Aus den Memoiren
des Herren
von Schnabelewopski

Text by Heinrich Heine (1797-1856)

Kapitel IV

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Für Leser, denen die Stadt Hamburg nicht bekannt
ist - und es gibt deren vielleicht in China und Ober-
bayern -, für diese muß ich bemerken, daß der schön-
ste Spaziergang der Söhne und Töchter Hammonias
den rechtmäßigen Namen Jungfernsteg führt, daß er
aus einer Lindenallee besteht, die auf der einen Seite
von einer Reihe Häuser, auf der anderen Seite von
dem großen Alsterbassin begrenzt wird; und daß vor
letzterem, ins Wasser hineingebaut, zwei zeltartige
lustige Kaffeehäuslein stehen, die man Pavillons
nennt. Besonders vor dem einen, dem sogenannten
Schweizerpavillon, läßt sich gut sitzen, wenn es Som-
mer ist und die Nachmittagssonne nicht zu wild glüht,
sondern nur heiter lächelt und mit ihrem Glanze die
Linden, die Häuser, die Menschen, die Alster und die
Schwäne, die sich darauf wiegen, fast märchenhaft
lieblich übergießt. Da läßt sich gut sitzen, und da saß
ich gut gar manchen Sommernachmittag und dachte,
was ein junger Mensch zu denken pflegt, nämlich gar
nichts, und betrachtete, was ein junger. Mensch zu be-
trachten pflegt, nämlich die jungen Mädchen, die vor-
übergingen - und da flatterten sie vorüber, jene hol-
den Wesen mit ihren geflügelten Häubchen und ihren
verdeckten Körbchen, worin nichts enthalten ist - da
trippelten sie dahin, die bunten Vierlanderinnen, die
ganz Hamburg mit Erdheeren und eigener Milch ver-
sehen und deren Röcke noch immer viel zu lang sind
- da stolzierten die schönen Kaufmannstöchter, mit
deren Liebe man auch soviel bares Geld bekömmt -
da hüpft eine Amme, auf den Armen ein rosiges Knä-
bchen, das sie beständig küßt, während sie an ihren
Geliebten denkt - da wandeln Priesterinnen der
schaumentstiegenen Göttin, hanseatische Vestalen,
Dianen, die auf die Jagd gehn, Najaden, Dryaden, Ha-
madryaden und sonstige Predigerstöchter - ach! da
wandelt auch Minka und Heloisa! Wie oft saß ich vor
dem Pavillon und sah sie vorüberwandeln in ihren ro-
sagestreiften Roben - die Elle kostet 4 Mark und 3
Schilling, und Herr Seligmann hat mir versichert, die
Rosastreifen würden im Waschen die Farbe behal-
ten. - »Prächtige Dirnen!« riefen dann die tugendhaf-
ten Jünglinge, die neben mir saßen. - Ich erinnere
mich, ein großer Assekuradeur, der immer wie ein
Pfingstochs geputzt ging, sagte einst: »Die eine möcht
ich mir mal als Frühstück und die andere als Abend-
brot zu Gemüte fahren, und ich würde an solchem
Tage gar nicht zu Mittag speisen.« - »Sie ist ein
Engel!« sagte einst ein Seekapitän ganz laut, so daß
sich beide Mädchen zu gleicher Zeit umsahen und
sich dann einander eifersüchtig anblickten. - Ich sel-
ber sagte nie etwas, und ich dachte meine süßesten
Garnichtsgedanken und betrachtete die Mädchen und
den heiter sanften Himmel und den langen Petriturm
mit der schlanken Taille und die stille blaue Alster,
worauf die Schwäne so stolz und so lieblich und so
sicher umherschwammen. Die Schwäne! Stundenlang
konnte ich sie betrachten, diese holden Geschöpfe mit
ihren sanften langen Hälsen, wie sie sich üppig auf
den weichen Fluten wiegten, wie sie zuweilen selig
untertauchten und wieder auftauchten und übermütig
plätscherten, bis der Himmel dunkelte und die gold-
nen Sterne hervortraten, verlangend, verheißend, wun-
derbar zärtlich, verklärt. Die Sterne! Sind es goldne
Blumen am bräutlichen Busen des Himmels? Sind es
verliebte Engelsaugen, die sich sehnsüchtig spiegeln
in den blauen Gewässern der Erde und mit den
Schwänen buhlen?
