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Text by Heinrich Heine (1797-1856)
Im vorigen Buche haben wir von der großen reli- giösen Revolution gehandelt, die von Martin Luther in Deutschland repräsentiert ward. Jetzt haben wir von der philosophischen Revolution zu sprechen, die aus jener hervorging, ja, die eben nichts anderes ist wie die letzte Konsequenz des Protestantismus. Ehe wir aber erzählen, wie diese Revolution durch Immanuel Kant zum Ausbruch kam, müssen die phi- losophischen Vorgänge im Auslande, die Bedeutung des Spinoza, die Schicksale der Leibnizischen Philo- sophie, die Wechselverhältnisse dieser Philosophie und der Religion, die Reibungen derselben, ihr Zer- würfnis u. dgl. m. erwähnt werden. Beständig aber halten wir im Auge diejenigen von den Fragen der Philosophie, denen wir eine soziale Bedeutung bei- messen und zu deren Lösung sie mit der Religion konkurriert. Dieses ist nun die Frage von der Natur Gottes. »Gott ist Anfang und Ende aller Weisheit!« sagen die Gläubigen in ihrer Demut, und der Philosoph, in allem Stolze seines Wissens, muß diesem frommen Spruche beistimmen. Nicht Baco, wie man zu lehren pflegt, sondern René Descartes ist der Vater der neuern Philosophie, und in welchem Grade die deutsche Philosophie von ihm abstammt, werden wir ganz deutlich zeigen. René Descartes ist ein Franzose, und dem großen Frankreich gebührt auch hier der Ruhm der Initiative. Aber das große Frankreich, das geräuschvolle, beweg- te, vielschwatzende Land der Franzosen, war nie ein geeigneter Boden für Philosophie, diese wird viel- leicht niemals darauf gedeihen, und das fühlte René Descartes, und er ging nach Holland, dem stillen, schweigenden Lande der Trekschuiten und Holländer, und dort schrieb er seine philosophischen Werke. Nur dort konnte er seinen Geist von dem traditionellen Formalismus befreien und eine ganze Philosophie aus reinen Gedanken emporbauen, die weder dem Glau- ben noch der Empirie abgeborgt sind, wie es seitdem von jeder wahren Philosophie verlangt wird. Nur dort konnte er so tief in des Denkens Abgründe sich ver- senken, daß er es in den letzten Gründen des Selbst- bewußtseins ertappte und er eben durch den Gedan- ken das Selbstbewußtsein konstatieren konnte, in dem weltberühmten Satze: Cogito, ergo sum. Aber auch vielleicht nirgends anders als in Holland konnte Descartes es wagen, eine Philosophie zu leh- ren, die mit allen Traditionen der Vergangenheit in den offenbarsten Kampf geriet. Ihm gebührt die Ehre, die Autonomie der Philosophie gestiftet zu haben; diese brauchte nicht mehr die Erlaubnis zum Denken von der Theologie zu erbetteln und durfte sich jetzt als selbständige Wissenschaft neben dieselbe hinstel- len. Ich sage nicht: derselben entgegensetzen, denn es galt damals der Grundsatz: die Wahrheiten, wozu wir durch die Philosophie gelangen, sind am Ende diesel- ben, welche uns auch die Religion überliefert. Die Scholastiker, wie ich schon früher bemerkt, hatten hingegen der Religion nicht bloß die Suprematie über die Philosophie eingeräumt, sondern auch diese letzte- re für ein nichtiges Spiel, für eitel Wortfechterei er- klärt, sobald sie mit den Dogmen der Religion in Wi- derspruch geriet. Den Scholastikern war es nur darum zu tun, ihre Gedanken auszusprechen, gleichviel unter welcher Bedingung. Sie sagten ein mal eins ist eins und bewiesen es; aber sie setzten lächelnd hinzu, das ist wieder ein Irrtum der menschlichen Vernunft, die immer irrt, wenn sie mit den Beschlüssen der ökume- nischen Konzilien in Widerspruch gerät; ein mal eins ist drei, und das ist die wahre Wahrheit, wie uns längst offenbart worden, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes! Die Scholastiker bildeten, im geheim, eine philosophische Opposition gegen die Kirche. Aber öffentlich heuchelten sie die größte Unterwürfigkeit, kämpften sogar in manchen Fällen für die Kirche, und bei Aufzügen paradierten sie im Gefolge derselben, ungefähr wie die französi- schen Oppositionsdeputierten bei den Feierlichkeiten der Restauration. Die Komödie der Scholastiker dau- erte mehr als sechs Jahrhunderte, und sie wurde immer trivialer. Indem Descartes den Scholastizismus zerstörte, zerstörte er auch die verjährte Opposition des Mittelalters. Die alten Besen waren durch das lange Fegen stumpf geworden, es klebte daran allzu- viel Kehricht, und die neue Zeit verlangte neue Besen. Nach jeder Revolution muß die bisherige Opposition abdanken; es geschehen sonst große Dummheiten. Wir haben's erlebt. Weniger war es nun die katholi- sche Kirche als vielmehr die alten Gegner derselben, der Nachtrab der Scholastiker, welche sich zuerst gegen die Cartesianische Philosophie erhoben. Erst 1663 verbot sie der Papst. Ich darf bei Franzosen eine zulängliche, süffisante Bekanntschaft mit der Philosophie ihres großen Landsmannes voraussetzen, und ich brauche hier nicht erst zu zeigen, wie die entgegengesetztesten Doktrinen aus ihr das nötige Material entlehnen konn- ten. Ich spreche hier vom Idealismus und vom Mate- rialismus. Da man, besonders in Frankreich, diese zwei Dok- trinen mit den Namen Spiritualismus und Sensualis- mus bezeichnet und da ich mich dieser beiden Benen- nungen in anderer Weise bediene, so muß ich, um Be- griffsverwirrungen vorzubeugen, die obigen Aus- drücke näher besprechen. Seit den ältesten Zeiten gibt es zwei entgegenge- setzte Ansichten über die Natur des menschlichen Denkens, d.h. über die letzten Gründe der geistigen Erkenntnis, über die Entstehung der Ideen. Die einen behaupten, wir erlangen unsere Ideen nur von außen, unser Geist sei nur ein leeres Behältnis, worin die von den Sinnen eingeschluckten Anschauungen sich verar- beiten, ungefähr wie die genossenen Speisen in unse- rem Magen. Um ein besseres Bild zu gebrauchen, diese Leute betrachten unseren Geist wie eine tabula rasa, worauf später die Erfahrung täglich etwas Neues schreibt, nach bestimmten Schreibregeln. Die anderen, die entgegengesetzter Ansicht, be- haupten, die Ideen sind dem Menschen angeboren, der menschliche Geist ist der Ursitz der Ideen, und die Außenwelt, die Erfahrung und die vermittelnden Sinne bringen uns nur zur Erkenntnis dessen, was schon vorher in unserem Geiste war, sie wecken dort nur die schlafenden Ideen. Die erstere Ansicht hat man nun den Sensualismus, manchmal auch den Empirismus genannt; die andere nannte man den Spiritualismus, manchmal auch den Rationalismus. Dadurch können jedoch leicht Miß- verständnisse entstehen, da wir mit diesen zwei Namen, wie ich schon im vorigen Buche erwähnt, seit einiger Zeit auch jene zwei soziale Systeme, die sich in allen Manifestationen des Lebens geltend machen, bezeichnen. Den Namen Spiritualismus überlassen wir daher jener frevelhaften Anmaßung des Geistes, der, nach alleiniger Verherrlichung strebend, die Ma- terie zu zertreten, wenigstens zu fletrieren sucht; und den Namen Sensualismus überlassen wir jener Oppo- sition, die, dagegen eifernd, ein Rehabilitieren der Materie bezweckt und den Sinnen ihre Rechte vindi- ziert, ohne die Rechte des Geistes, ja nicht einmal ohne die Suprematie des Geistes zu leugnen. Hinge- gen den philosophischen Meinungen über die Natur unserer Erkenntnisse gehe ich lieber die Namen Idea- lismus und Materialismus; und ich bezeichne mit dem ersteren die Lehre von den angeborenen Ideen, von den Ideen a priori, und mit dem anderen Namen be- zeichne ich die Lehre von der Geisteserkenntnis durch die Erfahrung, durch die Sinne, die Lehre von den Ideen a posteriori. Bedeutungsvoll ist der Umstand, daß die idealisti- sche Seite der Cartesianischen Philosophie niemals in Frankreich Glück machen wollte. Mehre berühmte Jansenisten verfolgten einige Zeit diese Richtung, aber sie verloren sich bald in den christlichen Spiri- tualismus. Vielleicht war es dieser Umstand, welcher den Idealismus in Frankreich diskreditierte. Die Völ- ker ahnen instinktmäßig, wessen sie bedürfen, um ihre Mission zu erfüllen. Die Franzosen waren schon auf dem Wege zu jener politischen Revolution, die erst am Ende des achtzehnten Jahrhunderts ausbrach und wozu sie eines Beils und einer ebenso kaltschar- fen, materialistischen Philosophie bedurften. Der christliche Spiritualismus stand als Mitkämpfer in den Reihen ihrer Feinde, und der Sensualismus wurde daher ihr natürlicher Bundesgenosse. Da die französi- schen Sensualisten gewöhnlich Materialisten waren, so entstand der Irrtum, daß der Sensualismus nur aus dem Materialismus hervorgehe. Nein, jener kann sich ebensogut als ein Resultat des Pantheismus geltend machen, und da ist seine Erscheinung schön und herr- lich. Wir wollen jedoch dem französischen Materia- lismus keineswegs seine Verdienste absprechen. Der französische Materialismus war ein gutes Gegengift gegen das Übel der Vergangenheit, ein verzweifeltes Heilmittel in einer verzweifelten Krankheit, Merkur für ein infiziertes Volk. Die französischen Philoso- phen wählten John Locke zu ihrem Meister. Das war der Heiland, dessen sie bedurften. Sein »Essay on human understanding« ward ihr Evangelium; darauf schworen sie. John Locke war bei Descartes in die Schale gegangen und hatte alles von ihm gelernt, was ein Engländer lernen kann: Mechanik, Scheidekunst, Kombinieren, Konstruieren, Rechnen. Nur eins hat er nicht begreifen können, nämlich die angeborenen Ideen. Er vervollkommnete daher die Doktrin, daß wir unsere Erkenntnisse von außen, durch die Erfahrung, erlangen. Er machte den menschlichen Geist zu einer Art Rechenkasten, der ganze Mensch wurde eine eng- lische Maschine. Dieses gilt auch von dem Menschen, wie ihn die Schüler Lockes konstruierten, obgleich sie sich durch verschiedene Benennungen voneinander unterscheiden wollen. Sie haben alle Angst vor den letzten Folgerungen ihres obersten Grundsatzes, und der Anhänger Condillacs erschrickt, wenn man ihn mit einem Helvetius oder gar mit einem Holbach oder vielleicht noch am Ende mit einem Lamettrie in eine Klasse setzt, und doch muß es geschehen, und ich darf daher die französischen Philosophen des acht- zehnten Jahrhunderts und ihre heutigen Nachfolger samt und sonders als Materialisten bezeichnen. »L'homme machine« ist das konsequenteste Buch der französischen Philosophie, und der Titel schon verrät das letzte Wort ihrer ganzen Weltansicht. Diese Materialisten waren meistens auch Anhänger des Deismus, denn eine Maschine setzt einen Mecha- nikus voraus, und es gehört zu der höchsten Vollkom- menheit dieser ersteren, daß sie die technischen Kenntnisse eines solchen Künstlers, teils an ihrer ei- genen Konstruktion, teils an seinen übrigen Werken, zu erkennen und zu schätzen weiß. Der Materialismus hat in Frankreich seine Mission erfüllt. Er vollbringt jetzt vielleicht dasselbe Werk in England, und auf Locke fußen