl
unserer Schauspieler sind auch dramatische Dichter
und schreiben sich selbst ihre Stücke. Man sagt, Herr
Ludwig Tieck habe, durch eine unvorsichtige Äuße-
rung, dieses Unglück veranlaßt. In seinen Kritiken be-
merkte er nämlich, daß die Schauspieler in einem
schlechten Stücke immer besser spielen können als in
einem guten Stücke. Fußend auf solchem Axiom, grif-
fen die Komödianten scharenweis zur Feder, schrie-
ben Trauerspiele und Lustspiele die Hülle und Fülle,
und es wurde uns manchmal schwer, zu entscheiden:
dichtete der eitle Komödiant sein Stück absichtlich
schlecht, um gut darin zu spielen? oder spielte er
schlecht in so einem selbstverfertigten Stücke, um uns
glauben zu machen, das Stück sei gut? Der Schau-
spieler und der Dichter, die bisher in einer Art von
kollegialischem Verhältnisse standen (ungefähr wie
der Scharfrichter und der arme Sünder), traten jetzt in
offne Feindschaft. Die Schauspieler suchten die Poe-
ten ganz vom Theater zu verdrängen, unter dem Vor-
geben, sie verständen nichts von den Anforderungen
der Bretterwelt, verständen nichts von drastischen Ef-
fekten und Theatercoups, wie nur der Schauspieler sie
in der Praxis erlernt und sie in seinen Stücken anzu-
bringen weiß. Die Komödianten oder, wie sie sich am
liebsten nennen, die Künstler spielten daher vorzugs-
weise in ihren eignen Stücken oder wenigstens in
Stücken, die einer der Ihrigen, ein Künstler, verfertigt
hatte. In der Tat, diese entsprachen ganz ihren Be-
dürfnissen; hier fanden sie ihre Lieblingskostüme,
ihre fleischfarbige Trikotpoesie, ihre applaudierten
Abgänge, ihre herkömmlichen Grimassen, ihre Flitter-
goldredensarten, ihr ganzes affektiertes Kunstzigeu-
nertum: eine Sprache, die nur auf den Brettern gespro-
chen wird, Blumen, die nur diesem erlogenen Boden
entsprossen, Früchte, die nur am Lichte der Orche-
sterlampe gereift, eine Natur, worin nicht der Odem
Gottes, sondern des Souffleurs weht, kulissenerschüt-
ternde Tobsucht, sanfte Wehmut mit kitzlender Flö-
tenbegleitung, geschminkte Unschuld mit Lasterver-
senkungen, Monatsgagengefühle, Trompetentusch
usw.
Solchermaßen haben die Schauspieler in
Deutschland sich von den Poeten und auch von der
Poesie selbst emanzipiert. Nur der Mittelmäßigkeit
erlaubten sie noch, sich auf ihrem Gebiete zu produ-
zieren. Aber sie geben genau acht, daß es kein wahrer
Dichter ist, der, im Mantel der Mittelmäßigkeit, sich
bei ihnen eindrängt. Wieviel Prüfungen hat Herr Rau-
pach überstehen müssen, ehe es ihm gelang, auf dem
Theater Fuß zu fassen! Und noch jetzt haben sie ein
waches Auge auf ihn, und wenn er mal ein Stück
schreibt, das nicht ganz und gar schlecht ist, so muß
er, aus Furcht vor dem Ostrazismus der Komödianten,
gleich wieder ein Dutzend der allermiserabelsten
Machwerke zutage fördern. Ihr wundert euch über das
Wort »ein Dutzend«? Es ist gar keine Übertreibung
von mir. Dieser Mann kann wirklich jedes Jahr ein
Dutzend Dramen schreiben, und man bewundert diese
Produktivität. Aber »es ist keine Hexerei«, sagt Jant-
jen von Amsterdam, der berühmte Taschenspieler,
wenn wir seine Kunststücke anstaunen, »es ist keine
Hexerei, sondern nur die Geschwindigkeit«.
Daß es Herren Raupach gelungen ist, auf der deut-
schen Bühne emporzukommen, hat aber noch einen
besondern Grund. Dieser Schriftsteller, von Geburt
ein Deutscher, hat lange Zeit in Rußland gelebt, dort
erwarb er seine Bildung, und es war die moskowiti-
sche Muse, die ihn eingeweiht in die Poesie. Diese
Muse, die eingezobelte Schöne mit der holdselig
aufgestülpten Nase, reichte unserem Dichter die volle
Branntweinschale der Begeisterung, hing um seine
Schulter den Köcher mit kirgisischen Witzpfeilen und
gab in seine Hände die tragische Knute. Als er zuerst
auf unsere Herzen damit losschlug, wie erschütterte er
uns! Das Befremdliche der ganzen Erscheinung mußte
uns nicht wenig in Verwunderung setzen. Der Mann
gefiel uns gewiß nicht im zivilisierten Deutschland;
aber sein sarmatisch ungetümes Wesen, eine täppi-
sche Behendigkeit, ein gewisses brummendes Zugrei-
fen in seinem Verfahren verblüffte das Publikum. Es
war jedenfalls ein origineller Anblick, wenn Herr
Raupach auf seinem slawischen Pegasus, dem kleinen
Klepper, über die Steppen der Poesie dahinjagte und
unter dem Sattel, nach echter Baschkirenweise, seine
dramatische Stoffe gar ritt. Dieses fand Beifall in Ber-
lin, wo, wie ihr wißt, alles Russische gut aufgenom-
men wird; dem Herren Raupach gelang es, dort Fuß
zu fassen; er wußte sich mit den Schauspielern zu ver-
ständigen, und seit einiger Zeit, wie schon gesagt,
wird Raupach-Apollo neben Diana-Birch-Pfeiffer
göttlich verehrt in dem Tempel der dramatischen
Kunst. Dreißig Taler bekömmt er für jeden Akt, den
er schreibt, und er schreibt lauter Stücke von sechs
Akten, indem er dem ersten Akt den Titel »Vorspiel«
gibt. Alle mögliche Stoffe hat er schon unter den Sat-
tel seines Pegasus geschoben und gar geritten. Kein
Held ist sicher vor solchem tragischen Schicksal.
