Motto: Varnhagen von Enses »Biographische
Denkmale«. 1. Teil, S. 1 und 2
Geschrieben auf der Insel Norderney
- - - Die Eingeborenen sind meistens blutarm und
leben vom Fischfang, der erst im nächsten Monat, im
Oktober, bei stürmischem Wetter, seinen Anfang
nimmt. Viele dieser Insulaner dienen auch als Matro-
sen auf fremden Kauffahrteischiffen und bleiben jah-
relang vom Hause entfernt, ohne ihren Angehörigen
irgendeine Nachricht von sich zukommen zu lassen.
Nicht selten finden sie den Tod auf dem Wasser. Ich
habe einige arme Weiber auf der Insel gefunden,
deren ganze männliche Familie solcherweise umge-
kommen, was sich leicht ereignet, da der Vater mit
seinen Söhnen gewöhnlich auf demselben Schiffe zur
See fährt.
Das Seefahren hat für diese Menschen einen großen
Reiz; und dennoch, glaube ich, daheim ist ihnen allen
am wohlsten zumute. Sind sie auch auf ihren Schiffen
sogar nach jenen südlichen Ländern gekommen, wo
die Sonne blühender und der Mond romantischer
leuchtet, so können doch alle Blumen dort nicht den
Leck ihres Herzens stopfen, und mitten in der dufti-
gen Heimat des Frühlings sehnen sie sich wieder zu-
rück nach ihrer Sandinsel, nach ihren kleinen Hütten,
nach dem flackernden Herde, wo die Ihrigen, wohl-
verwahrt in wollenen Jacken, herumkauern und einen
Tee trinken, der sich von gekochtem Seewasser nur
durch den Namen unterscheidet, und eine Sprache
schwatzen, wovon kaum begreiflich scheint, wie es
ihnen selber möglich ist, sie zu verstehen.
Was diese Menschen so fest und genügsam zusam-
menhält, ist nicht so sehr das innig mystische Gefühl
der Liebe als vielmehr die Gewohnheit, das naturge-
mäße Ineinander-Hinüberleben, die gemeinschaftliche
Unmittelbarkeit. Gleiche Geisteshöhe oder, besser ge-
sagt, Geistesniedrigkeit, daher gleiche Bedürfnisse
und gleiches Streben; gleiche Erfahrungen und Gesin-
nungen, daher leichtes Verständnis untereinander; und
sie sitzen verträglich am Feuer in den kleinen Hütten,
rücken zusammen, wenn es kalt wird, an den Augen
sehen sie sich ab, was sie denken, die Worte lesen sie
sich von den Lippen, ehe sie gesprochen worden, alle
gemeinsamen Lebensbeziehungen sind ihnen im Ge-
dächtnisse, und durch einen einzigen Laut, eine
einzige Miene, eine einzige stumme Bewegung erre-
gen sie untereinander soviel Lachen oder Weinen oder
Andacht, wie wir bei unseresgleichen erst durch lange
Expositionen, Expektorationen und Deklamationen
hervorbringen können. Denn wir leben im Grunde
geistig einsam; durch eine besondere Erziehungsme-
thode oder zufällig gewählte besondere Lektüre hat
jeder von uns eine verschiedene Charakterrichtung
empfangen; jeder von uns, geistig verlarvt, denkt,
fühlt und strebt anders als die andern, und des Miß-
verständnisses wird so viel, und selbst in weiten Häu-
sern wird das Zusammenleben so schwer, und wir
sind überall beengt, überall fremd und überall in der
Fremde.
In jenem Zustande der Gedanken- und Gefühls-
gleichheit, wie wir ihn bei unseren Insulanern sehen,
lebten oft ganze Völker und haben oft ganze Zeitalter
gelebt. Die römisch-christliche Kirche im Mittelalter
hat vielleicht einen solchen Zustand in den Korpora-
tionen des ganzen Europa begründen wollen und
nahm deshalb alle Lebensbeziehungen, alle Kräfte
und Erscheinungen, den ganzen physischen und mora-
lischen Menschen unter ihre Vormundschaft. Es läßt
sich nicht leugnen, daß viel ruhiges Glück dadurch
gegründet ward und das Leben warm-inniger blühte
und die Künste, wie still hervorgewachsene Blumen,
jene Herrlichkeit entfalteten, die wir noch jetzt
anstaunen und mit all unserem hastigen Wissen nicht
nachahmen können. Aber der Geist hat seine ewigen
Rechte, er läßt sich nicht eindämmen durch Satzungen
und nicht einlullen durch Glockengeläute; er zerbrach
seinen Kerker und zerriß das eiserne Gängelband,
woran ihn die Mutterkirche leitete, und er jagte im
Befreiungstaumel über die ganze Erde, erstieg die
höchsten Gipfel der Berge, jauchzte vor Übermut, ge-
dachte wieder uralter Zweifel, grübelte über die Wun-
der des Tages und zählte die Sterne der Nacht. Wir
kennen noch nicht die Zahl der Sterne, die Wunder
des Tages haben wir noch nicht enträtselt, die alten
Zweifel sind mächtig geworden in unserer Seele - ist
jetzt mehr Glück darin als ehemals? Wir wissen, daß
diese Frage, wenn sie den großen Haufen betrifft,
nicht leicht bejaht werden kann; aber wir wissen auch,
daß ein Glück, das wir der Lüge verdanken, kein
wahres Glück ist und daß wir, in den einzelnen zerris-
senen Momenten eines gottgleicheren Zustandes,
einer höheren Geisteswürde, mehr Glück empfinden
können als in den lang hinvegetierten Jahren eines
dumpfen Köhlerglaubens.
Auf jeden Fall war jene Kirchenherrschaft eine Un-
terjochung der schlimmsten Art. Wer bürgte uns für
die gute Absicht, wie ich sie eben ausgesprochen?
Wer kann beweisen, daß sich nicht zuweilen eine
schlimme Absicht beimischte? Rom wollte immer
herrschen, und als seine Legionen fielen, sandte es
Dogmen in die Provinzen. Wie eine Riesenspinne saß
Rom im Mittel punkte der lateinischen Welt und
überzog sie mit seinem unendlichen Gewebe. Genera-
tionen der Völker lebten darunter ein beruhigtes
Leben, indem sie das für einen nahen Himmel hielten,
was bloß römisches Gewebe war; nur der höherstre-
bende Geist, der dieses Gewebe durchschaute, fühlte
sich beengt und elend, und wenn er hindurchbrechen
wollte, erhaschte ihn leicht die schlaue Weberin und
sog ihm das kühne Blut aus dem Herzen; - und war
das Traumglück der blöden Menge nicht zu teuer er-
kauft für solches Blut? Die Tage der Geistes knecht-
schaft sind vorüber; alterschwach, zwischen den ge-
brochenen Pfeilern ihres Koliseums sitzt die alte
Kreuzspinne und spinnt noch immer das alte Gewebe,
aber es ist matt und morsch, und es verfangen sich
darin nur Schmetterlinge und Fledermäuse und nicht
mehr die Steinadler des Nordens.
- Es ist doch wirklich belächelnswert, während ich
im Begriff bin, mich so recht wohlwollend über die
Absichten der römischen Kirche zu verbreiten, erfaßt
mich plötzlich der angewöhnte protestantische Eifer,
der ihr immer das Schlimmste zumutet; und eben die-
ser Meinungszwiespalt in mir selbst gibt mir wieder
ein Bild von der Zerrissenheit der Denkweise unserer
Zeit. Was wir gestern bewundert, hassen wir heute,
und morgen vielleicht verspotten wir es mit Gleich-
gültigkeit.
Auf einem gewissen Standpunkte ist alles gleich
groß und gleich klein, und an die großen europäischen
Zeitverwandlungen werde ich erinnert, indem ich den
kleinen Zustand unserer armen Insulaner betrachte.
Auch diese stehen an der Grenze einer solchen neuen
Zeit, und ihre alte Sinneseinheit und Einfalt wird ge-
stört durch das Gedeihen des hiesigen Seebades,
indem sie dessen Gästen täglich etwas Neues ablau-
schen, was sie nicht mit ihrer altherkömmlichen Le-
bensweise zu vereinen wissen. Stehen sie des Abends
vor den erleuchteten Fenstern des Konversationshau-
ses und betrachten dort die Verhandlungen der Herren
und Damen, die verständlichen Blicke, die begehrli-
chen Grimassen, das lüsterne Tanzen, das vergnügte
Schmausen, das habsüchtige Spielen usw., so bleibt
das für diese Menschen nicht ohne schlimme Folgen,
die von dem Geldgewinn, der ihnen durch die Bade-
anstalt zufließt, nimmermehr aufgewogen werden.