dort die revolutionären Parteien, namentlich die Benthamisten, die Prädikan- ten der Utilität. Diese sind gewaltige Geister, die den rechten Hebel ergriffen, womit man John Bull in Be- wegung setzen kann. John Bull ist ein geborener Ma- terialist, und sein christlicher Spiritualismus ist mei- stens eine traditionelle Heuchelei oder doch nur mate- rielle Borniertheit - sein Fleisch resigniert sich, weil ihm der Geist nicht zu Hülfe kommt. Anders ist es in Deutschland, und die deutschen Revolutionäre irren sich, wenn sie wähnen, daß eine materialistische Phi- losophie ihren Zwecken günstig sei. Ja, es ist dort gar keine allgemeine Revolution möglich, solange ihre Prinzipien nicht aus einer volkstümlicheren, religiöse- ren und deutscheren Philosophie deduziert und durch die Gewalt derselben herrschend geworden. Welche Philosophie ist dieses? Wir werden sie späterhin un- umwunden besprechen. Ich sage: unumwunden, denn ich rechne darauf, daß auch Deutsche diese Blätter lesen. Deutschland hat von jeher eine Abneigung gegen den Materialismus bekundet und wurde deshalb, wäh- rend anderthalb Jahrhunderte, der eigentliche Schau- platz des Idealismus. Auch die Deutschen begaben sich in die Schule des Descartes, und der große Schü- ler desselben hieß Gottfried Wilhelm Leibniz. Wie Locke die materialistische Richtung, so verfolgte Leibniz die idealistische Richtung des Meisters. Hier finden wir am determiniertesten die Lehre von den an- geborenen Ideen Er bekämpfte Locke in seinen »Nou- veaux essais sur l'entendement humain«. Mit Leibniz erblühte ein großer Eifer für philosophisches Studium bei den Deutschen. Er weckte die Geister und lenkte sie in neue Bahnen. Ob der inwohnenden Milde, ob des religiösen Sinnes, der seine Schriften belebte, wurden auch die widerstrebenden Geister mit der Kühnheit derselben einigermaßen ausgesöhnt, und die Wirkung war ungeheuer. Die Kühnheit dieses Den- kers zeigt sich namentlich in seiner Monadenlehre, eine der merkwürdigsten Hypothesen, die je aus dem Haupte eines Philosophen hervorgegangen. Diese ist auch zugleich das Beste, was er geliefert; denn es dämmert darin schon die Erkenntnis der wichtigsten Gesetze, die unsere heutige Philosophie erkannt hat. Die Lehre von den Monaden war vielleicht nur eine unbehülfliche Formulierung dieser Gesetze, die jetzt von den Naturphilosophen in bessern Formeln ausge- sprochen worden. Ich sollte hier eigentlich statt des Wortes »Gesetz« eben nur »Formel« sagen; denn Newton hat ganz recht, wenn er bemerkt, daß dasjeni- ge, was wir Gesetze in der Natur nennen, eigentlich nicht existiert und daß es nur Formeln sind, die unse- rer Fassungskraft zu Hülfe kommen, um eine Reihe von Erscheinungen in der Natur zu erklären. Die »Theodizee« ist in Deutschland von allen Leibnizischen Schriften am meisten besprochen wor- den. Es ist jedoch sein schwächstes Werk. Dieses Buch, wie noch einige andere Schriften, worin sich der religiöse Geist des Leibniz ausspricht, hat ihm manchen bösen Leumund, manche bittere Verkennung zugezogen. Seine Feinde haben ihn der gemütlichsten Schwachköpfigkeit beschuldigt; seine Freunde, die ihn verteidigten, machten ihn dagegen zu einem pfiffi- gen Heuchler. Der Charakter des Leibniz blieb lange bei uns ein Gegenstand der Kontroverse. Die Billig- sten haben ihn von dem Vorwurf der Zweideutigkeit nicht freisprechen können. Am meisten schmähten ihn die Freidenker und Aufklärer. Wie konnten sie einem Philosophen verzeihen, die Dreieinigkeit, die ewigen Höllenstrafen und gar die Gottheit Christi verteidigt zu haben! So weit erstreckte sich nicht ihre Toleranz. Aber Leibniz war weder ein Tor noch ein Schuft, und von seiner harmonischen Höhe konnte er sehr gut das ganze Christentum verteidigen. Ich sage das ganze Christentum, denn er verteidigte es gegen das halbe Christentum. Er zeigte die Konsequenz der Orthodo- xen im Gegensatze zur Halbheit ihrer Gegner. Mehr hat er nie gewollt. Und dann stand er auf jenem Indif- ferenzpunkte, wo die verschiedensten Systeme nur verschiedene Seiten derselben Wahrheit sind. Diesen Indifferenzpunkt hat späterhin auch Herr Schelling erkannt, und Hegel hat ihn wissenschaftlich begründet, als ein System der Systeme. In gleicher Weise beschäftigte sich Leibniz mit einer Harmonie zwischen Plato und Aristoteles. Auch in der späteren Zeit ist diese Aufgabe oft genug bei uns vorgekom- men. Ist sie gelöst worden? Nein, wahrhaftig nein! Denn diese Aufgabe ist eben nichts anders als eine Schlichtung des Kampfes zwischen Idealismus und Materialismus. Plato ist durchaus Idealist und kennt nur angeborene oder viel- mehr mitgeborene Ideen: der Mensch bringt die Ideen mit zur Welt, und wenn er derselben bewußt wird, so kommen sie ihm vor wie Erinnerungen aus einem frü- heren Dasein. Daher auch das Vage und Mystische des Plato, er erinnert sich mehr oder minder klar. Bei Aristoteles hingegen ist alles klar, alles deutlich, alles sicher; denn seine Erkenntnisse offenbaren sich nicht in ihm mit vorweltlichen Beziehungen, sondern er schöpft alles aus der Erfahrung und weiß alles aufs bestimmteste zu klassifizieren. Er bleibt daher auch ein Muster für alle Empiriker, und diese wissen nicht genug Gott zu preisen, daß er ihn zum Lehrer des Alexander gemacht, daß er durch dessen Eroberungen so viele Gelegenheiten fand zur Beförderung der Wis- senschaft und daß sein siegender Schüler ihm so viele tausend Talente gegeben zu zoologischen Zwecken. Dieses Geld hat der alte Magister gewissenhaft ver- wendet, und er hat dafür eine ehrliche Anzahl von Säugetieren seziert und Vögel ausgestopft und dabei die wichtigsten Beobachtungen angestellt; aber die große Bestie, die er am nächsten vor Augen hatte, die er selber auferzogen und die weit merkwürdiger war als die ganze damalige Weltmenagerie, hat er leider übersehen und unerforscht gelassen. In der Tat, er ließ uns ganz ohne Kunde über die Natur jenes Jüngling- königs, dessen Leben und Taten wir noch immer als Wunder und Rätsel anstaunen. Wer war Alexander? Was wollte er? War er ein Wahnsinniger oder ein Gott? Noch jetzt wissen wir es nicht. Desto bessere Auskunft gibt uns Aristoteles über babylonische Meerkatzen, indische Papageien und griechische Tra- gödien, welche er ebenfalls seziert hat. Plato und Aristoteles! Das sind nicht bloß die zwei Systeme, sondern auch die Typen zweier verschiede- nen Menschennaturen, die sich, seit undenklicher Zeit, unter allen Kostümen, mehr oder minder feindselig entgegenstehen. Vorzüglich das ganze Mittelalter hin- durch, bis auf den heutigen Tag, wurde solchermaßen gekämpft, und dieser Kampf ist der wesentlichste In- halt der christlichen Kirchengeschichte. Von Plato und Aristoteles ist immer die Rede, wenn auch unter anderem Namen. Schwärmerische, mystische, platoni- sche Naturen offenbaren aus den Abgründen ihres Ge- mütes die christlichen Ideen und die entsprechenden Symbole. Praktische, ordnende, aristotelische Naturen bauen aus diesen Ideen und Symbolen ein festes Sy- stem, eine Dogmatik und einen Kultus. Die Kirche umschließt endlich beide Naturen, wovon die einen sich meistens im Klerus und die anderen im Mönchs- tum verschanzen, aber sich unablässig befehden. In der protestantischen Kirche zeigt sich derselbe Kampf, und das ist der Zwiespalt zwischen Pietisten und Orthodoxen, die den katholischen Mystikern und Dogmatikern in einer gewissen Weise entsprechen. Die protestantischen Pietisten sind Mystiker ohne Phantasie, und die protestantischen Orthodoxen sind Dogmatiker ohne Geist. Diese beiden protestantischen Parteien finden wir in einem erbitterten Kampfe zur Zeit des Leibniz, und die Philosophie desselben intervenierte späterhin, als Christian Wolff sich derselben bemächtigte, sie den Zeitbedürfnissen anpaßte und sie, was die Hauptsache war, in deutscher Sprache vortrug. Ehe wir aber von diesem Schüler des Leibniz, von den Wirkungen sei- nes Strebens und von den späteren Schicksalen des Luthertums ein Weiteres berichten, müssen wir des providentiellen Mannes erwähnen, der gleichzeitig mit Locke und Leibniz sich in der Schule des Des- cartes gebildet hatte, lange Zeit nur mit Hohn und Haß betrachtet worden und dennoch in unseren heuti- gen Tagen zur alleinigen Geisterherrschaft empor- steigt. Ich spreche von Benedikt Spinoza. Ein großer Genius bildet sich durch einen anderen großen Genius, weniger durch Assimilierung als durch Reibung. Ein Diamant schleift den andern. So hat die Philosophie des Descartes keineswegs die des Spinoza hervorgebracht, sondern nur befördert. Daher zunächst finden wir bei dem Schüler die Methode des Meisters; dieses ist ein großer Gewinn. Dann finden wir bei Spinoza, wie bei Descartes, die der Mathema- tik abgeborgte Beweisführung. Dieses ist ein großes Gebrechen. Die mathematische Form gibt dem Spino- za ein herbes Äußere. Aber dieses ist wie die herbe Schale der Mandel; der Kern ist um so erfreulicher. Bei der Lektüre des Spinoza ergreift uns ein Gefühl wie beim Anblick der großen Natur in ihrer lebendig- sten Ruhe. Ein Wald von himmelhohen Gedanken, deren blühende Wipfel in wogender Bewegung sind, während die unerschütterlichen Baumstämme in der ewigen Erde wurzeln. Es ist ein gewisser Hauch in den Schriften des Spinoza, der unerklärlich. Man wird angeweht wie von den Lüften der Zukunft. Der Geist der hebräischen Propheten ruhte vielleicht noch auf ihrem späten Enkel. Dabei ist ein Ernst in ihm, ein selbstbewußter Stolz, eine Gedankengrandezza, die ebenfalls ein Erbteil zu sein scheint; denn Spinoza ge- hörte zu jenen Märtyrerfamilien, die damals von den allerkatholischsten Königen aus Spanien vertrieben worden. Dazu kommt noch die Geduld des Hollän- ders, die sich ebenfalls, wie im Leben, so auch in den Schriften des Mannes, niemals verleugnet hat. Konstatiert ist es, daß der Lebenswandel des Spi- noza frei von allem Tadel war und rein und makellos wie das Leben seines göttlichen Vetters, Jesu Christi. Auch wie dieser litt er für seine Lehre, wie dieser trug er die Dornenkrone. Überall, wo ein großer Geist sei- nen Gedanken ausspricht, ist Golgatha. Teurer Leser, wenn du mal nach Amsterdam kömmst, so laß dir dort von dem Lohnlakaien die spa- nische Synagoge zeigen. Diese ist ein schönes Gebäu- de, und das Dach ruht auf vier kolossalen Pfeilern, und in der Mitte steht die Kanzel, wo einst der Bann- fluch ausgesprochen wurde über den Verächter des mosaischen Gesetzes, den Hidalgo Don Benedikt de Spinoza. Bei dieser Gelegenheit wurde auf einem Bockshorne geblasen, welches Schofar heißt. Es muß eine furchtbare Bewandtnis haben mit diesem Horne. Denn wie ich mal in dem Leben des Salomon Mai- mon gelesen, suchte einst der Rabbi von Altona ihn, den Schüler Kants, wieder zum alten Glauben zurück- zuführen, und als derselbe bei seinen philosophischen Ketzereien halsstarrig beharrte, wurde er drohend und zeigte ihm den Schofar, mit den finstern Worten: »Weißt du, was das ist?