Sogar den Siegfried, den Drachentöter, hat er unterbe-
kommen. Die Muse der deutschen Geschichte ist in
Verzweiflung. Einer Niobe gleich, betrachtet sie, mit
bleichem Schmerze, die edlen Kinder, die Raupach-
Apollo so entsetzlich bearbeitet hat. O Jupiter! er
wagte es sogar, Hand zu legen an die Hohenstaufen,
unsere alten geliebten Schwabenkaiser! Es war nicht
genug, daß Herr Friedrich Raumer sie geschichtlich
eingeschlachtet, jetzt kommt gar Herr Raupach, der
sie fürs Theater zurichtet. Raumersche Holzfiguren
überzieht er mit seiner ledernen Poesie, mit seinen
russischen Juchten, und der Anblick solcher Karikatu-
ren und ihr Mißduft verleidet uns am Ende noch die
Erinnerung an die schönsten und edelsten Kaiser des
deutschen Vaterlandes. Und die Polizei hemmt nicht
solchen Frevel? Wenn sie nicht gar selbst die Hand
im Spiel hat. Neue, emporstrebende Regentenhäuser
lieben nicht bei dem Volke die Erinnerung an die
alten Kaiserstämme, an deren Stelle sie gern treten
möchten. Nicht bei Immermann, nicht bei Grabbe,
nicht einmal bei Herren Uechtritz, sondern bei dem
Herren Raupach wird die Berliner Theaterintendanz
einen Barbarossa bestellen. Aber streng bleibt es Her-
ren Raupach untersagt, einen Hohenzollern unter den
Sattel zu stecken; sollte es ihm einmal danach gelü-
sten, so würde man ihm bald die Hausvogtei als
Helikon anweisen.
Die Ideenassoziation, die durch Kontraste entsteht,
ist schuld daran, daß ich, indem ich von Herren Uh-
land reden wollte, plötzlich auf Herren Raupach und
Madame Birch-Pfeiffer geriet. Aber obgleich dieses
göttliche Paar, unsere Theater-Diana noch viel weni-
ger als unser Theater-Apoll, nicht zur eigentlichen Li-
teratur gehört, so mußte ich doch einmal von ihnen
reden, weil sie die jetzige Bretterwelt repräsentieren.
Auf jeden Fall wer ich es unseren wahren Poeten
schuldig, mit wenigen Worten in diesem Buche zu er-
wähnen, von welcher Natur die Leute sind, die bei
uns die Herrschaft der Bühne usurpieren.
V
Ich bin in diesem Augenblick in einer sonderbaren
Verlegenheit. Ich darf die Gedichtesammlung des
Herrn Ludwig Uhland nicht unbesprochen lassen, und
dennoch befinde ich mich in einer Stimmung, die kei-
neswegs solcher Besprechung günstig ist. Schweigen
könnte hier als Feigheit oder gar als Perfidie erschei-
nen, und ehrlich offne Worte könnten als Mangel an
Nächstenliebe gedeutet werden. In der Tat, die Sippen
und Magen der Uhlandschen Muse und die Hintersa-
ssen seines Ruhmes werde ich mit der Begeisterung,
die mir heute zu Gebote stellt, schwerlich befriedigen.
Aber ich bitte euch, Zeit und Ort, wo ich dieses nie-
derschreibe, gehörig zu ermessen. Vor zwanzig Jah-
ren, ich war ein Knabe, ja damals, mit welcher über-
strömenden Begeisterung hätte ich den vortrefflichen
Uhland zu feiern vermocht! Damals empfand ich
seine Vortrefflichkeit vielleicht besser als jetzt; er
stand mir näher an Empfindung und Denkvermögen.
Aber so vieles hat sich seitdem ereignet! Was mir so
herrlich dünkte, jenes chevalereske und katholische
Wesen, jene Ritter, die im adligen Turnei sich hauen
und stechen, jene sanften Knappen und sittigen Edel-
frauen, jene Nordlandshelden und Minnesänger, jene
Mönche und Nonnen, jene Vätergrüfte mit Ahnungs-
schauern, jene blassen Entsagungsgefühle mit
Glockengeläute und das ewige Wehmutgewimmer,
wie bitter ward es mir seitdem verleidet! Ja, einst war
es anders. Wie oft, auf den Trümmern des alten
Schlosses zu Düsseldorf am Rhein, saß ich und dekla-
mierte vor mich hin das schönste aller Uhlandschen
Lieder:
Der schöne Schäfer zog so nah
Vorüber an dem Königsschloß;
Die Jungfrau von der Zinne sah,
Da war ihr Sehnen groß.