Dieses Geld reicht nicht hin für die eindringenden
neuen Bedürfnisse; daher innere Lebensstörung,
schlimmer Anreiz, großer Schmerz. Als ich ein Knabe
war, fühlte ich immer eine brennende Sehnsucht,
wenn schön gebackene Torten, wovon ich nichts be-
kommen sollte, duftigoffen bei mir vorübergetragen
wurden; späterhin stachelte mich dasselbe Gefühl,
wenn ich modisch entblößte, schöne Damen vorbei-
spazieren sah; und ich denke jetzt, die armen Insula-
ner, die noch in einem Kindheitszustande leben,
haben hier oft Gelegenheit zu ähnlichen Empfindun-
gen, und es wäre gut, wenn die Eigentümer der schö-
nen Torten und Frauen solche etwas mehr verdeckten.
Diese vielen unbedeckten Delikatessen, woran jene
Leute nur die Augen weiden können, müssen ihren
Appetit sehr stark wecken, und wenn die armen Insu-
lanerinnen in ihrer Schwangerschaft allerlei süßge-
backene Gelüste bekommen und am Ende sogar Kin-
der zur Welt bringen, die den Badegästen ähnlich
sehen, so ist das leicht zu erklären. Ich will hier
durchaus auf kein unsittliches Verhältnis anspielen.
Die Tugend der Insulanerinnen wird durch ihre Häß-
lichkeit und gar besonders durch ihren Fischgeruch,
der mir wenigstens unerträglich war, vorderhand ge-
schützt. Ich würde, wenn ihre Kinder mit badegästli-
chen Gesichtern zur Welt kommen, vielmehr ein psy-
chologisches Phänomen erkennen und mir solches
durch jene materialistisch-mystischen Gesetze erklä-
ren, die Goethe in den »Wahlverwandtschaften« so
schön entwickelt.
Wie viele rätselhafte Naturerscheinungen sich
durch jene Gesetze erklären lassen, ist erstaunlich.
Als ich voriges Jahr, durch Seesturm, nach einer an-
deren ostfriesischen Insel verschlagen wurde, sah ich
dort in einer Schifferhütte einen schlechten Kupfer-
stich hängen, la tentation du vieillard überschrieben
und einen Greis darstellend, der in seinen Studien ge-
stört wird durch die Erscheinung eines Weibes, das
bis an die nackten Hüften aus einer Wolke her-
vortaucht; und sonderbar! die Tochter des Schiffers
hatte dasselbe lüsterne Mopsgesicht wie das Weib auf
jenem Bilde. Um ein anderes Beispiel zu erwähnen:
Im Hause eines Geldwechslers, dessen geschäftfüh-
rende Frau das Gepräge der Münzen immer am sorg-
fältigsten betrachtet, fand ich, daß die Kinder in ihren
Gesichtern eine erstaunliche Ähnlichkeit hatten mit
den größten Monarchen Europas, und wenn sie alle
beisammen waren und miteinander stritten, glaubte
ich einen kleinen Kongreß zu sehen.
Deshalb ist das Gepräge der Münzen kein gleich-
gültiger Gegenstand für den Politiker. Da die Leute
das Geld so innig lieben und gewiß liebevoll betrach-
ten, so bekommen die Kinder sehr oft die Züge des
Landesfürsten, der darauf geprägt ist, und der arme
Fürst kommt in den Verdacht, der Vater seiner Unter-
tanen zu sein. Die Bourbonen haben ihre guten Grün-
de, die Napoleonsdor einzuschmelzen; sie wollen
nicht mehr unter ihren Franzosen so viele Napoleons-
köpfe sehen. Preußen hat es in der Münzpolitik am
weitesten gebracht, man weiß es dort, durch eine ver-
ständige Beimischung von Kupfer, so einzurichten,
daß die Wangen des Königs auf der neuen Scheide
münze gleich rot werden, und seit einiger Zeit haben
daher die Kinder in Preußen ein weit gesünderes An-
sehen als früherhin, und es ist ordentlich eine Freude,
wenn man ihre blühenden Silbergroschengesichtchen
betrachtet.
Ich habe, indem ich das Sittenverderbnis andeutete,
womit die Insulaner hier bedroht sind, die geistliche
Schutzwehr, ihre Kirche, unerwähnt gelassen. Wie
diese eigentlich aussieht, kann ich nicht genau berich-
ten, da ich noch nicht darin gewesen. Gott weiß, daß
ich ein guter Christ bin und oft sogar im Begriff stehe,
sein Haus zu besuchen, aber ich werde immer fataler-
weise daran verhindert, es findet sich gewöhnlich ein
Schwätzer, der mich auf dem Wege festhält, und ge-
lange ich auch einmal bis an die Pforten des Tempels,
so erfaßt mich unversehens eine spaßhafte Stimmung,
und dann halte ich es für sündhaft, hineinzutreten.
Vorigen Sonntag begegnete mir etwas der Art, indem
mir vor der Kirchtür die Stelle aus Goethes »Faust« in
den Kopf kam, wo dieser mit dem Mephistopheles bei
einem Kreuze vorübergeht und ihn fragt:
»Mephisto, hast du Eil'?
Was schlägst vorm Kreuz die Augen nieder?«
und worauf Mephistopheles antwortet:
»Ich weiß es wohl, es ist ein Vorurteil;
Allein es ist mir mal zuwider.«
Diese Verse sind, soviel ich weiß, in keiner Ausga-
be des »Fausts« gedruckt, und bloß der selige Hofrat
Moritz, der sie aus Goethes Manuskript kannte, teilt
sie mit in seinem »Philipp Reiser«, einem schon ver-
schollenen Romane, der die Geschichte des Verfassers
enthält oder vielmehr die Geschichte einiger hundert
Taler, die der Verfasser nicht hatte und wodurch sein
ganzes Leben eine Reihe von Entbehrungen und Ent-
sagungen wurde, während doch seine Wünsche nichts
weniger als unbescheiden waren, wie z.B. sein
Wunsch, nach Weimar zu gehen und bei dem Dichter
des »Werthers« Bedienter zu werden, unter welchen
Bedingungen es auch sei, um nur in der Nähe desjeni-
gen zu leben, der von allen Menschen auf Erden den
stärksten Eindruck auf sein Gemüt gemacht hatte.
Wunderbar! damals schon erregte Goethe eine sol-
che Begeisterung, und doch ist erst »unser drittes
nachwachsendes Geschlecht« imstande, seine wahre
Größe zu begreifen.
Aber dieses Geschlecht hat auch Menschen hervor-
gebracht, in deren Herzen nur faules Wasser sintert
und die daher in den Herzen anderer alle Springquel-
len eines frischen Blutes verstopfen möchten, Men-
schen von erloschener Genußfähigkeit, die das Leben
verleumden und anderen alle Herrlichkeit dieser Welt
verleiden wollen, indem sie solche als die Lockspei-
sen schildern, die der Böse bloß zu unserer Versu-
chung hingestellt habe, gleichwie eine pfiffige Haus-
frau die Zuckerdose mit den gezählten Stückchen
Zucker in ihrer Abwesenheit offen stehenläßt, um die
Enthaltsamkeit der Magd zu prüfen; und diese Men-
schen haben einen Tugendpöbel um sich versammelt
und predigen ihm das Kreuz gegen den großen Heiden
und gegen seine nackten Göttergestalten, die sie gern
durch ihre vermummten dummen Teufel ersetzen
möchten.
Das Vermummen ist so recht ihr höchstes Ziel, das
Nackt göttliche ist ihnen fatal, und ein Satyr hat
immer seine guten Gründe, wenn er Hosen anzieht
und darauf dringt, daß auch Apollo Hosen anziehe.
Die Leute nennen ihn dann einen sittlichen Mann und
wissen nicht, daß in dem Clauren-Lächeln eines ver-
mummten Satyrs mehr Anstößiges liegt als in der
ganzen Nacktheit eines Wolfgang Apollo und daß just
in den Zeiten, wo die Menschheit jene Pluderhosen
trug, wozu sechzig Ellen Zeug nötig waren, die Sitten
nicht anständiger gewesen sind als jetzt.
Aber werden es mir nicht die Damen übelnehmen,
daß ich Hosen statt Beinkleider sage? Oh, über das
Feingefühl der Damen! Am Ende werden nur Eunu-
chen für sie schreiben dürfen, und ihre Geistesdiener
im Okzident werden so harmlos sein müssen wie ihre
Leibdiener im Orient.