--- Ach! das ist nun lange her. Ich war damals jung
und töricht. Jetzt bin ich alt und töricht. Manche
Blume ist unterdessen verwelkt und manche sogar
zertreten worden. Manches seidne Kleid ist unterdes-
sen zerrissen, und sogar der rosagestreifte Kattun des
Herren Seligmann hat unterdessen die Farbe verloren.
Er selbst aber ist ebenfalls verblichen - die Firma ist
jetzt »Seligmanns selige Witwe« - und Heloisa, das
sanfte Wesen, das geschaffen schien, nur auf weichbe-
blümte indische Teppiche zu wandeln und mit Pfau-
enfedern gefächelt zu werden, sie ging unter in
Matrosenlärm, Punsch, Tabaksrauch und schlechter
Musik. Als ich Minka wiedersah - sie nannte sich
jetzt Kathinka und wohnte zwischen Hamburg und
Altona -, da sah sie aus wie der Tempel Salomonis,
als ihn Nebukadnezar zerstört hatte, und roch nach
assyrischem Knaster - und als sie mir Heloisas Tod
erzählte, weinte sie bitterlich und riß sich verzweif-
lungsvoll die Haare aus und wurde schier ohnmächtig
und mußte ein großes Glas Branntewein austrinken,
um zur Besinnung zu kommen.
Und die Stadt selbst, wie war sie verändert! Und
der Jungfernsteg! Der Schnee lag auf den Dächern,
und es schien, als hätten sogar die Häuser gealtert und
weiße Haare bekommen. Die Linden des Jungfern-
stegs waren nur tote Bäume mit dürren Ästen, die sich
gespenstisch im kalten Winde bewegten. Der Himmel
war schneidend blau und dunkelte hastig. Es war
Sonntag, fünf Uhr, die allgemeine Fütterungstunde,
und die Wagen rollten, Herren und Damen stiegen aus
mit einem gefrorenen Lächeln auf den hungrigen Lip-
pen - Entsetzlich! in diesem Augenblick durchschau-
erte mich die schreckliche Bemerkung, daß ein uner-
gründlicher Blödsinn auf allen diesen Gesichtern lag
und daß alle Menschen, die eben vorbeigingen, in
einem wunderbaren Wahnwitz befangen schienen. Ich
hatte sie schon vor zwölf Jahren, um dieselbe Stunde,
mit denselben Mienen, wie die Puppen einer
Rathausuhr, in derselben Bewegung gesehen, und sie
hatten seitdem ununterbrochen in derselben Weise ge-
rechnet, die Börse besucht, sich einander eingeladen,
die Kinnbacken bewegt, ihre Trinkgelder bezahlt und
wieder gerechnet: zwei mal zwei ist vier - »Entsetz-
lich!« rief ich, »wenn einem von diesen Leuten, wäh-
rend er auf dem Kontorbock säße, plötzlich einfiele,
daß zwei mal zwei eigentlich fünf sei und daß er also
sein ganzes Leben verrechnet und sein ganzes Leben
in einem schauderhaften Irrtum vergeudet habe!« Auf
einmal aber ergriff mich selbst ein närrischer Wahn-
sinn, und als ich die vorüberwandlenden Menschen
genauer betrachtete, kam es mir vor, als seien sie sel-
ber nichts anders als Zahlen, als arabische Chiffern;
und da ging eine krummfüßige Zwei neben einer fata-
len Drei, ihrer schwangeren und vollbusigen Frau Ge-
mahlin; dahinter ging Herr Vier auf Krücken; einher-
watschelnd kam eine fatale Fünf, rundbäuchig mit
kleinem Köpfchen; dann kam eine wohlbekannte klei-
ne Sechse und eine noch wohlbekanntere böse Sie-
ben - doch als ich die unglückliche Acht, wie sie vor-
überschwankte, ganz genau betrachtete, erkannte ich
den Assekuradeur, der sonst wie ein Pfingstochs ge-
putzt ging, jetzt aber wie die magerste von Pharaos
mageren Kühen aussah - blasse, hohle Wangen wie
ein leerer Suppenteiler, kaltrote Nase wie eine
Winterrose, abgeschabter schwarzer Rock, der einen
kümmerlich weißen Widerschein gab, ein Hut, worin
Saturn mit der Sense einige Luftlöcher geschnitten,
doch die Stiefel noch immer spiegelblank gewichst -
und er schien nicht mehr daran zu denken, Heloisa
und Minka als Frühstück und Abendbrot zu verzeh-
ren, er schien sich vielmehr nach einem Mittagessen
von gewöhnlichem Rindfleisch zu sehnen. Unter den
vorüberrollenden Nullen erkannte ich noch manchen
alten Bekannten. Diese und die anderen Zahlenmen-
schen rollten vorüber, hastig und hungrig, während
unfern, längs den Häusern des Jungfernstegs, noch
grauenhafter drollig, ein Leichenzug sich hinbewegte.