Sie rief ihm zu ein süßes Wort:
»O dürft ich gehn hinab zu dir!
Wie glänzen weiß die Lämmer dort,
Wie rot die Blümlein hier!«
Der Jüngling ihr entgegenbot:
»O kämest du herab zu mir!
Wie glänzen so die Wänglein rot,
Wie weiß die Arme dir!«
Und als er nun mit stillem Weh
In jeder Früh, vorübertrieb:
Da sah er hin, bis in der Höh'
Erschien sein holdes Lieb.
Dann rief er freundlich ihr hinauf:
»Willkommen, Königstöchterlein!«
Ihr süßes Wort ertönte drauf:
»Viel Dank, du Schäfer mein!«
Der Winter floh, der Lenz erschien,
Die Blümlein blühten reich umher,
Der Schäfer tät zum Schlosse ziehn,
Doch sie erschien nicht mehr.
Er lief hinauf so klagevoll:
»Willkommen, Königstöchterlein!«
Ein Geisterlaut herunterscholl:
»Ade, du Schäfer mein!«
Wenn ich nun auf den Ruinen des alten Schlosses
saß und dieses Lied deklamierte, hörte ich auch wohl
zuweilen, wie die Nixen im Rhein, der dort vor-
beifließt, meine Worte nachäfften, und das seufzte
und das stöhnte aus den Fluten mit komischem Pa-
thos:
»Ein Geisterlaut herunterscholl,
Ade, du Schäfer mein!«
Ich ließ mich aber nicht stören von solchen Necke-
reien der Wasserfrauen, selbst wenn sie bei den
schönsten Stellen in Uhlands Gedichten ironisch ki-
cherten. Ich bezog solches Gekicher damals beschei-
dentlich auf mich selbst, namentlich gegen Abend,
wenn die Dunkelheit heranbrach und ich mit etwas er-
hobener Stimme deklamierte, um dadurch die geheim-
nisvollen Schauer zu überwinden, die mir die alten
Schloßtrümmer einflößten. Es ging nämlich die Sage,
daß dort des Nachts eine Dame ohne Kopf umher-
wandle. Ich glaubte manchmal ihre lange seidne
Schleppe vorbeirauschen zu hören, und mein Herz
pochte... Das war die Zeit und der Ort, wo ich für die
»Gedichte von Ludwig Uhland« begeistert war.
Dasselbe Buch habe ich wieder in Händen, aber
zwanzig Jahre sind seitdem verflossen, ich habe un-
terdessen viel gehört und gesehen, gar viel, ich glaube
nicht mehr an Menschen ohne Kopf, und der alte
Spuk wirkt nicht mehr auf mein Gemüt. Das Haus,
worin ich eben sitze und lese, liegt auf dem Boulevard
Montmartre; und dort branden die wildesten Wogen
des Tages, dort kreischen die lautesten Stimmen der
modernen Zeit; das lacht, das grollt, das trommelt; im
Sturmschritt schreitet vorüber die Nationalgarde; und
jeder spricht französisch. - Ist das nun der Ort, wo
man Uhlands Gedichte lesen kann? Dreimal habe ich
den Schluß des oberwähnten Gedichtes mir wieder
vordeklamiert, aber ich empfinde nicht mehr das un-
nennbare Weh, das mich einst ergriff, wenn das Kö-
nigstöchterlein stirbt und der schöne Schäfer so klage-
voll zu ihr hinaufrief: »Willkommen, Königstöchter-
lein!«
»Ein Geisterlaut herunterscholl,
Ade! du Schäfer mein!«
Vielleicht auch bin ich für solche Gedichte etwas
kühl geworden, seitdem ich die Erfahrung gemacht,
daß es eine weit schmerzlichere Liebe gibt als die,
welche den Besitz des geliebten Gegenstandes nie-
mals erlangt oder ihn durch den Tod verliert. In der
Tat, schmerzlicher ist es, wenn der geliebte Gegen-
stand Tag und Nacht in unseren Armen liegt, aber
durch beständigen Widerspruch und blödsinnige Ka-
pricen uns Tag und Nacht verleidet, dergestalt, daß
wir das, was unser Herz am meisten liebt, von unse-
rem Herzen fortstoßen und wir selber das verflucht
geliebte Weib nach dem Postwagen bringen und fort-
schicken müssen:
»Ade, du Königstöchterlein!«
Ja, schmerzlicher als der Verlust durch den Tod ist
der Verlust durch das Leben, z.B. wenn die Geliebte,
aus wahnsinniger Leichtfertigkeit, sich von uns ab-
wendet, wenn sie durchaus auf einen Ball gehen will,
wohin kein ordentlicher Mensch sie begleiten kann,
und wenn sie dann, ganz aberwitzig bunt geputzt und
trotzig frisiert, dem ersten besten Lump den Arm
reicht und uns den Rücken kehrt...
»Ade, du Schäfer mein!«
Vielleicht erging es Herren Uhland selber nicht
besser als uns. Auch seine Stimmung muß sich seit-
dem etwas verändert haben. Mit g'ringen Ausnahmen
hat er seit zwanzig Jahren keine neue Gedichte zu
Markte gebracht. Ich glaube nicht, daß dieses schöne
Dichtergemüt so kärglich von der Natur begabt gewe-
sen und nur einen einzigen Frühling in sich trug.