Hier kommt mir ins Gedächtnis eine Stelle aus
»Bertholds Tagebuch«:
»›Wenn wir es recht überdenken, so stecken wir
doch alle nackt in unseren Kleidern‹, sagte der Doktor
M. zu einer Dame, die ihm eine etwas derbe Äuße-
rung übelgenommen hatte.«
Der hannövrische Adel ist mit Goethe sehr unzu-
frieden und behauptet, er verbreite Irreligiosität, und
diese könne leicht auch falsche politische Ansichten
hervorbringen, und das Volk müsse doch durch den
alten Glauben zur alten Bescheidenheit und Mäßi-
gung zurückgeführt werden. Auch hörte ich in der
letzten Zeit viel diskutieren, ob Goethe größer sei als
Schiller oder umgekehrt. Ich stand neulich hinter dem
Stuhle einer Dame, der man schon von hinten ihre
vierundsechzig Ahnen ansehen konnte, und hörte über
jenes Thema einen eifrigen Diskurs zwischen ihr und
zwei hannövrischen Nobilis, deren Ahnen schon auf
dem Zodiakus von Dendera abgebildet sind und
wovon der eine, ein langmagerer, quecksilbergefüllter
Jüngling, der wie ein Barometer aussah, die Schiller-
sche Tugend und Reinheit pries, während der andere,
ebenfalls ein langaufgeschossener Jüngling, einige
Verse aus der »Würde der Frauen« hinlispelte und
dabei so süß lächelte wie ein Esel, der den Kopf in
ein Sirupfaß gesteckt hatte und sich wohlgefällig die
Schnauze ableckt. Beide Jünglinge verstärkten ihre
Behauptungen beständig mit dem beteuernden Re-
frain: »Er ist doch größer, er ist wirklich größer,
wahrhaftig, er ist größer, ich versichere Sie auf Ehre,
er ist größer.« Die Dame war so gütig, auch mich in
dieses ästhetische Gespräch zu ziehen, und fragte:
»Doktor, was halten Sie von Goethe?« Ich aber legte
meine Arme kreuzweis auf die Brust, beugte gläubig
das Haupt und sprach: »La illah ill allah, wamoham-
med rasul allah!«
Die Dame hatte, ohne es selbst zu wissen, die aller-
schlaueste Frage getan. Man kann ja einen Mann
nicht gradezu fragen: »Was denkst du von Himmel
und Erde? was sind deine Ansichten über Menschen
und Menschenleben? bist du ein vernünftiges Ge-
schöpf oder ein dummer Teufel?« Diese delikaten
Fragen liegen aber alle in den unverfänglichen Wor-
ten: »Was halten Sie von Goethe?« Denn indem uns
allen Goethes Werke vor Augen liegen, so können wir
das Urteil, das jemand darüber fället, mit dem unsri-
gen schnell vergleichen, wir bekommen dadurch einen
festen Maßstab, womit wir gleich alle seine Gedanken
und Gefühle messen können, und er hat unbewußt
sein eignes Urteil gesprochen. Wie aber Goethe, auf
diese Weise, weil er eine gemeinschaftliche Welt ist,
die der Betrachtung eines jeden offenliegt, uns das
beste Mittel wird, um die Leute kennenzulernen, so
können wir wiederum Goethe selbst am besten ken-
nenlernen durch sein eignes Urteil über Gegenstände,
die uns allen vor Augen liegen und worüber uns
schon die bedeutendsten Menschen ihre Ansichten
mitgeteilt haben. In dieser Hinsicht möchte ich am
liebsten auf Goethes »Italienische Reise« hindeuten,
indem wir alle, entweder durch eigne Betrachtung
oder durch fremde Vermittelung, das Land Italien
kennen und dabei so leicht bemerken, wie jeder das-
selbe mit subjektiven Augen ansieht, dieser mit Ar-
chenhölzern unmutigen Augen, die nur das Schlimme
sehen, jener mit begeisterten Corinnaaugen, die über-
all nur das Herrliche sehen, während Goethe mit sei-
nem klaren Griechenauge alles sieht, das Dunkle und
das Helle, nirgends die Dinge mit seiner Gemütsstim-
mung koloriert und uns Land und Menschen schildert
in den wahren Umrissen und wahren Farben, womit
sie Gott umkleidet.
Das ist ein Verdienst Goethes, das erst spätere Zei-
ten erkennen werden; denn wir, die wir meist alle
krank sind, stecken viel zu sehr in unseren kranken,
zerrissenen, romantischen Gefühlen, die wir aus allen
Ländern und Zeitaltern zusammengelesen, als daß wir
unmittelbar sehen könnten, wie gesund, einheitlich
und plastisch sich Goethe in seinen Werken zeigt. Er
selbst merkt es ebensowenig; in seiner naiven
Unbewußtheit des eignen Vermögens wundert er sich,
wenn man ihm »ein gegenständliches Denken« zu-
schreibt, und indem er durch seine Selbstbiographie
uns selbst eine kritische Beihülfe zum Beurteilen sei-
ner Werke geben will, liefert er doch keinen Maßstab
der Beurteilung an und für sich, sondern nur neue
Fakta, woraus man ihn beurteilen kann, wie es ja na-
türlich ist, daß kein Vogel über sich selbst hinauszu-
fliegen vermag.
Spätere Zeiten werden, außer jenem Vermögen des
plastischen Anschauens, Fühlens und Denkens, noch
vieles in Goethe entdecken, wovon wir jetzt keine Ah-
nung haben. Die Werke des Geistes sind ewig festste-
hend, aber die Kritik ist etwas Wandelbares, sie geht
hervor aus den Ansichten der Zeit, hat nur für diese
ihre Bedeutung, und wenn sie nicht selbst kunstwert-
licher Art ist, wie z.B. die Schlegelsche, so geht sie
mit ihrer Zeit zu Grabe. Jedes Zeitalter, wenn es neue
Ideen bekömmt, bekömmt auch neue Augen und sieht
gar viel Neues in den alten Geisteswerken. Ein Schu-
barth sieht jetzt in der »Ilias« etwas anderes und viel
mehr als sämtliche Alexandriner; dagegen werden
einst Kritiker kommen, die viel mehr als Schubarth in
Goethe sehen.
So hätte ich mich dennoch an Goethe festge-
schwatzt! Aber solche Abschweifungen sind sehr na-
türlich, wenn einem, wie auf dieser Insel, beständig
das Meergeräusch in die Ohren dröhnt und den Geist
nach Belieben stimmt.
Es geht ein starker Nordostwind, und die Hexen
haben wieder viel Unheil im Sinne. Man hegt hier
nämlich wunderliche Sagen von Hexen, die den Sturm
zu beschwören wissen; wie es denn überhaupt auf
allen nordischen Meeren viel Aberglauben gibt. Die
Seeleute behaupten, manche Insel stehe unter der ge-
heimen Herrschaft ganz besonderer Hexen, und dem
bösen Willen derselben sei es zuzuschreiben, wenn
den vorbeifahrenden Schiffen allerlei Widerwärtigkei-
ten begegnen. Als ich voriges Jahr einige Zeit auf der
See lag, erzählte mir der Steuermann unseres Schiffes,
die Hexen wären besonders mächtig auf der Insel
Wight und suchten jedes Schiff, das bei Tage dort
vorbeifahren wolle, bis zur Nachtzeit aufzuhalten, um
es alsdann an Klippen oder an die Insel selbst zu trei-
ben. In solchen Fällen höre man diese Hexen so laut
durch die Luft sausen und um das Schiff herumheu-
len, daß der Klabotermann ihnen nur mit vieler Mühe
widerstehen könne. Als ich nun fragte, wer der Klabo-
termann sei, antwortete der Erzähler sehr ernsthaft:
»Das ist der gute, unsichtbare Schutzpatron der Schif-
fe, der da verhütet, daß den treuen und ordentlichen
Schiffern Unglück begegne, der da überall selbst
nachsieht und sowohl für die Ordnung wie für die
gute Fahrt sorgt.« Der wackere Steuermann
versicherte mit etwas heimlicherer Stimme, ich könne
ihn selber sehr gut im Schiffsraume hören, wo er die
Waren gern noch besser nachstaue, daher das Knarren
der Fässer und Kisten, wenn das Meer hoch gehe,
daher bisweilen das Dröhnen unserer Balken und
Bretter; oft hämmere der Klabotermann auch außen
am Schiffe, und das gelte dann dem Zimmermanne,
der dadurch gemahnt werde, eine schadhafte Stelle
ungesäumt auszubessern; am liebsten aber setze er
sich auf das Bramsegel, zum Zeichen, daß guter Wind
wehe oder sich nahe. Auf meine Frage, ob man ihn
nicht sehen könne, erhielt ich zur Antwort: Nein, man
sähe ihn nicht, auch wünsche keiner ihn zu sehen, da
er sich nur dann zeige, wenn keine Rettung mehr vor-
handen sei. Einen solchen Fall hatte zwar der gute
Steuermann noch nicht selbst erlebt, aber von andern
wollte er wissen, den Klabotermann höre man alsdann
vom Bramsegel herab mit den Geistern sprechen, die
ihm untertan sind; doch wenn der Sturm zu stark und
das Scheitern unvermeidlich würde, setze er sich auf
das Steuer, zeige sich da zum erstenmal und ver-
schwinde, indem er das Steuer zerbräche - diejenigen
aber, die ihn in diesem furchtbaren Augenblick sähen,
fänden unmittelbar darauf den Tod in den Wellen.