« Als aber der Schüler Kants sehr gelassen antwortete: »Es ist das Horn eines Bockes!«, da fiel der Rabbi rücklings zu Boden vor Entsetzen. Mit diesem Horne wurde die Exkommunikation des Spinoza akkompagniert, er wurde feierlich ausgesto- ßen aus der Gemeinschaft Israels und unwürdig er- klärt, hinfüro den Namen Jude zu tragen. Seine christ- lichen Feinde waren großmütig genug, ihm diesen Namen zu lassen. Die Juden aber, die Schweizergarde des Deismus, waren unerbittlich, und man zeigt den Platz vor der spanischen Synagoge zu Amsterdam, wo sie einst mit ihren langen Dolchen nach dem Spinoza gestochen haben. Ich konnte nicht umhin, auf solche persönliche Mißgeschicke des Mannes besonders aufmerksam zu machen. Ihn bildete nicht bloß die Schule, sondern auch das Leben. Das unterscheidet ihn von den mei- sten Philosophen, und in seinen Schriften erkennen wir die mittelbaren Einwirkungen des Lebens. Die Theologie war für ihn nicht bloß eine Wissenschaft. Ebenso die Politik. Auch diese lernte er in der Praxis kennen. Der Vater seiner Geliebten wurde wegen po- litischer Vergehen in den Niederlanden gehenkt. Und nirgends in der Welt wird man schlechter gehenkt wie in den Niederlanden. Ihr habt keinen Begriff davon, wie unendlich viele Vorbereitungen und Zeremonien dabei stattfinden. Der Delinquent stirbt zugleich vor Langerweile, und der Zuschauer hat dabei hinlängliche Muße zum Nachdenken. Ich bin daher überzeugt, daß Benedikt Spinoza über die Hinrich- tung des alten van Ende sehr viel nachgedacht hat, und so wie er früher die Religion mit ihren Dolchen begriffen, so begriff er auch jetzt die Politik mit ihren Stricken. Kunde davon gibt sein »Tractatus politi- cus«. Ich habe nur die Art und Weise hervorzuheben, wie die Philosophen mehr oder minder miteinander ver- wandt sind, und ich zeige nur die Verwandtschafts- grade und die Erbfolge. Diese Philosophie des Spino- za, des dritten Sohnes des René Descartes, wie er sie in seinem Hauptwerk, in der »Ethik«, doziert, ist von dem Materialismus seines Bruders Locke ebensosehr entfernt wie von dem Idealismus seines Bruders Leib- niz. Spinoza quält sich nicht analytisch mit der Frage über die letzten Gründe unserer Erkenntnisse. Er gibt uns seine große Synthese, seine Erklärung von der Gottheit. Benedikt Spinoza lehrt: Es gibt nur eine Substanz, das ist Gott. Diese eine Substanz ist unendlich, sie ist absolut. Alle endliche Substanzen derivieren von ihr, sind in ihr enthalten, tauchen in ihr auf, tauchen in ihr unter, sie haben nur relative, vorübergehende, akzi- dentielle Existenz. Die absolute Substanz offenbart sich uns sowohl unter der Form des unendlichen Den- kens als auch unter der Form der unendlichen Ausdehnung. Beides, das unendliche Denken und die unendliche Ausdehnung, sind die zwei Attribute der absoluten Substanz. Wir erkennen nur diese zwei At- tribute; Gott, die absolute Substanz, hat aber viel- leicht noch mehr Attribute, die wir nicht kennen. »Non dico me deum omnino cognoscere, sed me quaedam ejus attributa, non autem omnia, neque ma- ximam intelligere partem.« Nur Unverstand und Böswilligkeit konnten dieser Lehre das Beiwort »atheistisch« beilegen. Keiner hat sich jemals erhabener über die Gottheit ausgespro- chen wie Spinoza. Statt zu sagen, er leugne Gott, könnte man sagen, er leugne den Menschen. Alle end- liche Dinge sind ihm nur Modi der unendlichen Sub- stanz. Alle endliche Dinge sind in Gott enthalten, der menschliche Geist ist nur ein Lichtstrahl des unendli- chen Denkens, der menschliche Leib ist nur ein Atom der unendlichen Ausdehnung; Gott ist die unendliche Ursache beider, der Geister und der Leiber, natura na- turans. In einem Briefe an Madame Du Devant zeigt Vol- taire sich ganz entzückt über einen Einfall dieser Dame, die sich geäußert hatte, daß alle Dinge, die der Mensch durchaus nicht wissen könne, sicher von der Art sind, daß ein Wissen derselben ihm nichts nützen würde. Diese Bemerkung möchte ich auf jenen Satz des Spinoza anwenden, den ich oben mit seinen eignen Worten mitgeteilt und wonach der Gottheit nicht bloß die zwei erkennbaren Attribute, Denken und Ausdehnung, sondern vielleicht auch andere für uns unerkennbare Attribute gebühren. Was wir nicht erkennen können, hat für uns keinen Wert, wenigstens keinen Wert auf dem sozialen Standpunkte, wo es gilt, das im Geiste Erkannte zur leiblichen Erschei- nung zu bringen. In unserer Erklärung des Wesens Gottes nehmen wir daher Bezug nur auf jene zwei er- kennbare Attribute. Und dann ist ja doch am Ende alles, was wir Attribute Gottes nennen, nur eine ver- schiedene Form unserer Anschauung, und diese ver- schiedenen Formen sind identisch in der absoluten Substanz. Der Gedanke ist am Ende nur die unsicht- bare Ausdehnung, und die Ausdehnung ist nur der sichtbare Gedanke. Hier geraten wir in den Hauptsatz der deutschen Identitätsphilosophie, die in ihrem Wesen durchaus nicht von der Lehre des Spinoza ver- schieden ist. Mag immerhin Herr Schelling dagegen eifern, daß seine Philosophie von dem Spinozismus verschieden sei, daß sie mehr »eine lebendige Durch- dringung des Idealen und Realen« sei, daß sie sich von dem Spinozismus unterscheide »wie die ausgebil- deten griechischen Statuen von den starr-ägyptischen Originalen«: dennoch muß ich aufs bestimmteste er- klären, daß sich Herr Schelling in seiner früheren Pe- riode, wo er noch ein Philosoph war, nicht im geringsten von Spinoza unterschied. Nur auf einem andern Wege ist er zu derselben Philosophie gelangt, und das habe ich späterhin zu erläutern, wenn ich er- zähle, wie Kant eine neue Bahn betritt, Fichte ihm nachfolgt, Herr Schelling wieder in Fichtes Fußstap- fen weiterschreitet und, durch das Walddunkel der Naturphilosophie umherirrend, endlich dem großen Standbilde Spinozas, Angesicht zu Angesicht, gegen- übersteht. Die neuere Naturphilosophie hat bloß das Ver- dienst, daß sie den ewigen Parallelismus, der zwi- schen dem Geiste und der Materie herrscht, aufs scharfsinnigste nachgewiesen. Ich sage Geist und Ma- terie, und diese Ausdrücke brauche ich als gleichbe- deutend für das, was Spinoza Gedanken und Ausdeh- nung nennt. Gewissermaßen gleichbedeutend ist auch das, was unsere Naturphilosophen Geist und Natur oder das Ideale und das Reale nennen. Ich werde in der Folge weniger das System als viel- mehr die Anschauungsweise des Spinoza mit dem Namen Pantheismus bezeichnen. Bei letzterem wird, ebensogut wie bei dem Deismus, die Einheit Gottes angenommen. Aber der Gott des Pantheisten ist in der Welt selbst, nicht indem er sie mit seiner Göttlichkeit durchdringt, in der Weise, die einst der heilige Augu- stin zu veranschaulichen suchte, als er Gott mit einem großen See und die Welt mit einem großen Schwamm verglich, der in der Mitte läge und die Gottheit ein- sauge: nein, die Welt ist nicht bloß gottgetränkt, gott- geschwängert, sondern sie ist identisch mit Gott. »Gott«, welcher von Spinoza die eine Substanz und von den deutschen Philosophen das Absolute genannt wird, »ist alles, was da ist«, er ist sowohl Materie wie Geist, beides ist gleich göttlich, und wer die heilige Materie beleidigt, ist ebenso sündhaft wie der, wel- cher sündigt gegen den Heiligen Geist. Der Gott des Pantheisten unterscheidet sich also von dem Gotte des Deisten dadurch, daß er in der Welt selbst ist, während letzterer ganz außer oder, was dasselbe ist, über der Welt ist. Der Gott des Dei- sten regiert die Welt von oben herab, als ein von ihm abgesondertes Etablissement. Nur in betreff der Art dieses Regierens differenzieren untereinander die Dei- sten. Die Hebräer denken sich Gott als einen donnern- den Tyrannen; die Christen als einen liebenden Vater; die Schüler Rousseaus, die ganze Genfer Schule, den- ken sich ihn als einen weisen Künstler, der die Welt verfertigt hat, ungefähr wie ihr Papa seine Uhren ver- fertigt, und als Kunstverständige bewundern sie das Werk und preisen den Meister dort oben. Dem Deisten, welcher also einen außerweltlichen oder über, weltlichen Gott annimmt, ist nur der Geist heilig, indem er letzteren gleichsam als den göttlichen Atem betrachtet, den der Weltschöpfer dem menschlichen Leibe, dem aus Lehm gekneteten Werk seiner Hände, eingeblasen hat. Die Juden achteten daher den Leib als etwas Geringes, als eine armselige Hülle des Ruach hakodasch, des heiligen Hauchs, des Geistes, und nur diesem widmeten sie ihre Sorgfalt, ihre Ehrfurcht, ihren Kultus. Sie wurden daher ganz eigentlich das Volk des Geistes, keusch, genügsam, ernst, abstrakt, halsstarrig, geeignet zum Martyrtum, und ihre sublimste Blüte ist Jesus Christus. Dieser ist im wahren Sinne des Wortes der inkarnierte Geist, und tiefsinnig bedeutungsvoll ist die schöne Legende, daß ihn eine leiblich unberührte, immakulierte Jung- frau, nur durch geistige Empfängnis, zur Welt ge- bracht habe. Hatten aber die Juden den Leib nur mit Gering- schätzung betrachtet, so sind die Christen auf dieser Bahn noch weiter gegangen und betrachteten ihn als etwas Verwerfliches, als etwas Schlechtes, als das Übel selbst. Da sehen wir nun, einige Jahrhunderte nach Christi Geburt, eine Religion emporsteigen, wel- che ewig die Menschheit in Erstaunen setzen und den spätesten Geschlechtern die schauerlichste Bewunde- rung abtrotzen wird. Ja, es ist eine große, heilige, mit unendlicher Seligkeit erfüllte Religion, die dem Gei- ste auf dieser Erde die unbedingteste Herrschaft er- obern wollte - aber diese Religion war eben allzu er- haben, allzu rein, allzu gut für diese Erde, wo ihre Idee nur in der Theorie proklamiert, aber niemals in der Praxis ausgeführt werden konnte. Der Versuch einer Ausführung dieser Idee hat in der Geschichte unendlich viel herrliche Erscheinungen hervorge- bracht, und die Poeten aller Zeiten werden noch lange davon singen und sagen. Der Versuch, die Idee des Christentums zur Ausführung zu bringen, ist jedoch, wie wir endlich sehen, aufs kläglichste verunglückt, und dieser unglückliche Versuch hat der Menschheit Opfer gekostet, die unberechenbar sind, und trübseli- ge Folge derselben ist unser jetziges soziales Unwohl- sein in ganz Europa. Wenn wir noch, wie viele glau- ben, im Jugendalter der Menschheit leben, so gehörte das Christentum gleichsam zu ihren überspanntesten Studentenideen, die weit mehr ihrem Herzen als ihrem Verstande Ehre machen. Die Materie, das Weltliche, überließ das Christentum den Händen Cäsars und sei- ner jüdischen Kammerknechte und begnügte sich damit, ersterem die Suprematie abzusprechen und letztere in der öffentlichen Meinung zu fletrieren - aber siehe! das gehaßte Schwert und das verachtete Geld erringen dennoch am Ende