Nein, ich erkläre mir das Verstummen Uhlands viel-
mehr aus dem Widerspruch, worin die Neigungen sei-
ner Muse mit den Ansprüchen seiner politischen Stel-
lung geraten sind. Der elegische Dichter, der die ka-
tholisch feudalistische Vergangenheit in so schönen
Balladen und Romanzen zu besingen wußte, der Ossi-
an des Mittelalters, wurde seitdem, in der württember-
gischen Ständeversammlung, ein eifriger Vertreter der
Volksrechte, ein kühner Sprecher für Bürgergleichheit
und Geistesfreiheit. Daß diese demokratische und
protestantische Gesinnung bei ihm echt und lauter ist,
bewies Herr Uhland durch die großen persönlichen
Opfer, die er ihr brachte; hatte er einst den Dichterlor-
beer errungen, so erwarb er auch jetzt den Eichen
Franz der Bürgertugend. Aber eben weil er es mit der
neuen Zeit so ehrlich meinte, konnte er das alte Lied
von der alten Zeit nicht mehr mit der vorigen Begei-
sterung weitersingen; und da sein Pegasus nur ein Rit-
terroß war, das gern in die Vergangenheit zurücktrab-
te, aber gleich stätig wurde, wenn es vorwärts sollte
in das moderne Leben, da ist der wackere Uhland lä-
chelnd abgestiegen, ließ ruhig absatteln und den un-
fügsamen Gaul nach dem Stall bringen. Dort befindet
er sich noch bis auf heutigen Tag, und wie sein Kolle-
ge, das Roß Bayard, hat er alle möglichen Tugenden
und nur einen einzigen Fehler: er ist tot.
Schärferen Blicken als den meinigen will es nicht
entgangen sein, daß das hohe Ritterroß, mit seinen
bunten Wappendecken und stolzen Federbüschen, nie
recht gepaßt habe zu seinem bürgerlichen Reuter, der
an den Füßen statt Stiefeln mit goldenen Sporen nur
Schuh, mit seidenen Strümpfen und auf dem Haupte
statt eines Helms nur einen Tübinger Doktorhut getra-
gen hat. Sie wollen entdeckt haben, daß Herr Ludwig
Uhland niemals mit seinem Thema ganz übereinstim-
men konnte; daß er die naiven, grauenhaft kräftigen
Töne des Mittelalters nicht eigentlich in idealisierter
Wahrheit wiedergibt, sondern sie vielmehr in eine
kränklich sentimentale Melancholie auflöst; daß er die
starken Klänge der Heldensage und des Volkslieds in
seinem Gemüte gleichsam weichgekocht habe, um sie
genießbar zu machen für das moderne Publikum. Und
in der Tat, wenn man die Frauen der Uhlandschen Ge-
dichte genau betrachtet, so sind es nur schöne Schat-
ten, verkörperter Mondschein, in den Adern Milch, in
den Augen süße Tränen, nämlich Tränen ohne Salz
Vergleicht man die Uhlandschen Ritter mit den Rit-
tern der alten Gesänge, so kommt es uns vor, als be-
ständen sie aus Harnischen von Blech, worin lauter
Blumen stecken, statt Fleisch und Knochen. Die Uh-
landschen Ritter duften daher für zarte Nasen weit
minniglicher als die alten Kämpen, die recht dicke
eiserne Hosen trugen und viel fraßen und noch mehr
soffen.
Aber das soll kein Tadel sein. Herr Uhland wollte
uns keineswegs in wahrhafter Kopei die deutsche
Vergangenheit vor, führen, er wollte uns vielleicht nur
durch ihren Widerschein ergötzen; und er ließ sie
freundlich zurückspiegeln von der dämmernden Flä-
che seines Geistes. Dieses mag seinen Gedichten viel-
leicht einen besondern Reiz verleihen und ihnen die
Liebe vieler sanften und guten Menschen erwerben.
Die Bilder der Vergangenheit üben ihren Zauber
selbst in der mattesten Beschwörung Sogar Männer,
die für die moderne Zeit Partei gefaßt, bewahren
immer eine geheime Sympathie für die Überlieferun-
gen alter Tage; wunderbar berühren uns diese Geister-
stimmen selbst in ihrem schwächsten Nachhall. Und
es ist leicht begreiflich, daß die Balladen und Roman-
zen unseres vortrefflichen Uhlands nicht bloß bei Pa-
trioten von 1813, bei frommen Jünglingen und min-
niglichen Jungfrauen, sondern auch bei manchen Hö-
hergekräftigten und Neudenkenden den schönsten
Beifall finden.
Ich habe bei dem Wort Patrioten die Jahrzahl 1813
hinzugefügt, um sie von den heutigen Vaterlands-
freunden zu unterscheiden, die nicht mehr von den Er-
innerungen des sogenannten Freiheitskrieges zehren.
Jene älteren Patrioten müssen an der Uhlandschen
Muse das süßeste Wohlgefallen finden, da die mei-
sten seiner Gedichte ganz von dem Geiste ihrer Zeit
geschwängert sind, einer Zeit, wo sie selber noch in
Jugendgefühlen und stolzen Hoffnungen schwelgten.