Der Schiffskapitän, der dieser Erzählung mit zuge-
hört hatte, lächelte so fein, wie ich seinem rauhen,
wind- und wetterdienenden Gesichte nicht zugetraut
hätte, und nachher versicherte er mir, vor funfzig und
gar vor hundert Jahren sei auf dem Meere der Glaube
an den Klabotermann so stark gewesen, daß man bei
Tische immer auch ein Gedeck für denselben aufge-
legt und von jeder Speise, etwa das Beste, auf seinen
Teller gelegt habe, ja, auf einigen Schiffen geschähe
das noch jetzt. -
Ich gehe hier oft am Strande spazieren und gedenke
solcher seemännischen Wundersagen. Die anziehend-
ste derselben ist wohl die Geschichte vom Fliegenden
Holländer, den man im Sturm mit aufgespannten Se-
geln vorbeifahren sieht und der zuweilen ein Boot
aussetzt, um den begegnenden Schiffern allerlei Briefe
mitzugeben, die man nachher nicht zu besorgen weiß,
da sie an längst verstorbene Personen adressiert sind.
Manchmal gedenke ich auch des alten, lieben Mär-
chens von dem Fischerknaben, der am Strande den
nächtlichen Reigen der Meernixen belauscht hatte und
nachher mit seiner Geige die ganze Welt durchzog
und alle Menschen zauberhaft entzückte, wenn er
ihnen die Melodie des Nixenwalzers vorspielte. Diese
Sage erzählte mir einst ein lieber Freund, als wir, im
Konzerte zu Berlin, solch einen wundermächtigen
Knaben, den Felix Mendelssohn-Bartholdy, spielen
hörten.
Einen eigentümlichen Reiz gewährt das Kreuzen
um die Insel. Das Wetter muß aber schön sein, die
Wolken müssen sich ungewöhnlich gestalten, und
man muß rücklings auf dem Verdecke liegen und in
den Himmel sehen und allenfalls auch ein Stückchen
Himmel im Herzen haben. Die Wellen murmeln als-
dann allerlei wunderliches Zeug, allerlei Worte,
woran liebe Erinnerungen flattern, allerlei Namen, die
wie süße Ahnung in der Seele widerklingen - »Eve-
lina!« Dann kommen auch Schiffe vorbeigefahren,
und man grüßt, als ob man sich alle Tage wiedersehen
könnte. Nur des Nachts hat das Begegnen fremder
Schiffe auf dem Meere etwas Unheimliches; man will
sich dann einbilden, die besten Freunde, die wir seit
Jahren nicht gesehen, führen schweigend vorbei und
man verlöre sie auf immer.
Ich liebe das Meer wie meine Seele.
Oft wird mir sogar zumute, als sei das Meer ei-
gentlich meine Seele selbst; und wie es im Meere ver-
borgene Wasserpflanzen gibt, die nur im Augenblick
des Aufblühens an dessen Oberfläche heraufschwim-
men und im Augenblick des Verblühens wieder hin-
abtauchen, so kommen zuweilen auch wunderbare
Blumenbilder heraufgeschwommen aus der Tiefe mei-
ner Seele und duften und leuchten und verschwinden
wieder - »Evelina!«
Man sagt, unfern dieser Insel, wo jetzt nichts als
Wasser ist, hätten einst die schönsten Dörfer und
Städte gestanden, das Meer habe sie plötzlich alle
überschwemmt, und bei klarem Wetter sähen die
Schiffer noch die leuchtenden Spitzen der versunke-
nen Kirchtürme, und mancher habe dort in der Sonn-
tagsfrühe sogar ein frommes Glockengeläute gehört.
Die Geschichte ist wahr; denn das Meer ist meine
Seele -
»Eine schöne Welt ist da versunken,
Ihre Trümmer blieben unten stehn,
Lassen sich als goldne Himmelsfunken
Oft im Spiegel meiner Träume sehn.«
W. Müller
Erwachend höre ich dann ein verhallendes Glockenge-
läute und Gesang heiliger Stimmen - »Evelina!«
Geht man am Strande spazieren, so gewähren die
vorbeifahrenden Schiffe einen schönen Anblick.
Haben sie die blendend weißen Segel aufgespannt, so
sehen sie aus wie vorbeiziehende große Schwäne. Gar
besonders schön ist dieser Anblick, wenn die Sonne
hinter dem vorbeisegelnden Schiffe untergeht und die-
ses, wie von einer riesigen Glorie, umstrahlt wird.
Die Jagd am Strande soll ebenfalls ein großes Ver-
gnügen gewähren. Was mich betrifft, so weiß ich es
nicht sonderlich zu schätzen. Der Sinn für das Edle,
Schöne und Gute läßt sich oft durch Erziehung den
Menschen beibringen; aber der Sinn für die Jagd liegt
im Blute. Wenn die Ahnen schon seit undenklichen
Zeiten Rehböcke geschossen haben, so findet auch der
Enkel ein Vergnügen an dieser legitimen Beschäfti-
gung. Meine Ahnen gehörten aber nicht zu den Jagen-
den, viel eher zu den Gejagten, und soll ich auf die
Nachkömmlinge ihrer ehemaligen Kollegen los-
drücken, so empört sich dawider mein Blut. Ja, aus
Erfahrung weiß ich, daß, nach abgesteckter Mensur,
es mir weit leichter wird, auf einen Jäger loszu-
drücken, der die Zeiten zurückwünscht, wo auch
Menschen zur hohen Jagd gehörten. Gottlob, diese
Zeiten sind vorüber! Gelüstet es jetzt solche Jäger,
wieder einen Menschen zu jagen, so müssen sie ihn
dafür bezahlen, wie z.B. den Schnelläufer, den ich vor
zwei Jahren in Göttingen sah. Der arme Mensch hatte
sich schon in der schwülen Sonntagshitze ziemlich
müde gelaufen, als einige hannövrische Junker, die
dort Humaniora studierten, ihm ein paar Taler boten,
wenn er den zurückgelegten Weg nochmals laufen
wolle; und der Mensch lief, und er war todblaß und
trug eine rote Jacke, und dicht hinter ihm, im wirbeln-
den Staube, galoppierten die wohlgenährten, edlen
Jünglinge auf hohen Rossen, deren Hufen zuweilen
den gehetzten, keuchenden Menschen trafen, und es
war ein Mensch.
Des Versuchs halber, denn ich muß mein Blut bes-
ser gewöhnen, ging ich gestern auf die Jagd. Ich
schoß nach einigen Möwen, die gar zu sicher umher-
flatterten und doch nicht bestimmt wissen konnten,
daß ich schlecht schieße. Ich wollte sie nicht treffen
und sie nur warnen, sich ein andermal vor Leuten mit
Flinten in acht zu nehmen; aber mein Schuß ging fehl,
und ich hatte das Unglück, eine junge Möwe totzu-
schießen. Es ist gut, daß es keine alte war; denn was
wäre dann aus den armen, kleinen Möwchen gewor-
den, die noch unbefiedert im Sandneste der großen
Düne liegen und ohne die Mutter verhungern müßten.
Mir ahndete schon vorher, daß mich auf der Jagd ein
Mißgeschick treffen würde; ein Hase war mir über
den Weg gelaufen.
Gar besonders wunderbar wird mir zumute, wenn
ich allein in der Dämmerung am Strande wandle -
hinter mir flache Dünen, vor mir das wogende, uner-
meßliche Meer, über mir der Himmel wie eine riesige
Kristallkuppel - ich erscheine mir dann selbst sehr
ameisenklein, und dennoch dehnt sich meine Seele so
weltenweit. Die hohe Einfachheit der Natur, wie sie
mich hier umgibt, zähmt und erhebt mich zu gleicher
Zeit, und zwar in stärkerem Grade als jemals eine an-
dere erhabene Umgebung. Nie war mir ein Dom groß
genug; meine Seele mit ihrem alten Titanengebet
strebte immer höher als die gotischen Pfeiler und
wollte immer hinausbrechen durch das Dach. Auf der
Spitze der Roßtrappe haben mir, beim ersten Anblick,
die kolossalen Felsen in ihren kühnen Gruppierungen
ziemlich imponiert; aber dieser Eindruck dauerte nicht
lange, meine Seele war nur überrascht, nicht überwäl-
tigt, und jene ungeheure Steinmassen wurden in mei-
nen Augen allmählich kleiner, und am Ende erschie-
nen sie mir nur wie geringe Trümmer eines zerschla-
genen Riesenpalastes, worin sich meine Seele viel-
leicht komfortabel befunden hätte.