die Obergewalt, und die Repräsentanten des Geistes müssen sich mit ihnen verständigen. Ja, aus diesem Verständnis ist sogar eine solidarische Allianz geworden. Nicht bloß die römischen, sondern auch die englischen, die preußi- schen, kurz, alle privilegierten Priester haben sich verbündet mit Cäsar und Konsorten zur Unter- drückung der Völker. Aber durch diese Verbündung geht die Religion des Spiritualismus desto schneller zugrunde. Zu dieser Einsicht gelangen schon einige Priester, und um die Religion zu retten, gehen sie sich das Ansehen, als entsagten sie jener verderblichen Al- lianz, und sie laufen über in unsere Reihen, sie setzen die rote Mütze auf, sie schwören Tod und Haß allen Königen, den sieben Blutsäufern, sie verlangen die irdische Gütergleichheit, sie fluchen, trotz Marat und Robespierre. - Unter uns gesagt, wenn ihr sie genau betrachtet, so findet ihr: sie lesen Messe in der Spra- che des Jakobinismus, und wie sie einst dem Cäsar das Gift beigebracht, versteckt in der Hostie, so su- chen sie jetzt dem Volke ihre Hostien beizubringen, indem sie solche in revolutionärem Gifte verstecken; denn sie wissen, wir lieben dieses Gift. Vergebens jedoch ist all euer Bemühen! Die Menschheit ist aller Hostien überdrüssig und lechzt nach nahrhafterer Speise, nach echtem Brot und schö- nem Fleisch. Die Menschheit lächelt mitleidig über jene Jugendideale, die sie trotz aller Anstrengung nicht verwirklichen konnte, und sie wird männlich praktisch. Die Menschheit huldigt jetzt dem irdischen Nützlichkeitssystem, sie denkt ernsthaft an eine bür- gerlich wohlhabende Einrichtung, an vernünftigen Haushalt und an Bequemlichkeit für ihr späteres Alter. Da ist wahrlich nicht mehr die Rede davon, das Schwert in den Händen des Cäsars und gar den Säckel in den Händen seiner Knechte zu lassen. Dem Für- stendienst wird die privilegierte Ehre entrissen, und die Industrie wird der alten Schmach entlastet. Die nächste Aufgabe ist, gesund zu werden; denn wir füh- len uns noch sehr schwach in den Gliedern. Die heili- gen Vampire des Mittelalters haben uns soviel Le- bensblut ausgesaugt. Und dann müssen der Materie noch große Sühnopfer geschlachtet werden, damit sie die alten Beleidigungen verzeihe. Es wäre sogar rat- sam, wenn wir Festspiele anordneten und der Materie noch mehr außerordentliche Entschädigungsehren er- wiesen. Denn das Christentum, unfähig, die Materie zu vernichten, hat sie überall fletriert, es hat die edel- sten Genüsse herabgewürdigt, und die Sinne mußten heucheln, und es entstand Lüge und Sünde. Wir müs- sen unseren Weibern neue Hemden und neue Gedan- ken anziehen, und alle unsere Gefühle müssen wir durchräuchern, wie nach einer überstandenen Pest. Der nächste Zweck aller unserer neuen Institutio- nen ist solchermaßen die Rehabilitation der Materie, die Wiedereinsetzung derselben in ihre Würde, ihre moralische Anerkennung, ihre religiöse Heiligung, ihre Versöhnung mit dem Geiste. Purusa wird wieder vermählt mit Prakriti. Durch ihre gewaltsame Tren- nung, wie in der indischen Mythe so sinnreich dargestellt wird, entstand die große Weltzerrissenheit, das Übel. Wißt ihr nun, was in der Welt das Übel ist? Die Spiritualisten haben uns immer vorgeworfen, daß bei der pantheistischen Ansicht der Unterschied zwischen dem Guten und dem Bösen aufhöre. Das Böse ist aber einesteils nur ein Wahn begriff ihrer eignen Weltan- schauung, anderenteils ist es ein reelles Ergebnis ihrer eigenen Welteinrichtung. Nach ihrer Weltanschauung ist die Materie an und für sich böse, was doch wahr- lich eine Verleumdung ist, eine entsetzliche Gotteslä- sterung. Die Materie wird nur alsdann böse, wenn sie heimlich konspirieren muß gegen die Usurpationen des Geistes, wenn der Geist sie fletriert hat und sie sich aus Selbstverachtung prostituiert oder wenn sie gar mit Verzweiflungshaß sich an dem Geiste rächt; und somit wird das Übel nur ein Resultat der spiritua- listischen Welteinrichtung. Gott ist identisch mit der Welt. Er manifestiert sich in den Pflanzen, die ohne Bewußtsein ein kosmisch- magnetisches Leben führen. Er manifestiert sich in den Tieren, die in ihrem sinnlichen Traumleben eine mehr oder minder dumpfe Existenz empfinden. Aber am herrlichsten manifestiert er sich in dem Menschen, der zugleich fühlt und denkt, der sich selbst individu- ell zu unterscheiden weiß von der objektiven Natur und schon in seiner Vernunft die Ideen trägt, die sich ihm in der Erscheinungswelt kundgeben. Im Men- schen kommt die Gottheit zum Selbstbewußtsein, und solches Selbstbewußtsein offenbart sie wieder durch den Menschen. Aber dieses geschieht nicht in dem einzelnen und durch den einzelnen Menschen, sondern in und durch die Gesamtheit der Menschen, so daß jeder Mensch nur einen Teil des Gottweltalls auffaßt und darstellt, alle Menschen zusammen aber das ganze Gottweltall in der Idee und in der Realität auf- fassen und darstellen werden. Jedes Volk vielleicht hat die Sendung, einen bestimmten Teil jenes Gott- weltalls zu erkennen und kundzugeben, eine Reihe von Erscheinungen zu begreifen und eine Reihe von Ideen zur Erscheinung zu bringen und das Resultat den nachfolgenden Völkern, denen eine ähnliche Sen- dung obliegt, zu überliefern. Gott ist daher der eigent- liche Held der Weltgeschichte, diese ist sein beständi- ges Denken, sein beständiges Handeln, sein Wort, seine Tat; und von der ganzen Menschheit kann man mit Recht sagen, sie ist eine Inkarnation Gottes! Es ist eine irrige Meinung, daß diese Religion, der Pantheismus, die Menschen zum Indifferentismus führe. Im Gegenteil, das Bewußtsein seiner Göttlich- keit wird den Menschen auch zur Kundgebung dersel- ben begeistern, und jetzt erst werden die wahren Großtaten des wahren Heroentums diese Erde verherr- lichen. Die politische Revolution, die sich auf die Prinzipi- en des französischen Materialismus stützt, wird in den Pantheisten keine Gegner finden, sondern Gehül- fen, aber Gehülfen, die ihre Überzeugungen aus einer tieferen Quelle, aus einer religiösen Synthese, ge- schöpft haben. Wir befördern das Wohlsein der Mate- rie, das materielle Glück der Völker, nicht weil wir gleich den Materialisten den Geist mißachten, son- dern weil wir wissen, daß die Göttlichkeit des Men- schen sich auch in seiner leiblichen Erscheinung kundgibt und das Elend den Leib, das Bild Gottes, zerstört oder aviliert und der Geist dadurch ebenfalls zugrunde geht. Das große Wort der Revolution, das Saint-Just ausgesprochen: Le pain est le droit du peu- ple, lautet bei uns: Le pain est le droit divin de l'homme. Wir kämpfen nicht für die Menschenrechte des Volks, sondern für die Gottesrechte des Men- schen. Hierin, und in noch manchen andern Dingen, unterscheiden wir uns von den Männern der Revoluti- on. Wir wollen keine Sansculotten sein, keine frugale Bürger, keine wohlfeile Präsidenten: wir stiften eine Demokratie gleichherrlicher, gleichheiliger, gleichbe- seligter Götter. Ihr verlangt einfache Trachten, ent- haltsame Sitten und ungewürzte Genüsse; wir hinge- gen verlangen Nektar und Ambrosia, Purpurmäntel, kostbare Wohlgerüche, Wollust und Pracht, lachen- den Nymphentanz, Musik und Komödien - Seid deshalb nicht ungehalten, ihr tugendhaften Republika- ner! Auf eure zensorische Vorwürfe entgegnen wir euch, was schon ein Narr des Shakespeare sagte: »Meinst du, weil du tugendhaft bist, solle es auf die- ser Erde keine angenehmen Torten und keinen süßen Sekt mehr geben?« Die Saint-Simonisten haben etwas der Art begrif- fen und gewollt. Aber sie standen auf ungünstigem Boden, und der umgebende Materialismus hat sie nie- dergedrückt, wenigstens für einige Zeit. In Deutsch- land hat man sie besser gewürdigt. Denn Deutschland ist der gedeihlichste Boden des Pantheismus; dieser ist die Religion unserer größten Denker, unserer be- sten Künstler, und der Deismus, wie ich späterhin er- zählen werde, ist dort längst in der Theorie gestürzt. Er erhält sich dort nur noch in der gedankenlosen Masse, ohne vernünftige Berechtigung, wie so man- ches andere. Man sagt es nicht, aber jeder weiß es; der Pantheismus ist das öffentliche Geheimnis in Deutschland. In der Tat, wir sind dem Deismus ent- wachsen. Wir sind frei und wollen keinen donnernden Tyrannen. Wir sind mündig und bedürfen keiner vä- terlichen Vorsorge. Auch sind wir keine Machwerke eines großen Mechanikus. Der Deismus ist eine Reli- gion für Knechte, für Kinder, für Genfer, für Uhrma- cher. Der Pantheismus ist die verborgene Religion Deutschlands, und daß es dahin kommen würde, haben diejenigen deutschen Schriftsteller vorausgese- hen, die schon vor funfzig Jahren so sehr gegen Spi- noza eiferten. Der wütendste dieser Gegner Spinozas war Fr. Heinr. Jacobi, dem man zuweilen die Ehre er- zeigt, ihn unter den deutschen Philosophen zu nennen. Er war nichts als ein zänkischer Schleicher, der sich in dem Mantel der Philosophie vermummt und sich bei den Philosophen einschlich, ihnen erst viel von seiner Liebe und weichem Gemüte vorwimmerte und dann auf die Vernunft losschmähte. Sein Refrain war immer, die Philosophie, die Erkenntnis durch Ver- nunft, sei eitel Wahn, die Vernunft wisse selbst nicht, wohin sie führe, sie bringe den Menschen in ein dunk- les Labyrinth von Irrtum und Widerspruch, und nur der Glaube könne ihn sicher leiten. Der Maulwurf! er sah nicht, daß die Vernunft der ewigen Sonne gleicht, die, während sie droben sicher einherwandelt, sich selber mit ihrem eignen Lichte ihren Pfad beleuchtet. Nichts gleicht dem frommen, gemütlichen Hasse des kleinen Jacobi gegen den großen Spinoza. Merkwürdig ist es, wie die verschiedensten Partei- en gegen Spinoza gekämpft. Sie bilden eine Armee, deren bunte Zusammensetzung den spaßhaftesten An- blick gewährt. Neben einem Schwarm schwarzer und weißer Kapuzen, mit Kreuzen und dampfenden Weih- rauchfässern, marschiert die Phalanx der Enzyklopädisten, die ebenfalls gegen diesen penseur téméraire eifern. Neben dem Rabbiner der Amsterda- mer Synagoge, der mit dem Bockshorn des Glaubens zum Angriff bläst, wandelt Arouet de Voltaire, der mit der Pickelflöte der Persiflage zum Besten des De- ismus musiziert. Dazwischen greint das alte Weib Ja- cobi, die Marketenderin dieser Glaubensarmee. Wir entrinnen so schnell als möglich solchem Cha- rivari. Zurückkehrend von unserem pantheistischen Ausflug, gelangen wir wieder zur Leibnizischen Phi- losophie und haben ihre weitern Schicksale zu erzäh- len. Leibniz hatte seine Werke, die ihr kennt, teils in lateinischer, teils in französischer Sprache geschrie- ben. Christian Wolff heißt der vortreffliche Mann, der die Ideen des Leibniz nicht bloß systematisierte, son- dern auch in deutscher Sprache vortrug. Sein eigentli- ches Verdienst besteht nicht darin, daß er die Ideen des Leibniz in ein festes System