Diese Vorliebe für Uhlands Gedichte überlieferten sie
ihren Nachbetern, und den Jungen auf den Turnplät-
zen ward es einst als Patriotismus angerechnet, wenn
sie sich Uhlands Gedichte anschafften. Sie fanden
darin Lieder, die selbst Max von Schenkendorf und
Herr Ernst Moritz Arndt nicht besser gedichtet hätten.
Und in der Tat, welcher Enkel des biderben Arminius
und der blonden Thusnelda wird nicht befriedigt von
dem Uhlandschen Gedichte:
Vorwärts! fort und immerfort,
Rußland rief das stolze Wort:
Vorwärts!
Preußen hört das stolze Wort,
Hört es gern und hallt es fort:
Vorwärts!
Auf, gewaltiges Österreich!
Vorwärts! tu's den andern gleich!
Vorwärts!
Auf, du altes Sachsenland!
Immer vorwärts, Hand in Hand!
Vorwärts!
Bayern, Hessen, schlaget ein!
Schwaben, Franken, vor zum Rhein!
Vorwärts!
Vorwärts, Holland, Niederland!
Hoch das Schwert in freier Hand!
Vorwärts!
Grüß euch Gott, du Schweizerbund!
Elsaß, Lothringen, Burgund!
Vorwärts!
Vorwärts, Spanien, Engelland!
Reicht den Brüdern bald die Hand!
Vorwärts!
Vorwärts, fort und immerfort!
Guter Wind und naher Port!
Vorwärts!
Vorwärts heißt ein Feldmarschall,
Vorwärts, tapfre Streiter all!
Vorwärts!
Ich wiederhole es, die Leute von 1813 finden in
Herren Uhlands Gedichten den Geist ihrer Zeit aufs
kostbarste aufbewahrt, und nicht bloß den politischen,
sondern auch den moralischen und ästhetischen Geist.
Herr Uhland repräsentiert eine ganze Periode, und er
repräsentiert sie jetzt fast allein, da die anderen Re-
präsentanten derselben in Vergessenheit geraten und
sich wirklich in diesem Schriftsteller alle resümieren.
Der Ton, der in den Uhlandschen Liedern, Balladen
und Romanzen herrscht, war der Ton aller seiner ro-
mantischen Zeitgenossen, und mancher darunter hat,
wo nicht gar Besseres, doch wenigstens ebenso Gutes
geliefert. Und hier ist der Ort, wo ich noch manchen
von der romantischen Schule rühmen kann, der, wie
gesagt, in betreff des Stoffes und der Tonart seiner
Gedichte die sprechendste Ähnlichkeit mit Herren
Uhland bekundet, auch an poetischem Werte ihm
nicht nachzustehen braucht und sich etwa nur durch
mindere Sicherheit in der Form von ihm unterschei-
det. In der Tat, welch ein vortrefflicher Dichter ist der
Freiherr von Eichendorff; die Lieder, die er seinem
Roman »Ahnung und Gegenwart« eingewebt hat, las-
sen sich von den Uhlandschen gar nicht unterschei-
den, und zwar von den besten derselben. Der Unter-
schied besteht vielleicht nur in der grüneren Waldes-
frische und der kristallhafteren Wahrheit der Eichen-
dorffschen Gedichte. Herr Justinus Kerner, der fast
gar nicht bekannt ist, verdient hier ebenfalls eine prei-
sende Erwähnung; auch er dichtete in derselben Ton-
art und Weise die wackersten Lieder; er ist ein Lands-
mann des Herren Uhland. Dasselbe ist der Fall bei
Herrn Gustav Schwab, einem berühmteren Dichter,
der ebenfalls aus den schwäbischen Gauen hervorge-
blüht und uns noch jährlich mit hübschen und duften-
den Liedern erquickt. Besonderes Talent besitzt er für
die Ballade, und er hat die heimischen Sagen in dieser
Form aufs erfreusamste besungen. Wilhelm Müller,
den uns der Tod in seiner heitersten Jugendfülle ent-
rissen, muß hier ebenfalls erwähnt werden. In der
Nachbildung des deutschen Volkslieds klingt er ganz
zusammen mit Herren Uhland; mich will es sogar be-
dünken, als sei er in solchem Gebiete manchmal
glücklicher und überträfe ihn an Natürlichkeit. Er er-
kannte tiefer den Geist der alten Liedesformen und
brauchte sie daher nicht äußerlich nachzuahmen; wir
finden daher bei ihm ein freieres Handhaben der
Übergänge und ein verständiges Vermeiden aller ver-
alteten Wendungen und Ausdrücke. Den verstorbenen
Wetzel, der jetzt vergessen und verschollen ist, muß
ich ebenfalls hier in Erinnerung bringen; auch er ist
ein Wahlverwandter unseres vortrefflichen Uhlands,
und in einigen Liedern, die ich von ihm kenne, über-
trifft er ihn an Süße und hinschmelzender Innigkeit.