Mag es immerhin lächerlich klingen, ich kann es
dennoch nicht verhehlen, das Mißverhältnis zwischen
Körper und Seele quält mich einigermaßen, und hier
am Meere, in großartiger Naturumgebung, wird es
mir zuweilen recht deutlich, und die Metempsychose
ist oft der Gegenstand meines Nachdenkens. Wer
kennt die große Gottesironie, die allerlei Widersprü-
che zwischen Seele und Körper hervorzubringen
pflegt. Wer kann wissen, in welchem Schneider jetzt
die Seele eines Platos und in welchem Schulmeister
die Seele eines Cäsars wohnt! Wer weiß, ob die Seele
Gregors VII. nicht in dem Leibe des Großtürken sitzt
und sich unter tausend hätschelnden Weiberhändchen
behaglicher fühlt als einst in ihrer purpurnen Zöli-
batskutte. Hingegen wie viele Seelen treuer Mosle-
mim aus Alys Zeiten mögen sich jetzt in unseren anti-
hellenischen Kabinettern befinden! Die Seelen der
beiden Schächer, die zur Seite des Heilands gekreu-
zigt worden, sitzen vielleicht jetzt in dicken
Konsistorialbäuchen und glühen für den orthodoxen
Lehrbegriff. Die Seele Dschingis-Khans wohnt viel-
leicht jetzt in einem Rezensenten, der täglich, ohne es
zu wissen, die Seelen seiner treuesten Baschkiren und
Kalmücken in einem kritischen Journale niedersäbelt.
Wer weiß! wer weiß! die Seele des Pythagoras ist
vielleicht in einen armen Kandidaten gefahren, der
durch das Examen fällt, weil er den pythagoreischen
Lehrsatz nicht beweisen konnte, während in seinen
Herren Examinatoren die Seelen jener Ochsen woh-
nen, die einst Pythagoras aus Freude über die Ent-
deckung seines Satzes den ewigen Göttern geopfert
hatte. Die Hindus sind so dumm nicht, wie unsere
Missionäre glauben, sie ehren die Tiere wegen der
menschlichen Seele, die sie in ihnen vermuten, und
wenn sie Lazarette für invalide Affen stiften, in der
Art unserer Akademien, so kann es wohl möglich
sein, daß in jenen Affen die Seelen großer Gelehrten
wohnen, da es hingegen bei uns ganz sichtbar ist, daß
in einigen großen Gelehrten nur Affenseelen stecken.
Wer doch mit der Allwissenheit des Vergangenen
auf das Treiben der Menschen von oben herabsehen
könnte! Wenn ich des Nachts, am Meere wandelnd,
den Wellengesang höre und allerlei Ahnung und Erin-
nerung in mir erwacht, so ist mir, als habe ich einst
solchermaßen von oben herabgesehen und sei vor
schwindelndem Schrecken zur Erde heruntergefallen;
es ist mir dann auch, als seien meine Augen so tele-
skopisch scharf gewesen, daß ich die Sterne in Le-
bensgröße am Himmel wandeln gesehen und durch all
den wirbelnden Glanz geblendet worden; - wie aus
der Tiefe eines Jahrtausends kommen mir dann aller-
lei Gedanken in den Sinn, Gedanken uralter Weisheit,
aber sie sind so neblicht, daß ich nicht ers kenne, was
sie wollen. Nur soviel weiß ich, daß all unser kluges
Wissen, Streben und Hervorbringen irgendeinem hö-
heren Geiste ebenso klein und nichtig erscheinen
muß, wie mir jene Spinne erschien, die ich in der Göt-
tinger Bibliothek so oft betrachtete. Auf den Folianten
der Weltgeschichte saß sie emsig webend, und sie
blickte so philosophisch sicher auf ihre Umgebung
und hatte ganz den göttingischen Gelahrtheitsdünkel
und schien stolz zu sein auf ihre mathematischen
Kenntnisse, auf ihre Kunstleistungen, auf ihr einsa-
mes Nachdenken - und doch wußte sie nichts von all
den Wundern, die in dem Buche stehen, worauf sie
geboren worden, worauf sie ihr ganzes Leben ver-
bracht hatte und worauf sie auch sterben wird, wenn
der schleichende Dr. L. sie nicht verjagt. Und wer ist
der schleichende Dr. L.? Seine Seele wohnte vielleicht
einst in eben einer solchen Spinne, und jetzt hütet er
die Folianten, worauf er einst saß - und wenn er sie
auch liest, er erfährt doch nicht ihren wahren Inhalt.
Was mag auf dem Boden einst geschehen sein, wo
ich jetzt wandle? Ein Konrektor, der hier badete,
wollte behaupten, hier sei einst der Dienst der Hertha
oder, besser gesagt, Forsete begangen worden, wovon
Tacitus so geheimnisvoll spricht. Wenn nur die Be-
richterstatter, denen Tacitus nacherzählt, sich nicht
geirrt und eine Badekutsche für den heiligen Wagen
der Göttin angesehen haben!
Im Jahr 1819, als ich zu Bonn, in einem und dem-
selben Semester, vier Kollegien hörte, worin meistens
deutsche Antiquitäten aus der blauesten Zeit traktiert
wurden, nämlich 1. Geschichte der deutschen Sprache
bei Schlegel, der fast drei Monat lang die barocksten
Hypothesen über die Abstammung der Deutschen ent-
wickelte, 2. die »Germania« des Tacitus bei Arndt,
der in den altdeutschen Wäldern jene Tugenden such-
te, die er in den Salons der Gegenwart vermißte, 3.
germanisches Staatsrecht bei Hüllmann, dessen histo-
rische Ansichten noch am wenigstens vage sind, und
4. deutsche Urgeschichte bei Radloff, der am Ende
des Semesters noch nicht weiter gekommen war als
bis zur Zeit des Sesostris - damals möchte wohl die
Sage von der alten Hertha mich mehr interessiert
haben als jetzt. Ich ließ sie durchaus nicht auf Rügen
residieren und versetzte sie vielmehr nach einer ost-
friesischen Insel. Ein junger Gelehrter hat gern seine
Privathypothese. Aber auf keinen Fall hätte ich da-
mals geglaubt, daß ich einst am Strande der Nordsee
wandeln würde, ohne an die alte Göttin mit patrioti-
scher Begeisterung zu denken. Es ist wirklich nicht
der Fall, und ich denke hier an ganz andre, jüngere
Göttinnen. Abo sonderlich, wenn ich am Strande über
die schaurige Stelle wandle, wo noch jüngst die
schönsten Frauen gleich Nixen geschwommen. Denn
weder Herren noch Damen baden hier unter einem
Schirm, sondern spazieren in die freie See. Deshalb
sind auch die Badestellen beider Geschlechter vonein-
ander geschieden, doch nicht allzu weit, und wer ein
gutes Glas führt, kann überall in der Welt viel sehen.
Es geht die Sage, ein neuer Aktäon habe auf solche
Weise eine badende Diana erblickt, und wunderbar!
nicht er, sondern der Gemahl der Schönen habe da-
durch Hörner erworben.
Die Badekutschen, die Droschken der Nordsee,
werden hier nur bis ans Wasser geschoben und beste-
hen meistens aus viereckigen Holzgestellen, mit stei-
fem Leinen überzogen. Jetzt, für die Winterzeit, ste-
hen sie im Konversationssaale und führen dort gewiß
ebenso hölzerne und steifleinene Gespräche wie die
vornehme Welt, die noch unlängst dort verkehrte.
Wenn ich aber sage: die vornehme Welt, so verste-
he ich nicht darunter die guten Bürger Ostfrieslands,
ein Volk, das flach und nüchtern ist wie der Boden,
den es bewohnt, das weder singen noch pfeifen kann,
aber dennoch ein Talent besitzt, das besser ist als alle
Triller und Schnurrpfeifereien, ein Talent, das den
Menschen adelt und über jene windige Dienstseelen
erhebt, die allein edel zu sein wähnen, ich meine das
Talent der Freiheit. Schlägt das Herz für Freiheit, so
ist ein solcher Schlag des Herzens ebensogut wie ein
Ritterschlag, und das wissen die freien Friesen, und
sie verdienen ihr Volksepitheton; die Häuptlingsperi-
ode abgerechnet, war die Aristokratie in Ostfriesland
niemals vorherrschend, nur sehr wenige adlige Fami-
lien haben dort gewohnt, und der Einfluß des hannö-
vrischen Adels, durch Verwaltungs- und Militärstand,
wie er sich jetzt über das Land hinzieht, betrübt man-
ches freie Friesenherz, und überall zeigt sich die Vor-
liebe für die ehemalige preußische Regierung.
Was aber die allgemeinen deutschen Klagen über
hannövrischen Adelstolz betrifft, so kann ich nicht
unbedingt einstimmen. Das hannövrische Offizier-
korps gibt am wenigsten Anlaß zu solchen Klagen.