einschloß, noch we- niger darin, daß er sie durch die deutsche Sprache dem größeren Publikum zugänglich machte: sein Ver- dienst besteht darin, daß er uns anregte, auch in unse- rer Muttersprache zu philosophieren. Wie wir bis Lu- ther die Theologie, so haben wir bis Wolff die Philo- sophie nur in lateinischer Sprache zu behandeln ge- wußt. Das Beispiel einiger wenigen, die schon vorher dergleichen auf deutsch vortrugen, blieb ohne Erfolg; aber der Literarhistoriker muß ihrer mit besonderem Lobe gedenken. Hier erwähnen wir daher namentlich des Johannes Tauler, eines Dominikanermönchs, der zu Anfang des vierzehnten Jahrhunderts am Rheine geboren und 1361 ebendaselbst, ich glaube zu Straß- burg, gestorben ist. Er war ein frommer Mann und ge- hörte zu jenen Mystikern, die ich als die platonische Partei des Mittelalters bezeichnet habe. In den letzten Jahren seines Lebens entsagte dieser Mann allem ge- lehrten Dünkel, schämte sich nicht, in der demütigen Volkssprache zu predigen, und diese Predigten, die er aufgezeichnet, sowie auch die deutschen Übersetzun- gen, die er von einigen seiner früheren lateinischen Predigten mitgeteilt, gehören zu den merkwürdigsten Denkmälern der deutschen Sprache. Denn hier zeigt sie schon, daß sie zu metaphysischen Untersuchungen nicht bloß tauglich, sondern weit geeigneter ist als die lateinische. Diese letztere, die Sprache der Römer, kann nie ihren Ursprung verleugnen. Sie ist eine Kommandosprache für Feldherren, eine Dekretalspra- che für Administratoren, eine Justizsprache für Wu- cherer, eine Lapidarsprache für das steinharte Römer- volk. Sie wurde die geeignete Sprache für den Mate- rialismus. Obgleich das Christentum, mit wahrhaft christlicher Geduld, länger als ein Jahrtausend sich damit abgequält, diese Sprache zu spiritualisieren, so ist es ihm doch nicht gelungen; und als Johannes Tauler sich ganz versenken wollte in die schauerlich- sten Abgründe des Gedankens und als sein Herz am heiligsten schwoll, da mußte er deutsch sprechen. Seine Sprache ist wie ein Bergquell, der aus harten Felsen hervorbricht, wunderbar geschwängert von un- bekanntem Kräuterduft und geheimnisvollen Stein- kräften. Aber erst in neuerer Zeit ward die Benutzbar- keit der deutschen Sprache für die Philosophie recht bemerklich. In keiner anderen Sprache hätte die Natur ihr geheimstes Werk offenbaren können wie in unse- rer lieben deutschen Muttersprache. Nur auf der star- ken Eiche konnte die heilige Mistel gedeihen. Hier wäre wohl der Ort zur Besprechung des Para- celsus oder, wie er sich nannte, des Theophrastus Pa- racelsus Bombastus von Hohenheim. Denn auch er schrieb meistens deutsch. Aber ich habe später in einer noch bedeutungsvolleren Beziehung von ihm zu reden. Seine Philosophie war nämlich das, was wir heutzutage Naturphilosophie nennen, und eine solche Lehre von der ideenbelebten Natur, wie sie dem deut- schen Geiste so geheimnisvoll zusagt, hätte sich schon damals bei uns ausgebildet, wenn nicht, durch zufälligen Einfluß, die leblose, mechanistische Physik der Cartesianer allgemein herrschend geworden wäre. Paracelsus war ein großer Scharlatan und trug immer einen Scharlachrock, eine Scharlachhose, rote Strümpfe und einen roten Hut und behauptete, homunculi, kleine Menschen, machen zu können, we- nigstens stand er in vertrauter Bekanntschaft mit ver- borgenen Wesen, die in den verschiedenen Elementen hausen - aber er war zugleich einer der tiefsinnigsten Naturkundigen, die mit deutschem Forscherherzen den vorchristlichen Volksglauben, den germanischen Pantheismus begriffen und, was sie nicht wußten, ganz richtig geahnt haben. Von Jakob Böhme sollte eigentlich auch hier die Rede sein. Denn er hat ebenfalls die deutsche Sprache zu philosophischen Darstellungen benutzt und wird in diesem Betracht sehr gelobt. Aber ich habe mich noch nie entschließen können, ihn zu lesen. Ich laß mich nicht gern zum Narren halten. Ich habe nämlich die Lobredner dieses Mystikers in Verdacht, daß sie das Publikum mystifizieren wollen. Was den Inhalt seiner Werke betrifft, so hat euch ja Saint-Martin einiges davon in französischer Sprache mitgeteilt. Auch die Engländer haben ihn übersetzt. Karl I. hatte von die- sem theosophischen Schuster eine so große Idee, daß er eigens einen Gelehrten zu ihm nach Görlitz schick- te, um ihn zu studieren. Dieser Gelehrte war glückli- cher als sein königlicher Herr. Denn während dieser zu Whitehall den Kopf verlor durch Cromwells Beil, hat jener zu Görlitz, durch Jakob Böhmes Theoso- phie, nur den Verstand verloren. Wie ich bereits gesagt, erst Christian Wolff hat mit Erfolg die deutsche Sprache in die Philosophie einge- führt. Sein geringeres Verdienst war sein Systemati- sieren und sein Popularisieren der Leibnizischen Ideen. Beides unterliegt sogar dem größten Tadel, und wir müssen beiläufig dessen erwähnen. Sein Systema- tisieren war nur eitel Schein, und das Wichtigste der Leibnizischen Philosophie war diesem Scheine geop- fert, z. B. der beste Teil der Monadenlehre. Leibniz hatte freilich kein systematisches Lehrgebäude hinter- lassen, sondern nur die dazu nötigen Ideen. Eines Rie- sen bedurfte es, um die kolossalen Quadern und Säu- len zusammenzusetzen, die ein Riese aus den tiefsten Marmorbrüchen hervorgeholt und zierlich ausgemei- ßelt hatte. Das wär ein schöner Tempel geworden. Christian Wolff jedoch war von sehr untersetzter Sta- tur und konnte nur einen Teil solcher Baumaterialien bemeistern, und er verarbeitete sie zu einer kümmerli- chen Stiftshütte des Deismus. Wolff war mehr ein en- zyklopädischer Kopf als ein systematischer, und die Einheit einer Lehre begriff er nur unter der Form der Vollständigkeit. Er war zufrieden mit einem gewissen Fachwerk, wo die Fächer schönstens geordnet, be- stens gefüllt und mit deutlichen Etiketten versehen sind. So gab er uns eine »Enzyklopädie der philoso- phischen Wissenschaften«. Daß er, der Enkel des Descartes, die großväterliche Form der mathemati- schen Beweisführung geerbt hat, versteht sich von selbst. Diese mathematische Form habe ich bereits bei Spinoza gerügt. Durch Wolff stiftete sie großes Un- heil. Sie degenerierte bei seinen Schülern zum unleid- lichsten Schematismus und zur lächerlichen Manie, alles in mathematischer Weise zu demonstrieren. Es entstand der sogenannte Wolffsche Dogmatismus. Alles tiefere Forschen hörte auf, und ein langweiliger Eifer nach Deutlichkeit trat an dessen Stelle. Die Wolffsche Philosophie wurde immer wäßriger und überschwemmte endlich ganz Deutschland. Die Spu- ren dieser Sündflut sind noch heutzutage bemerkbar, und hie und da, auf unseren höchsten Musensitzen, findet man noch alte Fossilien aus der Wolffschen Schule. Christian Wolff wurde geboren 1679 zu Breslau und starb 1754 zu Halle. Über ein halbes Jahrhundert dauerte seine Geistesherrschaft in Deutschland. Sein Verhältnis zu den Theologen jener Tage müssen wir besonders erwähnen, und wir ergänzen damit unsere Mitteilungen über die Schicksale des Luthertums. In der ganzen Kirchengeschichte gibt es keine ver- wickeltere Partie als die Streitigkeiten der protestanti- schen Theologen seit dem Dreißigjährigen Krieg. Nur das spitzfündige Gezänke der Byzantiner ist damit zu vergleichen; jedoch war dieses nicht so langweilig, da große, staatsinteressante Hofintrigen sich dahinter versteckten, statt daß die protestantische Klopffechterei meistens in dem Pedantismus enger Magisterköpfe und Schulfüchse ihren Grund hatte. Die Universitäten, besonders Tübingen, Wittenberg, Leipzig und Halle, sind die Schauplätze jener theolo- gischen Kämpfe. Die zwei Parteien, die wir, im ka- tholischen Gewande, während dem ganzen Mittelalter kämpfen sahen, die platonische und die aristotelische, haben nur Kostüme gewechselt und befehden sich nach wie vor. Das sind die Pietisten und die Orthodo- xen, deren ich schon oben erwähnt und die ich als Mystiker ohne Phantasie und Dogmatiker ohne Geist bezeichnet habe. Johannes Spener war der Scotus Eri- gena des Protestantismus, und wie dieser durch seine Übersetzung des fabelhaften Dionysius Areopagita den katholischen Mystizismus begründet, so begrün- dete jener den protestantischen Pietismus durch seine Erbauungsversammlungen, colloquia pietatis, woher vielleicht der Namen Pietisten seinen Anhängern ge- blieben ist. Er war ein frommer Mann, Ehre seinem Andenken. Ein Berliner Pietist, Herr Franz Horn, hat eine gute Biographie von ihm geliefert. Das Leben Speners ist ein beständiges Martyrtum für die christli- che Idee. Er war in diesem Betracht seinen Zeitgenos- sen überlegen. Er drang auf gute Werke und Fröm- migkeit, er war viel mehr ein Prediger des Geistes als des Wortes. Sein homiletisches Wesen war damals löblich. Denn die ganze Theologie, wie sie auf den erwähnten Universitäten gelehrt wurde, bestand nur in engbrüstiger Dogmatik und wortklaubender Polemik. Exegese und Kirchengeschichte wurden ganz beiseite gesetzt. Ein Schüler jenes Speners, Hermann Francke, be- gann in Leipzig Vorlesungen zu halten nach dem Bei- spiele und im Sinne seines Lehrers. Er hielt sie auf deutsch, ein Verdienst, welches wir immer gern mit Anerkennung erwähnen. Der Beifall, den er dabei er- warb, erregte den Neid seiner Kollegen, die deshalb unserem armen Pietisten das Leben sehr sauer mach- ten. Er mußte das Feld räumen, und er begab sich nach Halle, wo er mit Wort und Tat das Christentum lehrte. Sein Andenken ist dort unverwelklich, denn er ist der Stifter des Halleschen Waisenhauses. Die Uni- versität Halle ward nun bevölkert von Pietisten, und man nannte sie »die Waisenhauspartei«. Nebenbei ge- sagt, diese hat sich dort bis auf heutigen Tag erhalten; Halle ist noch bis jetzt die Taupinière der Pietisten, und ihre Streitigkeiten mit den protestantischen Ratio- nalisten haben noch vor einigen Jahren einen Skandal erregt, der durch ganz Deutschland seinen Mißduft verbreitete. Glückliche Franzosen, die ihr nichts davon gehört habt! Sogar die Existenz jener evangeli- schen Klatschblätter, worin die frommen Fischweiber der protestantischen Kirche sich weidlich ausge- schimpft, ist euch unbekannt geblieben. Glückliche Franzosen, die ihr keinen Begriff davon habt, wie hä- misch, wie kleinlich, wie widerwärtig unsre evangeli- schen Priester einander begeifern können. Ihr wißt, ich bin kein Anhänger des Katholizismus. In meinen jetzigen religiösen Überzeugungen lebt zwar nicht mehr die Dogmatik, aber doch immer der Geist des Protestantismus. Ich bin also für die protestantische Kirche noch immer parteiisch. Und doch muß ich, der Wahrheit wegen, eingestehen, daß ich nie in den An- nalen des Papismus solche Miserabilitäten gefunden habe, wie in der Berliner »Evangelischen Kirchenzei- tung« bei dem erwähnten Skandal zum Vorschein kamen. Die feigsten Mönchstücken, die kleinlichsten Klosterränke sind noch immer noble Gutmütigkeiten in Vergleichung mit den christlichen Heldentaten, die unsere protestantischen Orthodoxen und Pietisten gegen die verhaßten Rationalisten ausübten. Von dem Haß, der bei solchen Gelegenheiten zum Vorschein kommt, habt ihr Franzosen keinen Begriff. Die Deut- schen sind aber überhaupt vindikativer als die roma- nischen Völker. Das kommt daher, sie sind Idealisten auch im Haß. Wir hassen uns nicht um Außendinge, wie ihr, etwa wegen beleidigter Eitelkeit, wegen eines Epigramms, wegen einer nicht erwiderten Visitenkarte, nein, wir hassen bei unsern Feinden das Tiefste, das Wesent- lichste, das in ihnen ist, den Gedanken. Ihr Franzosen seid leichtfertig und oberflächlich, wie in der Liebe, so auch im Haß. Wir Deutschen hassen gründlich, dauernd; da wir zu ehrlich, auch zu unbeholfen sind, um uns mit schneller Perfidie zu rächen, so hassen wir bis zu unserem letzten Atemzug. »Ich kenne, mein Herr, diese deutsche Ruhe«, sagte jüngst eine Dame, indem sie mich mit großgeöffneten Augen ungläubig und beängstigt ansah; »ich weiß, ihr Deutschen gebraucht dasselbe Wort für Verzeihen und Vergiften.