Diese Lieder, halb Blume, halb Schmetterling,
verdufteten und verflatterten in einem der ältern Jahr-
gänge von Brockhaus' »Urania«. Daß Herr Clemens
Brentano seine meisten Lieder in derselben Tonart
und Gefühlsweise wie Herr Uhland gedichtet hat, ver-
steht sich von selbst; sie schöpften beide aus dersel-
ben Quelle, dem Volksgesange, und bieten uns den-
selben Trank; nur die Trinkschale, die Form, ist bei
Herren Uhland geründeter. Von Adelbert von Cha-
misso darf ich hier eigentlich nicht reden; obgleich
Zeitgenosse der romantischen Schule, an deren Bewe-
gungen er teilnahm, hat doch das Herz dieses Mannes
sich in der letzten Zeit so wunderbar verjüngt, daß er
in ganz neue Tonarten überging, sich als einen der ei-
gentümlichsten und bedeutendsten modernen Dichter
geltend machte und weit mehr dem jungen als dem
alten Deutschland angehört. Aber in den Liedern sei-
ner früheren Periode weht derselbe Odem, der uns
auch aus den Uhlandschen Gedichten entgegenströmt;
derselbe Klang, dieselbe Farbe, derselbe Duft, diesel-
be Wehmut, dieselbe Träne... Chamissos Tränen sind
vielleicht rührender, weil sie, gleich einem Quell, der
aus einem Felsen springt, aus einem weit stärkeren
Herzen hervorbrechen.
Die Gedichte, die Herr Uhland in südlichen Versar-
ten geschrieben, sind ebenfalls den Sonetten, Asso-
nanzen und Ottaverime seiner Mitschüler von der ro-
mantischen Schule aufs innigste verwandt, und man
kann sie nimmermehr, sowohl der Form als des Tones
nach, davon unterscheiden. Aber wie gesagt, die mei-
sten jener Uhlandschen Zeitgenossen, mitsamt ihren
Gedichten, geraten in Vergessenheit; letztere findet
man nur noch mit Mühe in verschollenen Sammlun-
gen, wie der »Dichterwald«, die »Sängerfahrt«, in ei-
nigen Frauen- und Musenalmanachen, die Herr Fou-
qué und Herr Tieck herausgegeben, in alten Zeit-
schriften, namentlich in Achim von Arnims »Trö-
steinsamkeit« und in der »Wünschelrute«, redigiert
von Heinrich Straube und Rudolf Christiani, in den
damaligen Tagesblättern, und Gott weiß mehr wo!
Herr Uhland ist nicht der Vater einer Schule, wie
Schiller oder Goethe oder sonst so einer, aus deren In-
dividualität ein besonderer Ton hervordrang, der in
den Dichtungen ihrer Zeitgenossen einen bestimmten
Widerhall fand. Herr Uhland ist nicht der Vater, son-
dern er ist selbst nur das Kind einer Schule, die ihm
einen Ton überliefert, der ihr ebenfalls nicht ur-
sprünglich angehört, sondern den sie aus früheren
Dichterwerken mühsam hervorgequetscht hatte. Aber
als Ersatz für diesen Mangel an Originalität, an eigen-
tümlicher Neuheit, bietet Herr Uhland eine Menge
Vortrefflichkeiten, die ebenso herrlich wie selten sind.
Er ist der Stolz des glücklichen Schwabenlandes, und
alle Genossen deutscher Zunge erfreuen sich dieses
edlen Sängergemütes. In ihm resümieren sich die
meisten seiner lyrischen Gespiele von der romanti-
schen Schule, die das Publikum jetzt in dem einzigen
Manne liebt und verehrt. Und wir verehren und lieben
ihn jetzt vielleicht um so inniger, da wir im Begriffe
sind, uns auf immer von ihm zu trennen.
Ach! nicht aus leichtfertiger Lust, sondern dem Ge-
setze der Notwendigkeit gehorchend, setzt sich
Deutschland in Bewegung... Das fromme, friedsame
Deutschland! ... es wirft einen wehmütigen Blick auf
die Vergangenheit, die es hinter sich läßt, noch einmal
beugt es sich gefühlvoll hinab über jene alte Zeit, die
uns aus Uhlands Gedichten so sterbebleich anschaut,
und es nimmt Abschied mit einem Kusse. Und noch
einen Kuß, meinetwegen sogar eine Träne! Aber laßt
uns nicht länger weilen in müßiger Rührung...
Vorwärts! fort und immerfort,
Frankreich rief das stolze Wort:
Vorwärts!
»Als nach langen Jahren Kaiser Otto III. an das
Grab kam, wo Karls Gebeine bestattet ruhten, trat er
mit zwei Bischöfen und dem Grafen von Laumel (der
dieses alles berichtet hat) in die Höhle ein. Die Leiche
lag nicht, wie andere Tote, sondern saß aufrecht, wie
ein Lebender, auf einem Stuhl. Auf dem Haupte war
eine Goldkrone, den Zepter hielt er in den Händen,
die mit Handschuhen bekleidet waren, die Nägel der
Finger hatten aber das Leder durchbohrt und waren
herausgewachsen. Das Gewölbe war aus Marmor und
Kalk sehr dauerhaft gemauert. Um hineinzugelangen,
mußte eine Öffnung gebrochen werden; sobald man
hineingelangt war, spürte man einen heftigen Geruch.
Alle beugten sogleich die Knie und erwiesen dem
Toten Ehrerbietung. Kaiser Otto legte ihm ein weißes
Gewand an, beschnitt ihm die Nägel und ließ alles
Mangelhafte ausbessern. Von den Gliedern war nichts
verfault, außer von der Nasenspitze fehlte etwas; Otto
ließ sie von Gold wiederherstellen. Zuletzt nahm er
aus Karls Munde einen Zahn, ließ das Gewölbe wie-
der zumauern und ging von dannen. - Nachts drauf
soll ihm im Traume Karl erschienen sein und verkün-
digt haben, daß Otto nicht alt werden und keinen
Erben hinterlassen werde.«
Solchen Bericht geben uns die »Deutschen Sagen«.