Freilich, wie in Madagaskar nur Adlige das Recht
haben, Metzger zu werden, so hatte früherhin der han-
növrische Adel ein analoges Vorrecht, da nur Adlige
zum Offizierrange gelangen konnten. Seitdem sich
aber in der Deutschen Legion so viele Bürgerliche
ausgezeichnet und zu Offizierstellen emporgeschwun-
gen, hat auch jenes üble Gewohnheitsrecht nachgelas-
sen. Ja, das ganze Korps der Deutschen Legion hat
viel beigetragen zur Milderung alter Vorurteile, diese
Leute sind weit herum in der Welt gewesen, und in
der Welt sieht man viel, besonders in England, und
sie haben viel gelernt, und es ist eine Freude, ihnen
zuzuhören, wenn sie von Portugal, Spanien, Sizilien,
den Ionischen Inseln, Irland und anderen weiten Län-
dern sprechen, wo sie gefochten und »vieler Men-
schen Städte gesehen und Sitten gelernet«, so daß
man glaubt, eine Odyssee zu hören, die leider keinen
Homer finden wird. Auch ist unter den Offizieren die-
ses Korps viel freisinnige, englische Sitte geblieben,
die mit dem altherkömmlichen hannövrischen Brauch
stärker kontrastiert, als wir es im übrigen Deutschland
glauben wollen, da wir gewöhnlich dem Beispiele
Englands viel Einwirkung auf Hannover zuschreiben.
In diesem Lande Hannover sieht man nichts als
Stammbäume, woran Pferde gebunden sind, und vor
lauter Bäumen bleibt das Land obskur, und trotz allen
Pferden kömmt es nicht weiter. Nein, durch diesen
hannövrischen Adelswald drang niemals ein Sonnen-
strahl britischer Freiheit, und kein britischer
Freiheitston konnte jemals vernehmbar werden im
wiehernden Lärm hannövrischer Rosse.
Die allgemeine Klage über hannövrischen Adel-
stolz trifft wohl zumeist die liebe Jugend gewisser Fa-
milien, die das Land Hannover regieren oder mittelbar
zu regieren glauben. Aber auch die edlen Jünglinge
würden bald jene Fehler der Art oder, besser gesagt,
jene Unart ablegen, wenn sie ebenfalls etwas in der
Welt herumgedrängt würden oder eine bessere Erzie-
hung genössen. Man schickt sie freilich nach Göttin-
gen, doch da hocken sie beisammen und sprechen nur
von ihren Hunden, Pferden und Ahnen, hören wenig
neuere Geschichte, und wenn sie auch wirklich einmal
dergleichen hören, so sind doch unterdessen ihre
Sinne befangen durch den Anblick des Grafentisches,
der, ein Wahrzeichen Göttingens, nur für hoch, gebo-
rene Studenten bestimmt ist. Wahrlich, durch eine
bessere Erziehung des jungen hannövrischen Adels
liefe sich vielen Klagen vorbauen. Aber die Jungen
werden wie die Alten. Derselbe Wahn: als wären sie
die Blumen der Welt, während wir anderen bloß das
Gras sind; dieselbe Torheit: mit dem Verdienste der
Ahnen den eigenen Unwert bedecken zu wollen; die-
selbe Unwissenheit über das Problematische dieser
Verdienste, indem die wenigsten bedenken, daß die
Fürsten selten ihre treuesten und tugendhaftesten Die-
ner, aber sehr oft den Kuppler, den Schmeichler und
dergleichen Lieblingsschufte mit adelnder Huld beehrt
haben. Die wenigsten jener Ahnenstolzen können be-
stimmt angeben, was ihre Ahnen getan haben, und sie
zeigen nur, daß ihr Name in Rüxeners »Turnierbuch«
erwähnt sei; - ja, können sie auch nachweisen, daß
diese Ahnen etwa als Kreuzritter bei der Eroberung
Jerusalems zugegen waren, so sollten sie, ehe sie sich
etwas darauf zugute tun, auch beweisen, daß jene Rit-
ter ehrlich mitgefochten haben, daß ihre Eisenhosen
nicht mit gelber Furcht wattiert worden und daß unter
ihrem roten Kreuze das Herz eines honetten Mannes
gesessen. Gäbe es keine »Ilias«, sondern bloß ein Na-
mensverzeichnis der Helden, die vor Troja gestanden,
und ihre Namen existierten noch jetzt - wie würde
sich der Ahnenstolz derer von Thersites zu blähen
wissen! Von der Reinheit des Blutes will ich gar nicht
einmal sprechen; Philosophen und Stallknechte haben
darüber gar seltsame Gedanken.
Mein Tadel, wie gesagt, treffe zumeist die schlech-
te Erziehung des hannövrischen Adels und dessen
früh eingeprägten Wahn von der Wichtigkeit einiger
andressierten Formen. Oh! wie oft habe ich lachen
müssen, wenn ich bemerkte, wieviel man sich auf
diese Formen zugute tat; - als sei es so gar überaus
schwer zu erlernen, dieses Repräsentieren, dieses Prä-
sentieren, dieses Lächeln, ohne etwas zu sagen, dieses
Sagen, ohne etwas zu denken, und all diese adligen
Künste, die der gute Bürgersmann als Meerwunder
angafft und die doch jeder französische Tanzmeister
besser innehat als der deutsche Edelmann, dem sie in
der bärenleckenden Lutetia mühsam eingeübt worden
und der sie zu Hause wieder mit deutscher Gründlich-
keit und Schwerfälligkeit seinen Deszendenten über-
liefert. Dies erinnert mich an die Fabel von dem
Bären, der auf Märkten tanzte, seinem führenden Leh-
rer entlief, zu seinen Mitbären in den Wald zurück-
kehrte und ihnen vorprahlte, wie das Tanzen eine so
gar schwere Kunst sei und wie weit er es darin ge-
bracht habe - und in der Tat, den Proben, die er von
seiner Kunst ablegte, konnten die armen Bestien ihre
Bewunderung nicht versagen. Jene Nation, wie sie
Werther nennt, bildete die vornehme Welt, die hier
dieses Jahr zu Wasser und zu Lande geglänzt hat, und
es waren lauter liebe, liebe Leute, und sie haben alle
gut gespielt.
Auch fürstliche Personen gab es hier, und ich muß
gestehen, daß diese in ihren Ansprüchen bescheidener
waren als die geringere Noblesse. Ob aber diese Be-
scheidenheit in den Herzen dieser hohen Personen
liegt oder ob sie durch ihre äußere Stellung hervorge-
bracht wird, das will ich unentschieden lassen. Ich
sage dieses nur in Beziehung auf deutsche mediati-
sierte Fürsten. Diesen Leuten ist in der letzten Zeit ein
großes Unrecht geschehen, indem man sie einer Sou-
veränetät beraubte, wozu sie ein ebenso gutes Recht
haben wie die größeren Fürsten, wenn man nicht etwa
annehmen will, daß dasjenige, was sich nicht durch
eigene Kraft erhalten kann, auch kein Recht hat zu
existieren. Für das vielzersplitterte Deutschland war
es aber eine Wohltat, daß diese Anzahl von Sedezde-
spötchen ihr Regieren einstellen mußten. Es ist
schrecklich, wenn man bedenkt, wie viele derselben
wir armen Deutschen zu ernähren haben. Wenn diese
Mediatisierten auch nicht mehr das Zepter führen, so
führen sie doch noch immer Löffel, Messer und
Gabel, und sie essen keinen Hafer, und auch der Hafer
wäre teuer genug. Ich denke, daß wir einmal durch
Amerika etwas von dieser Fürstenlast erleichtert wer-
den. Denn früh oder spät werden sich doch die Präsi-
denten dortiger Freistaaten in Souveräne verwandeln,
und dann fehlt es diesen Herren an Gemahlinnen, die
schon einen legitimen Anstrich haben, sie sind dann
froh, wenn wir ihnen unsere Prinzessinnen überlassen,
und wenn sie sechs nehmen, geben wir ihnen die sie-
bente gratis, und auch unsre Prinzchen können sie
späterhin bei ihren Töchtern employieren; - daher
haben die mediatisierten Fürsten sehr politisch gehan-
delt, als sie sich wenigstens das Gleichbürtigkeits-
recht erhielten und ihre Stammbäume ebenso hoch-
schätzten wie die Araber die Stammbäume ihrer Pfer-
de, und zwar aus derselben Absicht, indem sie wohl
wissen, daß Deutschland von jeher das große
Fürstengestüte war, das alle regierenden Nachbarhäu-
ser mit den nötigen Mutterpferden und Beschälern
versehen muß.
In allen Bädern ist es ein altes Gewohnheitsrecht,
daß die abgegangenen Gäste von den zurückgebliebe-
nen etwas stark kritisiert werden, und da ich der letzte
bin, der noch hier weilt, so durfte ich wohl jenes
Recht in vollem Maße ausüben.
Es ist aber jetzt so öde auf der Insel, daß ich mir
vorkomme wie Napoleon auf St. Helena. Nur daß ich
hier eine Unterhaltung gefunden, die jenem dort fehl-
te. Es ist nämlich der große Kaiser selbst, womit ich
mich hier beschäftige. Ein junger Engländer hat mir
das eben erschienene Buch des Maitland mitgeteilt.