« Und in der Tat, sie hat recht, das Wort Vergeben bedeutet beides. Es waren nun, wenn ich nicht irre, die halleschen Orthodoxen, welche, in ihrem Kampfe mit den einge- siedelten Pietisten, die Wolffsche Philosophie zu Hülfe riefen. Denn die Religion, wenn sie uns nicht mehr verbrennen kann, kommt sie bei uns betteln. Aber alle unsere Gaben bringen ihr schlechten Ge- winn. Das mathematische, demonstrative Gewand, womit Wolff die arme Religion recht liebevoll einge- kleidet hatte, paßte ihr so schlecht, daß sie sich noch beengter fühlte und in dieser Beengnis sehr lächerlich machte. Überall platzten die schwachen Nähte. Be- sonders der verschämte Teil, die Erbsünde, trat hervor in seiner grellsten Blöße. Hier half kein logisches Fei- genblatt. Christlich-lutherische Erbsünde und Leibniz Wolffscher Optimismus sind unverträglich. Die fran- zösische Persiflage des Optimismus mißfiel daher am wenigsten unseren Theologen. Voltaires Witz kam der nackten Erbsünde zugute. Der deutsche Pangloß hat aber, durch die Vernichtung des Optimismus, sehr viel verloren und suchte lange nach einer ähnlichen Trostlehre, bis das Hegelsche Wort »Alles, was ist, ist vernünftig!« ihm einigen Ersatz bot. Von dem Augenblick an, wo eine Religion bei der Philosophie Hülfe begehrt, ist ihr Untergang unab- wendlich. Sie sucht sich zu verteidigen und schwatzt sich immer tiefer ins Verderben hinein. Die Religion, wie jeder Absolutismus, darf sich nicht justifizieren. Prometheus wird an den Felsen gefesselt von der schweigenden Gewalt. Ja, Äschylus läßt die personifi- zierte Gewalt kein einziges Wort reden. Sie muß stumm sein. Sobald die Religion einen räsonierenden Katechismus drucken läßt, sobald der politische Ab- solutismus eine offizielle Staatszeitung herausgibt, haben beide ein Ende. Aber das ist eben unser Tri- umph, wir haben unsere Gegner zum Sprechen ge- bracht, und sie müssen uns Rede stehn. Es ist freilich nicht zu leugnen, daß der religiöse Absolutismus, ebenso wie der politische, sehr gewal- tige Organe seines Wortes gefunden hat. Doch laßt uns darob nicht bange sein. Lebt das Wort, so wird es von Zwergen getragen; ist das Wort tot, so können es keine Riesen aufrechterhalten. Seitdem nun, wie ich oben erzählt, die Religion Hülfe suchte bei der Philosophie, wurden von den deutschen Gelehrten, außer der neuen Einkleidung, noch unzählige Experimente mit ihr angestellt. Man wollte ihr eine neue Jugend bereiten, und man benahm sich dabei ungefähr wie Medea bei der Verjüngung des Königs Äson. Zuerst wurde ihr zur Ader gelassen, alles abergläubische Blut wurde ihr langsam abge- zapft; um mich bildlos auszudrücken: es wurde der Versuch gemacht, allen historischen Inhalt aus dem Christentume herauszunehmen und nur den morali- schen Teil zu bewahren. Hierdurch ward nun das Christentum zu einem reinen Deismus. Christus hörte auf, Mitregent Gottes zu sein, er wurde gleichsam me- diatisiert, und nur noch als Privatperson fand er aner- kennende Verehrung. Seinen moralischen Charakter lobte man über alle Maßen. Man konnte nicht genug rühmen, welch ein braver Mensch er gewesen sei. Was die Wunder betrifft, die er verrichtet, so erklärte man sie physikalisch, oder man suchte sowenig Auf- hebens als möglich davon zu machen. Wunder, sagten einige, waren nötig in jenen Zeiten des Aberglaubens, und ein vernünftiger Mann, der irgendeine Wahrheit zu verkündigen hatte, bediente sich ihrer gleichsam als Annonce. Diese Theologen, die alles Historische aus dem Christentume schieden, heißen Rationalisten, und gegen diese wendete sich sowohl die Wut der Pietisten als auch der Orthodoxen, die sich seitdem minder heftig befehdeten und nicht selten verbünde- ten. Was die Liebe nicht vermochte, das vermochte der gemeinschaftliche Haß, der Haß gegen die Ratio- nalisten. Diese Richtung in der protestantischen Theologie beginnt mit dem ruhigen Semler, den ihr nicht kennt, erstieg schon eine besorgliche Höhe mit dem klaren Teller, den ihr auch nicht kennt, und erreichte ihren Gipfel mit dem seichten Bahrdt, an dessen Bekannt- schaft ihr nichts verliert. Die stärksten Anregungen kamen von Berlin, wo Friedrich der Große und der Buchhändler Nicolai regierten. Über ersteren, den gekrönten Materialismus, seid ihr hinlänglich unterrichtet. Ihr wißt, daß er französi- sche Verse machte, sehr gut die Flöte blies, die Schlacht bei Roßbach gewann, viel Tabak schnupfte und nur an Kanonen glaubte. Einige von euch haben gewiß auch Sanssouci besucht, und der alte Invalide, der dort Schloßwart, hat euch in der Bibliothek die französischen Romane gezeigt, die Friedrich als Kronprinz in der Kirche las und die er in schwarzen Maroquin einbinden lassen, damit sein gestrenger Vater glaubte, er läse in einem lutherischen Gesang- buche. Ihr kennt ihn, den königlichen Weltweisen, den ihr den Salomo des Nordens genannt habt. Frank- reich war das Ophir dieses nordischen Salomons, und von dorther erhielt er seine Poeten und Philosophen, für die er eine große Vorliebe hegte, gleich dem Salo- mo des Südens, welcher, wie ihr im Buche der Köni- ge, Kapitel 10, lesen könnt, durch seinen Freund Hiram ganze Schiffsladungen von Gold, Elfenbein, Poeten und Philosophen aus Ophir kommen ließ. Wegen solcher Vorliebe für ausländische Talente konnte nun freilich Friedrich der Große keinen allzu großen Einfluß auf den deutschen Geist gewinnen. Er beleidigte vielmehr, er kränkte das deutsche National- gefühl. Die Verachtung, die Friedrich der Große unse- rer Literatur angedeihen ließ, muß sogar uns Enkel noch verdrießen. Außer dem alten Gellert hatte keiner derselben sich seiner allergnädigsten Huld zu erfreu- en. Die Unterredung, die er mit demselben führte, ist merkwürdig. Hat aber Friedrich der Große uns verhöhnt, ohne uns zu unterstützen, so unterstützte uns desto mehr der Buchhändler Nicolai, ohne daß wir deshalb Be- denken trugen, ihn zu verhöhnen. Dieser Mann war sein ganzes Leben lang unablässig tätig für das Wohl des Vaterlandes, er scheute weder Mühe noch Geld, wo er etwas Gutes zu befördern hoffte, und doch ist noch nie in Deutschland ein Mann so grausam, so un- erbittlich, so zernichtend verspottet worden wie eben dieser Mann. Obgleich wir, die Spätergeborenen, recht wohl wissen, daß der alte Nicolai, der Freund der Aufklärung, sich in der Hauptsache durchaus nicht irrte; obgleich wir wissen, daß es meistens unse- re eignen Feinde, die Obskuranten, gewesen, die ihn zugrunde persifliert: so können wir doch nicht mit ganz ernsthaftem Gesichte an ihn denken. Der alte Ni- colai suchte in Deutschland dasselbe zu tun, was die französischen Philosophen in Frankreich getan: er suchte die Vergangenheit im Geiste des Volks zu ver- nichten; eine löbliche Vorarbeit, ohne welche keine radikale Revolution stattfinden kann. Aber vergebens, er war solcher Arbeit nicht gewachsen. Die alten Rui- nen standen noch zu fest, und die Gespenster stiegen daraus hervor und verhöhnten ihn; dann aber wurde er sehr unwirsch und schlug blind drein, und die Zu- schauer lachten, wenn ihm die Fledermäuse um die Ohren zischten und sich in seiner wohlgepuderten Pe- rücke verfingen. Auch geschah es wohl zuweilen, daß er Windmühlen für Riesen ansah und dagegen focht. Noch schlimmer aber bekam es ihm, wenn er manch- mal wirkliche Riesen für bloße Windmühlen ansah, z. B. einen Wolfgang Goethe. Er schrieb eine Satire gegen dessen »Werther«, worin er alle Intentionen des Autors aufs plumpste verkannte. Indessen in der Hauptsache hatte er immer recht; wenn er auch nicht begriffen, was Goethe mit seinem »Werther« eigent- lich sagen wollte, so begriff er doch ganz gut dessen Wirkung, die weichliche Schwärmerei, die unfrucht- bare Sentimentalität, die durch diesen Roman aufkam und mit jeder vernünftigen Gesinnung, die uns not tat, in feindlichem Widerspruch war. Hier stimmte Nico- lai ganz überein mit Lessing, der an einen Freund fol- gendes Urteil über den »Werther« schrieb: »Wenn ein so warmes Produkt nicht mehr Unheil als Gutes stiften soll, meinen Sie nicht, daß es noch eine kleine kalte Schlußrede haben müßte? Ein paar Winke hinterher, wie Werther zu einem so abenteuer- lichen Charakter gekommen; wie ein anderer Jüng- ling, dem die Natur eine ähnliche Anlage gegeben, sich davor zu bewahren habe. Glauben Sie wohl, daß je ein römischer oder griechischer Jüngling sich so, und darum, das Leben genommen? Gewiß nicht. Die wußten sich vor der Schwärmerei der Liebe ganz an- ders zu sichern; und zu Sokrates' Zeiten würde man eine solche ex erôtos katochê, welche ti tolman para physis antreibt, nur kaum einem Mädelchen verziehen haben. Solche kleingroße, verächtlich schätzbare Ori- ginale hervorzubringen war nur der christlichen Erzie- hung vorbehalten, die ein körperliches Bedürfnis so schön in eine geistige Vollkommenheit zu verwandeln weiß. Also, lieber Goethe, noch ein Kapitelchen zum Schlusse; und je zynischer, je besser!