Aus den Memoiren
des Herren
von Schnabelewopski

Text by Heinrich Heine (1797-1856)

Kapitel I

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Mein Vater hieß Schnabelewopski; meine Mutter
hieß Schnabelewopska; als beider ehelicher Sohn
wurde ich geboren den ersten April 1795 zu Schnabe-
lewops. Meine Großtante, die alte Frau von Pipitzka,
pflegte meine erste Kindheit und erzählte mir viele
schöne Märchen und sang mich oft in den Schlaf mit
einem Liede, dessen Worte und Melodie meinem Ge-
dächtnisse entfallen. Ich vergesse aber nie die geheim-
nisvolle Art, wie sie mit dem zitternden Kopfe nickte,
wenn sie es sang, und wie wehmütig ihr großer einzi-
ger Zahn, der Einsiedler ihres Mundes, alsdann zum
Vorschein kam. Auch erinnere ich mich noch manch-
mal des Papagois, über dessen Tod sie so bitterlich
weinte. Die alte Großtante ist jetzt ebenfalls tot, und
ich bin in der ganzen weiten Welt wohl der einzige
Mensch, der an ihren lieben Papagoi noch denkt. Un-
sere Katze hieß Mimi, und unser Hund hieß Joli. Er
hatte viel Menschenkenntnis und ging mir immer aus
dem Wege, wenn ich zur Peitsche griff. Eines Mor-
gens sagte unser Bedienter, der Hund trage den
Schwanz etwas eingekniffen zwischen den Beinen
und lasse die Zunge länger als gewöhnlich hervorhängen;
und der arme Joli wurde, nebst einigen
Steinen, die man ihm an den Hals festband, ins Was-
ser geworfen. Bei dieser Gelegenheit ertrank er. Unser
Bedienter hieß Prrschtzztwitsch. Man muß dabei nie-
sen, wenn man diesen Namen ganz richtig ausspre-
chen will. Unsere Magd hieß Swurtszska, welches im
Deutschen etwas rauh, im Polnischen aber äußerst
melodisch klingt. Es war eine dicke, untersetzte Per-
son mit weißen Haaren und blonden Zähnen. Außer-
dem liefen noch zwei schöne schwarze Augen im
Hause herum, welche man Seraphine nannte. Es war
mein schönes herzliebes Mühmelein, und wir spielten
zusammen im Garten und belauschten die Haushal-
tung der Ameisen und haschten Schmetterlinge und
pflanzten Blumen. Sie lachte einst wie toll, als ich
meine kleinen Strümpfchen in die Erde pflanzte, in
der Meinung, daß ein paar große Hosen für meinen
Vater daraus hervorwachsen würden.
Mein Vater war die gütigste Seele von der Welt
und war lange Zeit ein wunderschöner Mann; der
Kopf gepudert, hinten ein niedlich geflochtenes Zöpf-
chen, das nicht herabhing, sondern mit einem Kämm-
chen von Schildkröte auf dem Scheitel befestigt war.
Seine Hände waren blendend weiß, und ich küßte sie
oft. Es ist mir, als röche ich noch ihren süßen Duft
und er dränge mir stechend ins Auge. Ich habe meinen
Vater sehr geliebt; denn ich habe nie daran gedacht,
daß er sterben könne.
Mein Großvater väterlicher Seite war der alte Herr
von Schnabelewopski; ich weiß gar nichts von ihm,
außer daß er ein Mensch und daß mein Vater sein
Sohn war. Mein Großvater mütterlicher Seite war der
alte Herr von Wlrssrnski, und er ist abgemalt in
einem scharlachroten Sammetrock und einem langen
Degen, und meine Mutter erzählte mir oft, daß er
einen Freund hatte, der einen grünseidenen Rock, ro-
saseidne Hosen und weißseidne Strümpfe trug und
wütend den kleinen Chapeaubas hin und her
schwenkte, wenn er vom König von Preußen sprach.
Meine Mutter, Frau von Schnabelewopska, gab
mir, als ich heranwuchs, eine gute Erziehung. Sie