Dieser Seemann berichtet die Art und Weise, wie Na-
poleon sich ihm ergab und auf dem »Bellerophon«
sich betrug, bis er auf Befehl des englischen Ministe-
riums an Bord des »Northumberland« gebracht
wurde. Aus diesem Buche ergibt sich sonnenklar, daß
der Kaiser, in romantischem Vertrauen auf britische
Großmut und um der Welt endlich Ruhe zu schaffen,
zu den Engländern ging, mehr als Gast denn als Ge-
fangener. Das war ein Fehler, den gewiß kein anderer
und am allerwenigsten ein Wellington begangen
hätte. Die Geschichte aber wird sagen, dieser Fehler
ist so schön, so erhaben, so herrlich, daß dazu mehr
Seelengröße gehörte, als wir anderen zu allen unseren
Großtaten erschwingen können.
Die Ursache, weshalb Kapt. Maitland jetzt sein
Buch herausgibt, scheint keine andere zu sein als das
moralische Reinigungsbedürfnis, das jeder ehrliche
Mann fühlt, den ein böses Geschick in eine zweideuti-
ge Handlung verflochten hat. Das Buch selbst ist aber
ein unschätzbarer Gewinn für die Gefangenschaftsge-
schichte Napoleons, die den letzten Akt seines Lebens
bildet, alle Rätsel der früheren Akte wunderbar löst
und, wie es eine echte Tragödie tun soll, die Gemüter
erschüttert, reinigt und versöhnt. Der Charakterunter-
schied der vier Hauptschriftsteller, die uns von dieser
Gefangenschaft berichten, besonders wie er sich in
Stil und Anschauungsweise bekundet, zeigt sich erst
recht durch ihre Zusammenstellung.
Maitland, der sturmkalte, englische Seemann, ver-
zeichnet die Begebenheiten vorurteilslos und be-
stimmt, als wären es Naturerscheinungen, die er in
sein Logbook einträgt; Las Cases, ein enthusiasti-
scher Kammerherr, liegt in jeder Zeile, die er schreibt,
zu den Füßen des Kaisers, nicht wie ein russischer
Sklave, sondern wie ein freier Franzose, dem die Be-
wunderung einer unerhörten Heldengröße und Ruh-
meswürde unwillkürlich die Knie beugt; O'Meara, der
Arzt, obgleich in Irland geboren, dennoch ganz Eng-
länder, als solcher ein ehemaliger Feind des Kaisers,
aber jetzt anerkennend die Majestätsrechte des Un-
glücks, schreibt freimütig, schmucklos, tatbeständ-
lich, fast im Lapidarstil; hingegen kein Stil, sondern
ein Stilett ist die spitzige, zustoßende Schreibart des
französischen Arztes Antommarchi, eines Italieners,
der ganz besonnentrunken ist von dem Ingrimm und
der Poesie seines Landes.
Beide Völker, Briten und Franzosen, lieferten von
jeder Seite zwei Männer, gewöhnlichen Geistes und
unbestochen von der herrschenden Macht, und diese
Jury hat den Kaiser gerichtet und verurteilet, ewig zu
leben, ewig bewundert, ewig bedauert.
Es sind schon viele große Männer über diese Erde
geschritten, hier und da sehen wir die leuchtenden
Spuren ihrer Fußstapfen, und in heiligen Stunden tre-
ten sie wie Nebelgebilde vor unsere Seele; aber ein
ebenfalls großer Mann sieht seine Vorgänger weit
deutlicher; aus einzelnen Funken ihrer irdischen
Lichtspur erkennt er ihr geheimstes Tun, aus einem
einzigen hinterlassenen Worte erkennt er alle Falten
ihres Herzens; und solchermaßen, in einer mystischen
Gemeinschaft, leben die großen Männer aller Zeiten;
über die Jahrtausende hinweg nicken sie einander zu
und sehen sich an bedeutungsvoll, und ihre Blicke be-
gegnen sich auf den Gräbern untergegangener Ge-
schlechter, die sich zwischen sie gedrängt hatten, und
sie verstehen sich und haben sich lieb. Wir Kleinen
aber, die wir nicht so intimen Umgang pflegen kön-
nen mit den Großen der Vergangenheit, wovon wir
nur selten die Spur und Nebelformen sehen, für uns
ist es vom höchsten Werte, wenn wir über einen sol-
chen Großen so viel erfahren, daß es uns leicht wird,
ihn ganz lebensklar in unsre Seele aufzunehmen und
dadurch unsre Seele zu erweitern. Ein solcher ist
Napoleon Bonaparte. Wir wissen von ihm, von sei-
nem Leben und Streben, mehr als von den andern
Großen dieser Erde, und täglich erfahren wir davon
noch mehr und mehr. Wir sehen, wie das verschüttete
Götterbild langsam ausgegraben wird, und mit jeder
Schaufel Erdschlamm, die man von ihm abnimmt,
wächst unser freudiges Erstaunen über das Ebenmaß
und die Pracht der edlen Formen, die da hervortreten,
und die Geistesblitze der Feinde, die das große Bild
zerschmettern wollen, dienen nur dazu, es desto
glanzvoller zu beleuchten. Solches geschieht nament-
lich durch die Äußerungen der Frau von Staël, die in
all ihrer Herbheit doch nichts anders sagt, als daß der
Kaiser kein Mensch war wie die andern und daß sein
Geist mit keinem vorhandenen Maßstab gemessen
werden kann.
Ein solcher Geist ist es, worauf Kant hindeutet,
wenn er sagt, daß wir uns einen Verstand denken kön-
nen, der, weil er nicht wie der unsrige diskursiv, son-
dern intuitiv ist, vom synthetisch Allgemeinen, der
Anschauung eines Ganzen als eines solchen, zum Be-
sonderen geht, das ist, von dem Ganzen zu den Tei-
len. Ja, was wir durch langsames analytisches Nach-
denken und lange Schlußfolgen erkennen, das hatte
jener Geist im selben Momente angeschaut und tief
begriffen. Daher sein Talent, die Zeit, die Gegenwart
zu verstehen, ihren Geist zu kajolieren, ihn nie zu
beleidigen und immer zu benutzen.
Da aber dieser Geist der Zeit nicht bloß revolutio-
när ist, sondern durch den Zusammenfluß beider An-
sichten, der revolutionären und der konterrevolutionä-
ren, gebildet worden, so handelte Napoleon nie ganz
revolutionär und nie ganz konterrevolutionär, sondern
immer im Sinne beider Ansichten, beider Prinzipien,
beider Bestrebungen, die in ihm ihre Vereinigung fan-
den, und demnach handelte er beständig naturgemäß,
einfach, groß, nie krampfhaft barsch, immer ruhig
milde. Daher intrigierte er nie im einzelnen, und seine
Schläge geschahen immer durch seine Kunst, die
Massen zu begreifen und zu lenken. Zur verwickelten,
langsamen Intrige neigen sich kleine, analytische Gei-
ster, hingegen synthetische, intuitive Geister wissen
auf wunderbar geniale Weise die Mittel, die ihnen die
Gegenwart bietet, so zu verbinden, daß sie dieselben
zu ihrem Zwecke schnell benutzen können. Erstere
scheitern sehr oft, da keine menschliche Klugheit alle
Vorfallenheiten des Lebens voraussehen kann und die
Verhältnisse des Lebens nie lange stabil sind; letzte-
ren hingegen, den intuitiven Menschen, gelingen ihre
Vorsätze am leichtesten, da sie nur einer richtigen Be-
rechnung des Vorhandenen bedürfen und so schnell
handeln, daß dieses durch die Bewegung der Lebens-
wogen keine plötzliche, unvorhergesehene Verände-
rung erleiden kann.
Es ist ein glückliches Zusammentreffen, daß Napo-
leon gerade zu einer Zeit gelebt hat, die ganz beson-
ders viel Sinn hat für Geschichte, ihre Erforschung
und Darstellung. Es werden uns daher, durch die Me-
moiren der Zeitgenossen, wenige Notizen über Napo-
leon vorenthalten werden, und täglich vergrößert sich
die Zahl der Geschichtsbücher, die ihn mehr oder
minder im Zusammenhang mit der übrigen Welt
schildern wollen. Die Ankündigung eines solchen Bu-
ches aus Walter Scotts Feder erregt daher die neugie-
rigste Erwartung.