« Freund Nicolai hat nun wirklich, nach solcher An- gabe, einen veränderten »Werther« herausgegeben. Nach dieser Version hat sich der Held nicht totge- schossen, sondern nur mit Hühnerblut besudelt; denn statt mit Blei war die Pistole nur mit letzterem gela- den. Werther wird lächerlich, bleibt leben, heiratet Charlotte, kurz, endet noch tragischer als im Goethe- schen Original. Die »Allgemeine deutsche Bibliothek« hieß die Zeitschrift, die Nicolai gegründet und worin er und seine Freunde gegen Aberglauben, Jesuiten, Hofla- kaien u. dgl. kämpften. Es ist nicht zu leugnen, daß mancher Hieb, der dem Aberglauben galt, unglückli- cherweise die Poesie selbst traf. So stritt Nicolai z. B. gegen die aufkommende Vorliebe für altdeutsche Volkslieder. Aber im Grunde hatte er wieder recht; bei aller möglichen Vorzüglichkeit enthielten doch jene Lieder mancherlei Erinnerungen, die eben nicht zeitgemäß waren, die alten Klänge der Kuhreigen des Mittelalters konnten die Gemüter des Volks wieder in den Glaubensstall der Vergangenheit zurücklocken. Er suchte, wie Odysseus, die Ohren seiner Gefährten zu verstopfen, damit sie den Gesang der Sirenen nicht hörten, unbekümmert, daß sie alsdann auch taub wur- den für die unschuldigen Töne der Nachtigall. Damit das Feld der Gegenwart nur radikal von allem Un- kraut gesäubert werde, trug der praktische Mann wenig Bedenken, auch die Blumen mit auszureuten. Dagegen erhob sich nun feindlichst die Partei der Blu- men und Nachtigallen und alles, was zu dieser Partei gehört, Schönheit, Grazie, Witz und Scherz, und der arme Nicolai unterlag. In dem heutigen Deutschland haben sich die Um- stände geändert, und die Partei der Blumen und der Nachtigallen ist eng verbunden mit der Revolution. Uns gehört die Zukunft, und es dämmert schon herauf die Morgenröte des Sieges. Wenn einst sein schöner Tag sein Licht über unser ganzes Vaterland ergießt, dann gedenken wir auch der Toten; dann gedenken wir gewiß auch deiner, alter Nicolai, armer Märtyrer der Vernunft! Wir werden deine Asche nach dem deutschen Pantheon tragen, der Sarkophag umgeben vom jubelnden Triumphzug und begleitet vom Chor der Musikanten, unter deren Blasinstrumenten beilei- be keine Querpfeife sein wird; wir werden auf deinem Sarg die anständigste Lorbeerkrone legen, und wir werden uns alle mögliche Mühe geben, nicht dabei zu lachen. Da ich von den philosophischen und religiösen Zu- ständen jener Zeit einen Begriff geben möchte, muß ich hier auch derjenigen Denker erwähnen, die mehr oder minder in Gemeinschaft mit Nicolai zu Berlin tätig waren und gleichsam ein Justemilieu zwischen Philosophen und Belletristik bildeten. Sie hatten kein bestimmtes System, sondern nur eine bestimmte Ten- denz. Sie gleichen den englischen Moralisten in ihrem Stil und in ihren letzten Gründen. Sie schreiben ohne wissenschaftlich strenge Form, und das sittliche Bewußtsein ist die einzige Quelle ihrer Erkenntnis. Ihre Tendenz ist ganz dieselbe, die wir bei den fran- zösischen Philanthropen finden. In der Religion sind sie Rationalisten. In der Politik sind sie Weltbürger. In der Moral sind sie Menschen, edle, tugendhafte Menschen, streng gegen sich selbst, milde gegen an- dere. Was Talent betrifft, so mögen wohl Mendels- sohn, Sulzer, Abbt, Moritz, Garve, Engel und Biester als die ausgezeichnesten genannt werden. Moritz ist mir der liebste. Er leistete viel in der Erfahrungssee- lenkunde. Er war von einer köstlichen Naivität, wenig verstanden von seinen Freunden. Seine Lebensge- schichte ist eins der wichtigsten Denkmäler jener Zeit. Mendelssohn hat jedoch vor allen übrigen eine große soziale Bedeutung. Er war der Reformator der deut- schen Israeliten, seiner Glaubensgenossen, er stürzte das Ansehen des Talmudismus, er begründete den rei- nen Mosaismus. Dieser Mann, den seine Zeitgenossen den deutschen Sokrates nannten und wegen seines Seelenadels und seiner Geisteskraft so ehrfurchtsvoll bewunderten, war der Sohn eines armen Küsters der Synagoge von Dessau. Außer diesem Geburtsübel hatte ihn die Vorsehung auch noch mit einem Buckel belastet, gleichsam um dem Pöbel in recht greller Weise die Lehre zu geben, daß man den Menschen nicht nach seiner äußern Erscheinung, sondern nach seinem innern Werte schätzen solle. Oder hat ihm die Vorsehung, eben aus gütiger Vorsicht, einen Buckel zugeteilt, damit er manche Unbill des Pöbels einem Übel zuschreibe, worüber ein Weiser sich leicht trö- sten kann? Wie Luther das Papsttum, so stürzte Mendelssohn den Talmud, und zwar in derselben Weise, indem er nämlich die Tradition verwarf, die Bibel für die Quel- le der Religion erklärte und den wichtigsten Teil derselben übersetzte. Er zerstörte hierdurch den jüdi- schen wie Luther den christlichen Katholizismus. In der Tat, der Talmud ist der Katholizismus der Juden. Er ist ein gotischer Dom, der zwar mit kindischen Schnörkeleien überladen, aber doch durch seine him- melkühne Riesenhaftigkeit uns in Erstaunen setzt. Er ist eine Hierarchie von Religionsgesetzen, die oft die putzigsten, lächerlichsten Subtilitäten betreffen, aber so sinnreich einander über- und untergeordnet sind, einander stützen und tragen und so furchtbar konse- quent zusammenwirken, daß sie ein grauenhaft trotzi- ges, kolossales Ganze bilden. Nach dem Untergang des christlichen Katholizis- mus mußte auch der jüdische, der Talmud, unterge- hen. Denn der Talmud hatte alsdann seine Bedeutung verloren; er diente nämlich nur als Schutzwerk gegen Rom, und ihm verdanken es die Juden, daß sie dem christlichen Rom ebenso heldenmütig wie einst dem heidnischen Rom widerstehen konnten. Und sie haben nicht bloß widerstanden, sondern auch gesiegt. Der arme Rabbi von Nazareth, über dessen sterbendes Haupt der heidnische Römer die hämischen Worte schrieb: »König der Juden«- ebendieser dornenge- krönte, mit dem ironischen Purpur behängte Spottkö- nig der Juden wurde am Ende der Gott der Römer, und sie mußten vor ihm niederknien! Wie das heidni- sche Rom wurde auch das christliche Rom besiegt, und dieses wurde sogar tributär. Wenn du, teurer Leser, dich in den ersten Tagen des Trimesters nach der Straße Lafitte verfügen willst, und zwar nach dem Hotel Numero funfzehn, so siehst du dort vor einem hohen Portal eine schwerfällige Kutsche, aus welcher ein dicker Mann hervorsteigt. Dieser begibt sich die Treppe hinauf nach einem kleinen Zimmer, wo ein blonder junger Mensch sitzt, der dennoch älter ist, als er wohl aussieht, und in dessen vornehmer grandseig- neurlicher Nonchalance dennoch etwas so Solides liegt, etwas so Positives, etwas so Absolutes, als habe er alles Geld dieser Welt in seiner Tasche. Und wirk- lich, er hat alles Geld dieser Welt in seiner Tasche, und er heißt Monsieur James de Rothschild, und der dicke Mann ist Monsignor Grimbaldi, Abgesandter Seiner Heiligkeit des Papstes, und er bringt in dessen Namen die Zinsen der römischen Anleihe, den Tribut von Rom. Wozu jetzt noch der Talmud? Moses Mendelssohn verdient daher großes Lob, daß er diesen jüdischen Katholizismus, wenigstens in Deutschland, gestürzt hat. Denn was überflüssig ist, ist schädlich. Die Tradition verwerfend, suchte er je- doch das mosaische Zeremonialgesetz als religiöse Verpflichtung aufrechtzuerhalten. War es Feigheit oder Klugheit? War es eine wehmütige Nachliebe, die ihn abhielt, die zerstörende Hand an Gegenstände zu legen, die seinen Vorvätern am heiligsten waren und wofür soviel Märtyrerblut und Märtyrertränen geflos- sen? Ich glaube nicht. Wie die Könige der Materie, so müssen auch die Könige des Geistes unerbittlich sein gegen Familiengefühle; auch auf dem Throne des Ge- dankens darf man keinen sanften Gemütlichkeiten nachgeben. Ich bin deshalb vielmehr der Meinung, daß Moses Mendelssohn in dem reinen Mosaismus eine Institution sah, die dem Deismus gleichsam als eine letzte Verschanzung dienen konnte. Denn der Deismus war sein innerster Glaube und seine tiefste Überzeugung. Als sein Freund Lessing starb und man denselben des Spinozismus anklagte, verteidigte er ihn mit dem ängstlichsten Eifer, und er ärgerte sich bei dieser Gelegenheit zu Tode. Ich habe hier schon zum zweiten Male den Namen genannt, den kein Deutscher aussprechen kann, ohne daß in seiner Brust ein mehr oder minder starkes Echo laut wird. Aber seit Luther hat Deutschland keinen größeren und besseren Mann hervorgebracht als Gott- hold Ephraim Lessing. Diese beiden sind unser Stolz und unsere Wonne. In der Trübnis der Gegenwart schauen wir hinauf nach ihren tröstenden Standbil- dern, und sie nicken eine glänzende Verheißung. Ja, kommen wird auch der dritte Mann, der da vollbringt, was Luther begonnen, was Lessing fortgesetzt und dessen das deutsche Vaterland so sehr bedarf - der dritte Befreier! - Ich sehe schon seine goldne Rü- stung, die aus dem purpurnen Kaisermantel hervor- strahlt, »wie die Sonne aus dem Morgenrot!« Gleich dem Luther wirkte Lessing nicht nur, indem er etwas Bestimmtes tat, sondern indem er das deut- sche Volk bis in seine Tiefen aufregte und indem er eine heilsame Geisterbewegung hervorbrachte, durch seine Kritik, durch seine Polemik. Er war die lebendi- ge Kritik seiner Zeit, und sein ganzes Leben war Po- lemik. Diese Kritik machte sich geltend im weitesten Bereiche des Gedankens und des Gefühls, in der Reli- gion, in der Wissenschaft, in der Kunst. Diese Pole- mik überwand jeden Gegner und erstarkte nach jedem Siege. Lessing, wie er selbst eingestand, bedurfte eben des Kampfes zu der eignen Geistesentwickelung. Er glich ganz jenem fabelhaften Normann, der die Ta- lente, Kenntnisse und Kräfte derjenigen Männer erbte, die er im Zweikampf erschlug, und in dieser Weise endlich mit allen möglichen Vorzügen und Vortrefflichkeiten begabt war. Begreiflich ist es, daß solch ein streitlustiger Kämpe nicht geringen Lärm in Deutschland verursachte, in dem stillen Deutschland, das damals noch sabbatlich stiller war als heute. Ver- blüfft wurden die meisten ob seiner literarischen Kühnheit. Aber eben diese kam ihm hülfreich zustat- ten; denn Oser! ist das Geheimnis des Gelingens in der Literatur, ebenso wie in der Revolution - und in der Liebe. Vor dem Lessingschen Schwerte zitterten alle. Kein Kopf war vor ihm sicher. Ja, manchen Schädel hat er sogar aus Übermut heruntergeschlagen, und dann war er dabei noch so boshaft, ihn vom Boden aufzuheben und dem Publikum zu zeigen, daß er inwendig hohl war. Wen sein Schwert nicht errei- chen konnte, den tötete er mit den Pfeilen seines Wit- zes. Die Freunde bewunderten die bunten Schwungfe- dern dieser Pfeile; die Feinde fühlten die Spitze in ihren Herzen. Der Lessingsche Witz gleicht nicht jenem Enjouement, jener Gaité, jenen springenden Saillies, wie man hierzuland dergleichen kennt. Sein Witz war kein kleines französisches Windhündchen, das seinem eigenen Schatten nachläuft; sein Witz war vielmehr ein großer deutscher Kater, der mit der Maus spielt, ehe er sie würgt. Ja, Polemik war die Lust unseres Lessings, und daher überlegte er nie lange, ob auch der Gegner sei- ner würdig war. So hat er, eben durch seine Polemik, manchen Namen der wohlverdientesten Vergessenheit entrissen. Mehre winzige Schriftstellerlein hat er mit dem geistreichsten Spott, mit dem köstlichsten Humor gleichsam umsponnen, und in den Lessingschen Wer- ken erhalten sie sich nun für ewige Zeiten wie Insek- ten, die sich in einem Stück Bernstein verfangen. Indem er seine Gegner tötete, machte er sie zugleich unsterblich. Wer von uns hätte jemals etwas von jenem Klotz erfahren, an welchen Lessing soviel Hohn und Scharfsinn verschwendet! Die Felsen- blöcke, die er auf diesen armen Antiquar geschleudert und womit er ihn zerschmettert, sind jetzt dessen un- verwüstliches Denkmal. Merkwürdig ist es, daß jener witzigste Mensch in Deutschland auch zugleich der ehrlichste war. Nichts gleicht seiner Wahrheitsliebe. Lessing machte der Lüge nicht die mindeste Konzession, selbst wenn er dadurch, in der gewöhnlichen Weise der Weltklugen, den Sieg der Wahrheit befördern konnte. Er konnte alles für die Wahrheit tun, nur nicht lügen. »Wer dar- auf denkt«, sagte er einst, »die Wahrheit unter allerlei Larven und Schminken an den Mann zu bringen, der möchte wohl gern ihr Kuppler sein, aber ihr Liebha- ber ist er nie gewesen.