hatte viel gelesen; als sie mit mir schwanger ging, las
sie fast ausschließlich den Plutarch und hat sich viel-
leicht an einem von dessen großen Männern versehen;
wahrscheinlich an einem von den Gracchen. Daher
meine mystische Sehnsucht, das agrarische Gesetz in
moderner Form zu verwirklichen. Mein Freiheits- und
Gleichheitssinn ist vielleicht solcher mütterlicher
Vorlektüre beizumessen. Hätte meine Mutter damals
das Leben des Cartouche gelesen, so wäre ich viel-
leicht ein großer Bankier geworden. Wie oft, als
Knabe, versäumte ich die Schule, um auf den schönen
Wiesen von Schnabelewops einsam darüber nachzu-
denken, wie man die ganze Menschheit beglücken
könnte. Man hat mich deshalb oft einen Müßiggänger
gescholten und als solchen bestraft; und für meine
Weltbeglückungsgedanken mußte ich schon damals
viel Leid und Not erdulden. Die Gegend um Schnabe-
lewops ist übrigens sehr schön, es fließt dort ein
Flüßchen, worin man des Sommers sehr angenehm
badet, auch gibt es allerliebste Vogelnester in den Ge-
hölzen des Ufers. Das alte Gnesen, die ehemalige
Hauptstadt von Polen, ist nur drei Meilen davon ent-
fernt. Dort im Dom ist der heilige Adalbert begraben.
Dort steht ein silberner Sarkophag, und darauf liegt
sein eignes Konterfei in Lebensgröße, mit Bischof-
mütze und Krummstab, die Hände fromm gefaltet,
und alles von gegossenem Silber. Wie oft muß ich
deiner gedenken, du silberner Heiliger! Ach, wie oft
schleichen meine Gedanken nach Polen zurück, und
ich stehe wieder in dem Dome von Gnesen, an den
Pfeiler gelehnt, bei dem Grabmal Adalberts! Dann
rauscht auch wieder die Orgel, als probiere der Orga-
nist ein Stück aus Allegris »Miserere«; in einer fernen
Kapelle wird eine Messe gemurmelt; die letzten Son-
nenlichter fallen durch die bunten Fensterscheiben;
die Kirche ist leer; nur vor dem silbernen Grabmal
des Heiligen liegt eine betende Gestalt, ein wunder-
holdes Frauenbild, das mir einen raschen Seitenblick
zuwirft, aber ebenso rasch sich wieder gegen den Hei-
ligen wendet und mit ihren sehnsüchtig schlauen
Lippen die Worte flüstert: »Ich bete dich an!«
In demselben Augenblick, als ich diese Worte
hörte, klingelte in der Ferne der Mesner, die Orgel
rauschte mit schwellendem Ungestüm, das holde
Frauenbild erhob sich von den Stufen des Grabmals,
warf ihren weißen Schleier über das errötende Antlitz
und verließ den Dom.
»Ich bete dich an!« Galten diese Worte mir oder
dem silbernen Adalbert? Gegen diesen hatte sie sich
gewendet, aber nur mit dem Antlitz. Was bedeutete
jener Seitenblick, den sie mir vorher zugeworfen und
dessen Strahlen sich über meine Seele ergossen,
gleich einem langen Lichtstreif, den der Mond über
das nächtliche Meer dahingießt, wenn er aus dem
Wolkendunkel hervortritt und sich schnell wieder da-
hinter verbirgt. In meiner Seele, die ebenso düster wie
das Meer, weckte jener Lichtstreif alle die Ungetüme,
die im tiefen Grunde schliefen, und die tollsten Haifi-
sche und Schwertfische der Leidenschaft schossen
plötzlich empor und tummelten sich und bissen sich
vor Wonne in den Schwänzen, und dabei brauste und
kreischte immer gewaltiger die Orgel, wie Sturmgetö-
se auf der Nordsee.
Den anderen Tag verließ ich Polen.

II

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