Es ist dies aber nicht das einzige Beispiel der Art. So
hat auch euer König Franz das Grab des berühmten
Roland öffnen lassen, um selber zu sehen, ob dieser
Held von so riesenhafter Gestalt gewesen, wie die
Dichter rühmen. Dieses geschah kurz vor der Schlacht
von Pavia. Sebastian von Portugal ließ die Grüfte sei-
ner Vorfahren öffnen und betrachtete die toten Köni-
ge, ehe er nach Afrika zog.
Sonderbar schauerliche Neugier, die oft die
Menschen antreibt, in die Gräber der Vergangenheit
hinabzuschauen! Es geschieht dieses zu außerordent-
lichen Perioden, nach Abschluß einer Zeit oder kurz
vor einer Katastrophe. In unseren neueren Tagen
haben wir eine ähnliche Erscheinung erlebt; es war
ein großer Souverän, das französische Volk, welcher
plötzlich die Lust empfand, das Grab der Vergangen-
heit zu öffnen und die längst verschütteten, verschol-
lenen Zeiten bei Tageslicht zu betrachten. Es fehlte
nicht an gelehrten Totengräbern, die, mit Spaten und
Brecheisen, schnell bei der Hand waren, um den alten
Schutt aufzuwühlen und die Grüfte zu erbrechen. Ein
starker Duft ließ sich verspüren, der, als gotisches
Hautgout, denjenigen Nasen, die für Rosenöl blasiert
sind, sehr angenehm kitzelte. Die französischen
Schriftsteller knieten ehrerbietig nieder vor dem auf-
gedeckten Mittelalter. Der eine legte ihm ein neues
Gewand an, der andere schnitt ihm die Nägel, ein drit-
ter setzte ihm eine neue Nase an; zuletzt kamen gar
einige Poeten, die dem Mittelalter die Zähne ausris-
sen, alles wie Kaiser Otto.
Ob der Geist des Mittelalters diesen Zahnausrei-
ßern im Traume erschienen ist und ihrer ganzen ro-
mantischen Herrschaft ein frühes Ende prophezeit hat,
das weiß ich nicht. Überhaupt, ich erwähne dieser Er-
scheinung der französischen Literatur nur aus dem
Grunde, um bestimmt zu erklären, daß ich weder
direkt noch indirekt eine Befehdung derselben im
Sinne habe, wenn ich in diesem Buche eine ähnliche
Erscheinung, die in Deutschland stattfand, mit etwas
scharfen Worten besprochen. Die Schriftsteller, die in
Deutschland das Mittelalter aus seinem Grabe hervor-
zogen, hatten andere Zwecke, wie man aus diesen
Blättern ersehen wird, und die Wirkung, die sie auf
die große Menge ausüben konnten, gefährdete die
Freiheit und das Glück meines Vaterlandes. Die fran-
zösischen Schriftsteller hatten nur artistische Interes-
sen, und das französische Publikum suchte nur seine
plötzlich erwachte Neugier zu befriedigen. Die mei-
sten schauten in die Gräber der Vergangenheit nur in
der Absicht, um sich ein interessantes Kostüm für den
Karneval auszusuchen. Die Mode des Gotischen war
in Frankreich eben nur eine Mode, und sie diente nur
dazu, die Lust der Gegenwart zu erhöhen. Man läßt
sich die Haare mittelalterlich lang vom Haupte herab-
wallen, und bei der flüchtigsten Bemerkung des Fri-
seurs, daß es nicht gut kleide, läßt man es kurz ab-
schneiden mitsamt den mittelalterlichen Ideen, die
dazu gehören. Ach! in Deutschland ist das anders.
Vielleicht eben weil das Mittelalter dort nicht, wie bei
euch, gänzlich tot und verwest ist. Das deutsche Mit-
telalter liegt nicht vermodert im Grabe, es wird viel-
mehr manchmal von einem bösen Gespenste belebt
und tritt am hellen, lichten Tage in unsere Mitte und
saugt uns das rote Leben aus der Brust...
Ach! seht ihr nicht, wie Deutschland so traurig und
bleich ist? zumal die deutsche Jugend, die noch un-
längst so begeistert emporjubelte? Seht ihr nicht, wie
blutig der Mund des bevollmächtigten Vampirs, der
zu Frankfurt residiert und dort am Herzen des deut-
schen Volkes so schauerlich langsam und langweilig
saugt?
Was ich in betreff des Mittelalters im allgemeinen
angedeutet, findet auf die Religion desselben eine
ganz besondere Anwendung. Loyalität erfordert, daß
ich eine Partei, die man hierzulande die katholische
nennt, aufs allerbestimmteste von jenen deplorablen
Gesellen, die in Deutschland diesen Namen führen,
unterscheide. Nur von letzteren habe ich in diesen
Blättern gesprochen, und zwar mit Ausdrücken, die
mir immer noch viel zu gelinde dünken. Es sind die
Feinde meines Vaterlandes, ein kriechendes Gesindel,
heuchlerisch, verlogen und von unüberwindlicher
Feigheit. Das zischelt in Berlin, das zischelt in Mün-
chen, und während du auf dem Boulevard Montmartre
wandelst, fühlst du plötzlich den Stich in der Ferse.