Ein trübsinniger Mummenschanz! Hinter den Trauer-
wagen, einherstelzend auf ihren dünnen schwarzseide-
nen Beinchen, gleich Marionetten des Todes, gingen
die wohlbekannten Ratsdiener, privilegierte Leidtra-
gende in parodiert altburgundischem Kostüm; kurze,
schwarze Mäntel und schwarze Pluderhosen, weiße
Perücken und weiße Halsbergen, wozwischen die
roten bezahlten Gesichter gar possenhaft hervor-
gucken, kurze Stahldegen an den Hüften, unterm Arm
ein grüner Regenschirm.
Aber noch unheimlicher und verwirrender als diese
Bilder, die sich, wie ein chinesisches Schattenspiel,
schweigend vorbeibewegten, waren die Töne, die von
einer anderen Seite in mein Ohr drangen. Es waren
heisere, schnarrende, metallose Töne, ein unsinniges
Kreischen, ein ängstliches Plätschern und verzwei-
felndes Schlürfen, ein Keichen und Schollern, ein
Stöhnen und Ächzen, ein unbeschreibbar eiskalter
Schmerzlaut. Das Bassin der Alster war zugefroren,
nur nahe am Ufer war ein großes, breites Viereck in
der Eisdecke ausgehauen, und die entsetzlichen Töne,
die ich eben vernommen, kamen aus den Kehlen der
armen weißen Geschöpfe, die darin herumschwam-
men und in entsetzlicher Todesangst schrien, und ach!
es waren dieselben Schwäne, die einst so weich und
heiter meine Seele bewegten. Ach! die schönen wei-
ßen Schwäne, man hatte ihnen die Flügel gebrochen,
damit sie im Herbst nicht auswandern konnten nach
dem warmen Süden, und jetzt hielt der Norden sie
festgebannt in seinen dunkeln Eisgruben - und der
Markeur des Pavillons meinte, sie befänden sich wohl
darin und die Kälte sei ihnen gesund. Das ist aber
nicht wahr, es ist einem nicht wohl, wenn man ohn-
mächtig in einem kalten Pfuhl eingekerkert ist, fast
eingefroren, und einem die Flügel gebrochen sind und
man nicht fortfliegen kann nach dem schönen Süden,
wo die schönen Blumen, wo die goldnen Sonnenlich-
ter, wo die blauen Bergseen - Ach! auch mir erging
es einst nicht viel besser, und ich verstand die Qual
dieser armen Schwäne; und als es gar immer dunkler
wurde und die Sterne oben hell hervortraten, diesel-
ben Sterne, die einst in schönen Sommernächten so
liebeheiß mit den Schwänen gebuhlt, jetzt aber so
winterkalt, so frostig klar und fast verhöhnend auf sie
herabblickten - wohl begriff ich jetzt, daß die Sterne
keine liebende, mitfühlende Wesen sind, sondern nur
glänzende Täuschungen der Nacht, ewige Trugbilder
in einem erträumten Himmel, goldne Lügen im dun-
kelblauen Nichts --
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