« Das schöne Wort Buffons »Der Stil ist der Mensch selber!« ist auf niemand anwendbarer als auf Lessing. Seine Schreibart ist ganz wie sein Charakter, wahr, fest, schmucklos, schön und imposant durch die in- wohnende Stärke. Sein Stil ist ganz der Stil der römi- schen Bauwerke: höchste Solidität bei der höchsten Einfachheit; gleich Quadersteinen ruhen die Sätze aufeinander, und wie bei jenen das Gesetz der Schwe- re, so ist bei diesen die logische Schlußfolge das un- sichtbare Bindemittel. Daher in der Lessingschen Prosa sowenig von jenen Füllwörtern und Wendungs- künsten, die wir bei unserem Periodenbau gleichsam als Mörtel gebrauchen. Noch viel weniger finden wir da jene Gedankenkaryatiden, welche ihr la belle phra- se nennt. Daß ein Mann wie Lessing niemals glücklich sein konnte, werdet ihr leicht begreifen. Und wenn er auch nicht die Wahrheit geliebt hätte und wenn er sie auch nicht selbstwillig überall verfochten hätte, so mußte er doch unglücklich sein; denn er war ein Genie. »Alles wird man dir verzeihen«, sagte jüngst ein seuf- zender Dichter, »man verzeiht dir deinen Reichtum, man verzeiht dir die hohe Geburt, man verzeiht dir deine Wohlgestalt, man Läßt dir sogar Talent hinge- hen, aber man ist unerbittlich gegen das Genie.« Ach! und begegnet ihm auch nicht der böse Wille von außen, so fände das Genie doch schon in sich selber den Feind, der ihm Elend bereitet. Deshalb ist die Ge- schichte der großen Männer immer eine Märtyrerle- gende; wenn sie auch nicht litten für die große Menschheit, so litten sie doch für ihre eigene Größe, für die große Art ihres Seins, das Unphilisterliche, für ihr Mißbehagen an der prunkenden Gemeinheit, der lächelnden Schlechtigkeit ihrer Umgebung, ein Miß- behagen, welches sie natürlich zu Extravaganzen bringt, z.B. zum Schauspielhaus oder gar zum Spiel- haus - wie es dem armen Lessing begegnete. Mehr als dieses hat ihm aber der böse Leumund nicht nach sagen können, und aus seiner Biographie erfahren wir nur, daß ihm schöne Komödiantinnen amüsanter dünkten als hamburgische Pastöre und daß stumme Karten ihm bessere Unterhaltung gewährten als schwatzende Wolffianer. Es ist herzzerreißend, wenn wir in dieser Biogra- phie lesen, wie das Schicksal auch jede Freude diesem Manne versagt hat und wie es ihm nicht einmal ver- gönnte, in der Umfriedung der Familie sich von sei- nen täglichen Kämpfen zu erholen. Einmal nur schien Fortuna ihn begünstigen zu wollen, sie gab ihm ein geliebtes Weib, ein Kind - aber dieses Glück war wie der Sonnenstrahl, der den Fittich eines vorüberflie- genden Vogels vergoldet, es schwand ebensoschnell, das Weib starb infolge des Wochenbetts, das Kind schon bald nach der Geburt, und über letzteres schrieb er einem Freunde die gräßlich witzigen Worte: »Meine Freude war nur kurz. Und ich verlor ihn ungern, diesen Sohn! Denn er hatte soviel Verstand! soviel Verstand! - Glauben Sie nicht, daß die weni- gen Stunden meiner Vaterschaft mich schon zu so einem Affen von Vater gemacht haben! Ich weiß, was ich sage. - War es nicht Verstand, daß man ihn mit eisernen Zangen auf die Welt ziehen mußte? daß er so bald Unrat merkte? - War es nicht Verstand, daß er die erste Gelegenheit ergriff, sich wieder davonzuma- chen? - Ich wollte es auch einmal so gut haben wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekom- men.« Ein Unglück gab es, worüber sich Lessing nie gegen seine Freunde ausgesprochen: dieses war seine schaurige Einsamkeit, sein geistiges Alleinstehn. Ei- nige seiner Zeitgenossen liebten ihn, keiner verstand ihn. Mendelssohn, sein bester Freund, verteidigte ihn mit Eifer, als man ihn des Spinozismus beschuldigte. Verteidigung und Eifer waren ebenso lächerlich wie überflüssig. Beruhige dich im Grabe, alter Moses; dein Lessing war zwar auf dem Wege zu diesem ent- setzlichen Irrtum, zu diesem jammervollen Unglück, nämlich zum Spinozismus - aber der Allerhöchste, der Vater im Himmel, hat ihn noch zur rechten Zeit durch den Tod gerettet. Beruhige dich, dein Lessing war kein Spinozist, wie die Verleumdung behauptete; er starb als guter Deist wie du und Nicolai und Teller und die »Allgemeine deutsche Bibliothek«! Lessing war nur der Prophet, der aus dem zweiten Testamente ins dritte hinüberdeutete. Ich habe ihn den Fortsetzer des Luther genannt, und eigentlich in dieser Eigenschaft habe ich ihn hier zu besprechen. Von sei- ner Bedeutung für die deutsche Kunst kann ich erst später reden. In dieser hat er nicht bloß durch seine Kritik, sondern auch durch sein Beispiel eine heilsa- me Reform bewirkt, und diese Seite seiner Tätigkeit wird gewöhnlich zumeist hervorgehoben und beleuch- tet. Wir jedoch betrachten ihn von einem anderen Standpunkte aus, und seine philosophischen und theo- logischen Kämpfe sind uns wichtiger als seine Dra- maturgie und seine Dramata. Letztere jedoch, wie alle seine Schriften, haben eine soziale Bedeutung, und »Nathan der Weise« ist im Grunde nicht bloß eine gute Komödie, sondern auch eine philosophisch-theo- logische Abhandlung zugunsten des reinen Deismus. Die Kunst war für Lessing ebenfalls eine Tribüne, und wenn man ihn von der Kanzel oder vom Katheder herabstieß, dann sprang er aufs Theater und sprach dort noch viel deutlicher und gewann ein noch zahl- reicheres Publikum. Ich sage, Lessing hat den Luther fortgesetzt. Nach- dem Luther uns von der Tradition befreit und die Bibel zur alleinigen Quelle des Christentums erhoben hatte, da entstand, wie ich schon oben erzählt, ein starrer Wortdienst, und der Buchstabe der Bibel herrschte ebenso tyrannisch wie einst die Tradition. Zur Befreiung von diesem tyrannischen Buchstaben hat nun Lessing am meisten beigetragen. Wie Luther ebenfalls nicht der einzige war, der die Tradition be- kämpft, so kämpfte Lessing zwar nicht allein, aber doch am gewaltigsten gegen den Buchstaben. Hier er- schallt am lautesten seine Schlachtstimme. Hier schwingt er sein Schwert am freudigsten, und es leuchtet und tötet. Hier aber auch wird Lessing am stärksten bedrängt von der schwarzen Schar, und in solcher Bedrängnis rief er einst aus: »O sancta simplicitas! - Aber noch bin ich nicht da, wo der gute Mann, der dieses ausrief, nur noch dieses ausrufen konnte. (Hus rief dieses auf dem Scheiterhaufen.) Erst soll uns hören, erst soll über uns urteilen, wer hören und urteilen kann und will! O daß er es könnte, er, den ich am liebsten zu mei- nem Richter haben möchte! - Luther, du! - Großer, verkannter Mann! Und von niemanden mehr verkannt als von den Starrköpfen, die, deine Pantoffeln in der Hand, den von dir gebahnten Weg schreiend, aber gleichgültig daherschlendern! - Du hast uns von dem Joche der Tradition erlöst: wer erlöset uns von dem unerträglicheren Joche des Buchstabens! Wer bringt uns endlich ein Christentum, wie du es itzt lehren würdest, wie es Christus selbst lehren würde!« Ja, der Buchstabe, sagte Lessing, sei die letzte Hülle des Christentums, und erst nach Vernichtung dieser Hülle trete hervor der Geist. Dieser Geist ist aber nichts anders als das, was die Wolffschen Philo- sophen zu demonstrieren gedacht, was die Philanthro- pen in ihrem Gemüte gefühlt, was Mendelssohn im Mosaismus gefunden, was die Freimaurer gesungen, was die Poeten gepfiffen, was sich damals in Deutsch- land unter allen Formen geltend machte: der reine De- ismus. Lessing starb zu Braunschweig, im Jahr 1781, ver- kannt, gehaßt und verschrien. In demselben Jahre er- schien zu Königsberg die »Kritik der reinen Ver- nunft« von Immanuel Kant. Mit diesem Buche, wel- ches durch sonderbare Verzögerung erst am Ende der achtziger Jahre allgemein bekannt wurde, beginnt eine geistige Revolution in Deutschland, die mit der mate- riellen Revolution in Frankreich die sonderbarsten Analogien bietet und dem tieferen Denker ebenso wichtig dünken muß wie jene. Sie entwickelt sich mit denselben Phasen, und zwischen beiden herrscht der merkwürdigste Parallelismus. Auf beiden Seiten des Rheines sehen wir denselben Bruch mit der Vergan- genheit, der Tradition wird alle Ehrfurcht aufgekün- digt; wie hier in Frankreich jedes Recht, so muß dort in Deutschland jeder Gedanke sich justifizieren, und wie hier das Königtum, der Schlußstein der alten so- zialen Ordnung, so stürzt dort der Deismus, der Schlußstein des geistigen alten Regimes. Von dieser Katastrophe, von dem 21. Januar des Deismus, sprechen wir im folgenden Stücke. Ein ei- gentümliches Grauen, eine geheimnisvolle Pietät er- laubt uns heute nicht, weiterzuschreiben. Unsere Brust ist voll von entsetzlichem Mitleid - es ist der alte Jehova selber, der sich zum Tode bereitet. Wir haben ihn so gut gekannt, von seiner Wiege an, in Ägypten, als er unter göttlichen Kälbern, Krokodilen, heiligen Zwiebeln, Ibissen und Katzen erzogen wurde - Wir haben ihn gesehen, wie er diesen Ge- spielen seiner Kindheit und den Obelisken und Sphin- xen seines heimatlichen Niltals ade sagte und in Palä- stina, bei einem armen Hirtenvölkchen, ein kleiner Gottkönig wurde und in einem eigenen Tempelpalast wohnte- Wir sahen ihn späterhin, wie er mit der assy- risch-babylonischen Zivilisation in Berührung kam und seine allzu menschlichen Leidenschaften ablegte, nicht mehr lauter Zorn und Rache spie, wenigstens nicht mehr wegen jeder Lumperei gleich donnerte - Wir sahen ihn auswandern nach Rom, der Hauptstadt, wo er aller Nationalvorurteile entsagte und die himm- lische Gleichheit aller Völker proklamierte und mit solchen schönen Phrasen gegen den alten Jupiter Op- position bildete und so lange intrigierte, bis er zur Herrschaft gelangte und vom Kapitole herab die Stadt und die Welt, urbem et orbem, regierte - Wir sahen, wie er sich noch mehr vergeistigte, wie er sanftselig wimmerte, wie er ein liebevoller Vater wurde, ein all- gemeiner Menschenfreund, ein Weltbeglücker, ein Philanthrop - es konnte ihm alles nichts helfen - Hört ihr das Glöckchen klingeln? Kniet nieder - Man bringt die Sakramente einem sterbenden Gotte. |
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