Aber wir zertreten ihr das Haupt, der alten Schlange.
Es ist die Partei der Lüge, es sind die Schergen des
Despotismus und die Restauratoren aller Misere, aller
Greul und Narretei der Vergangenheit. Wie himmel-
weit davon verschieden ist jene Partei, die man hier
die katholische nennt und deren Häupter zu den talen-
treichsten Schriftstellern Frankreichs gehören. Wenn
sie auch nicht eben unsere Waffenbrüder sind, so
kämpfen wir doch für dieselben Interessen, nämlich
für die Interessen der Menschheit. In der Liebe für
dieselbe sind wir einig; wir unterscheiden uns nur in
der Ansicht dessen, was der Menschheit frommt. Jene
glauben, die Menschheit bedürfe nur des geistlichen
Trostes, wir hingegen sind der Meinung, daß sie viel-
mehr des körperlichen Glückes bedarf. Wenn jene, die
katholische Partei in Frankreich, ihre eigne Bedeutung
verkennend, sich als die Partei der Vergangenheit, als
die Restauratoren des Glaubens derselben, ankündigt,
müssen wir sie gegen ihre eigne Aussage in Schutz
nehmen. Das achtzehnte Jahrhundert hat den Katholi-
zismus in Frankreich so gründlich ekrasiert, daß fast
gar keine lebende Spur davon übriggeblieben und daß
derjenige, welcher den Katholizismus in Frankreich
wiederherstellen will, gleichsam eine ganz neue Reli-
gion predigt. Unter Frankreich verstehe ich Paris,
nicht die Provinz; denn was die Provinz denkt, ist
eine ebenso gleichgültige Sache, als was unsere Beine
denken; der Kopf ist der Sitz unserer Gedanken. Man
sagte mir, die Franzosen in der Provinz seien gute Ka-
tholiken; ich kann es weder bejahen noch verneinen;
die Menschen, welche ich in der Provinz fand, sahen
alle aus wie Meilenzeiger, welche ihre mehr oder
minder große Entfernung von der Hauptstadt auf der
Stirne geschrieben trugen. Die Frauen dort suchen
vielleicht Trost im Christentum, weil sie nicht in Paris
leben können. In Paris selbst hat das Christentum seit
der Revolution nicht mehr existiert, und schon früher
hatte es hier alle reelle Bedeutung verloren. In einem
abgelegenen Kirchwinkel lag es lauernd, das Chri-
stenturn, wie eine Spinne, und sprang dann und wann
hastig hervor, wenn es ein Kind in der Wiege oder
einen Greis im Sarge erhaschen konnte. Ja, nur zu
zwei Perioden, wenn er eben zur Welt kam oder wenn
er eben die Welt wieder verließ, geriet der Franzose in
die Gewalt des katholischen Priesters; während der
ganzen Zwischenzeit war er bei Vernunft und lachte
über Weihwasser und Ölung. Aber heißt das eine
Herrschaft des Katholizismus? Eben weil dieser in
Frankreich ganz erloschen war, konnte er unter Lud-
wig XVIII. und Karl X., durch den Reiz der Neuheit,
auch einige uneigennützige Geister für sich gewinnen.
Der Katholizismus war damals so etwas Unerhörtes,
so etwas Frisches, so etwas Überraschendes! Die Re-
ligion, die kurz vor jener Zeit in Frankreich herrschte,
war die klassische Mythologie, und diese schöne Reli-
gion war dem französischen Volke von seinen Schrift-
stellern, Dichtern und Künstlern mit solchem Erfolge
gepredigt worden, daß die Franzosen zu Ende des vo-
rigen Jahrhunderts, im Handeln wie im Gedanken,
ganz heidnisch kostümiert waren. Während der Revo-
lution blühte die klassische Religion in ihrer gewal-
tigsten Herrlichkeit; es war nicht ein alexandrinisches
Nachäffen, Paris war eine natürliche Fortsetzung von
Athen und Rom. Unter dem Kaiserreich erlosch wie-
der dieser antike Geist, die griechischen Götter
herrschten nur noch im Theater, und die römische Tu-
gend besaß nur noch das Schlachtfeld; ein neuer
Glaube war aufgekommen, und dieser resümierte sich
in dem heiligen Namen »Napoleon«! Dieser Glaube
herrscht noch immer unter der Masse. Wer daher sagt,
das französische Volk sei irreligiös, weil es nicht
mehr an Christus und seine Heiligen glaubt, hat un-
recht. Man muß vielmehr sagen, die Irreligiosität der
Franzosen besteht darin, daß sie jetzt an einen Men-
schen glauben statt an die unsterblichen Götter. Man
muß sagen, die Irreligiosität der Franzosen besteht
darin, daß sie nicht mehr an den Jupiter glauben, nicht
mehr an Diana, nicht mehr an Minerva, nicht mehr an
Venus. Dieser letztere Punkt ist zweifelhaft; soviel
weiß ich, in betreff der Grazien sind die Französinnen
noch immer orthodox geblieben.
Ich hoffe, man wird diese Bemerkungen nicht miß-
verstehen; sie sollten ja eben dazu dienen, den Leser
dieses Buches vor einem argen Mißverständnis zu be-
wahren.
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