Alle Verehrer Scotts müssen für ihn zittern; denn
ein solches Buch kann leicht der russische Feldzug
jenes Ruhmes werden, den er mühsam erworben
durch eine Reihe historischer Romane, die mehr durch
ihr Thema als durch ihre poetische Kraft alle Herzen
Europas bewegt haben. Dieses Thema ist aber nicht
bloß eine elegische Klage über Schottlands volkstüm-
liche Herrlichkeit, die allmählich verdrängt wurde von
fremder Sitte, Herrschaft und Denkweise; sondern es
ist der große Schmerz über den Verlust der National-
besonderheiten, die in der Allgemeinheit neuerer Kul-
tur verlorengehen, ein Schmerz, der jetzt in den Her-
zen aller Völker zuckt. Denn Nationalerinnerungen
liegen tiefer in der Menschen Brust, als man gewöhn-
lich glaubt. Man wage es nur, die alten Bilder wieder
auszugraben, und über Nacht blüht hervor auch die
alte Liebe mit ihren Blumen. Das ist nicht figürlich
gesagt, sondern es ist eine Tatsache; als Bullock vor
einigen Jahren ein altheidnisches Steinbild in Mexiko
ausgegraben, fand er den andern Tag, daß es nächtli-
cherweile mit Blumen bekränzt worden; und doch
hatte Spanien, mit Feuer und Schwert, den alten Glau-
ben der Mexikaner zerstört und seit drei Jahrhunder-
ten ihre Gemüter gar stark umgewühlt und gepflügt
und mit Christentum besäet. Solche Blumen aber blü-
hen auch in den Walter Scottschen Dichtungen, diese
Dichtungen selbst wecken die alten Gefühle, und wie
einst in Granada Männer und Weiber mit dem Geheul
der Verzweiflung aus den Häusern stürzten, wenn das
Lied vom Einzug des Maurenkönigs auf den Straßen
erklang, dergestalt, daß bei Todesstrafe verboten
wurde, es zu singen, so hat der Ton, der in den Scott-
schen Dichtungen herrscht, eine ganze Welt schmerz-
haft erschüttert. Dieser Ton klingt wider in den Her-
zen unseres Adels, der seine Schlösser und Wappen
verfallen sieht; er klingt wider in den Herzen des Bür-
gers, dem die behaglich enge Weise der Altvordern
verdrängt wird durch weite, unerfreuliche Modernität;
er klingt wider in katholischen Domen, woraus der
Glaube entflohen, und in rabbinischen Synagogen,
woraus sogar die Gläubigen fliehen; er klingt über die
ganze Erde, bis in die Banjanenwälder Hindostans,
wo der seufzende Brahmine das Absterben seiner
Götter, die Zerstörung ihrer uralten Weltordnung und
den ganzen Sieg der Engländer voraussieht.
Dieser Ton, der gewaltigste, den der schottische
Barde auf seiner Riesenharfe anzuschlagen weiß, paßt
aber nicht zu dem Kaiserliede von dem Napoleon,
dem neuen Manne, dem Manne der neuen Zeit, dem
Manne, worin diese neue Zeit so leuchtend sich ab-
spiegelt, daß wir dadurch fast geblendet werden und
unterdessen nimmermehr denken an die verschollene
Vergangenheit und ihre verblichene Pracht. Es ist
wohl zu vermuten, daß Scott, seiner Vorneigung
gemäß, jenes angedeutete stabile Element im Charak-
ter Napoleons, die konterrevolutionäre Seite seines
Geistes, vorzugsweise auffassen wird, statt daß ande-
re Schriftsteller bloß das revolutionäre Prinzip in ihm
erkennen. Von dieser letzteren Seite würde ihn Byron
geschildert haben, der in seinem ganzen Streben den
Gegensatz zu Scott bildete und, statt, gleich diesem,
den Untergang der alten Formen zu beklagen, sich
sogar von denen, die noch stehengeblieben sind, ver-
drießlich beengt fühlt, sie mit revolutionärem Lachen
und Zähnefletschen niederreißen möchte und in die-
sem Ärger die heiligsten Blumen des Lebens mit sei-
nem melodischen Gifte beschädigt und sich, wie ein
wahnsinniger Harlekin, den Dolch ins Herz stößt, um,
mit dem hervorströmenden schwarzen Blute, Herren
und Damen neckisch zu bespritzen.
Wahrlich, in diesem Augenblicke fühle ich sehr
lebhaft, daß ich kein Nachbeter oder, besser gesagt,
Nachfrevler Byrons bin, mein Blut ist nicht so splee-
nig schwarz, meine Bitterkeit kömmt nur aus den
Galläpfeln meiner Dinte, und wenn Gift in mir ist, so
ist es doch nur Gegengift, Gegengift wider jene
Schlangen, die im Schutte der alten Dome und Burgen
so bedrohlich lauern. Von allen großen Schriftstellern
ist Byron just derjenige, dessen Lektüre mich am un-
leidlichsten berührt, wohingegen Scott mir, in jedem
seiner Werke, das Herz erfreut beruhigt und erkräftigt.
Mich erfreut sogar die Nachahmung derselben, wie
wir sie bei W. Alexis, Bronikowski und Cooper fin-
den, welcher erstere, im ironischen »Walladmor«, sei-
nem Vorbilde am nächsten steht und uns auch in einer
späteren Dichtung so viel Gestalten- und Geistes-
reichtum gezeigt hat, daß er wohl imstande wäre, mit
poetischer Ursprünglichkeit, die sich nur der Scotti-
schen Form bedient, uns die teuersten Momente deut-
scher Geschichte, in einer Reihe historischer Novel-
len, vor die Seele zu führen.
Aber keinem wahren Genius lassen sich bestimmte
Bahnen vorzeichnen, diese liegen außerhalb aller kri-
tischen Berechnung, und so mag es auch als ein harm-
loses Gedankenspiel betrachtet werden, wenn ich über
W. Scotts Kaisergeschichte mein Vorurteil aussprach.
»Vorurteil« ist hier der umfassendste Ausdruck. Nur
eins läßt sich mit Bestimmtheit sagen: das Buch wird
gelesen werden vom Aufgang bis zum Niedergang,
und wir Deutschen werden es übersetzen.
Wir haben auch den Ségur übersetzt. Nicht wahr,
es ist ein hübsches episches Gedicht? Wir Deutschen
schreiben auch epische Gedichte, aber die Helden
derselben existieren bloß in unserem Kopfe. Hingegen
die Helden des französischen Epos sind wirkliche
Helden, die viel größere Taten vollbracht und viel
größere Leiden gelitten, als wir in unseren Dachstüb-
chen ersinnen können. Und wir haben doch viel Phan-
tasie, und die Franzosen haben nur wenig. Vielleicht
hat deshalb der liebe Gott den Franzosen auf eine an-
dere Art nachgeholfen, und sie brauchen nur treu zu
erzählen, was sie in den letzten dreißig Jahren gese-
hen und getan, und sie haben eine erlebte Literatur,
wie noch kein Volk und keine Zeit sie hervorgebracht.
Diese Memoiren von Staatsleuten, Soldaten und edlen
Frauen, wie sie in Frankreich täglich erscheinen, bil-
den einen Sagenkreis, woran die Nachwelt genug zu
denken und zu singen hat und worin, als dessen Mit-
telpunkt, das Leben des großen Kaisers, wie ein Rie-
senbaum, emporragt. Die Ségursche Geschichte des
Rußlandzuges ist ein Lied, ein französisches Volks-
lied, das zu diesem Sagenkreise gehört und, in seinem
Tone und Stoffe, den epischen Dichtungen aller Zei-
ten gleicht und gleichsteht. Ein Heldengedicht, das
durch den Zauberspruch »Freiheit und Gleichheit«
aus dem Boden Frankreichs emporgeschossen, hat,
wie im Triumphzug, berauscht von Ruhm und geführt
von dem Gotte des Ruhmes selbst, die Welt durchzo-
gen, erschreckt und verherrlicht, tanzt endlich den ras-
selnden Waffentanz auf den Eisfeldern des Nordens,
und diese brechen ein, und die Söhne des Feuers und
der Freiheit gehen zugrunde durch Kälte und Sklaven.
Solche Beschreibung oder Prophezeiung des Unter-
gangs einer Heldenwelt ist Grundton und Stoff der
epischen Dichtungen aller Volker. Auf den Felsen von
Ellore und anderer indischer Grottentempel steht sol-
che epische Katastrophe eingegraben mit Riesenhiero-
glyphen, deren Schlüssel im »Mahabharata« zu finden
ist; der Norden hat in nicht minder steinernen Worten,
in seiner »Edda«, diesen Götteruntergang ausgespro-
chen; das »Lied der Nibelungen« besingt dasselbe tra-
gische Verderben und hat, in seinem Schlusse, noch
ganz besondere Ähnlichkeit mit der Ségurschen Be-
schreibung des Brandes von Moskau; das »Rolands-
lied« von der Schlacht bei Roncisval, dessen Worte
verschollen, dessen Sage aber noch nicht erloschen
und noch unlängst von einem der größten Dichter des
Vaterlandes, von Immermann, heraufbeschworen wor-
den, ist ebenfalls der alte Unglücksgesang; und gar
das Lied von Ilion verherrlicht am schönsten das alte
Thema und ist doch nicht großartiger und
schmerzlicher als das französische Volkslied, worin
Ségur den Untergang seiner Heroenwelt besungen hat.
Ja, dieses ist ein wahres Epos, Frankreichs Heldenju-
gend ist der schöne Heros, der früh dahinsinkt, wie
wir solches Leid schon sahen in dem Tode Baldurs,
Siegfrieds, Rolands und Achilles', die ebenso durch
Unglück und Verrat gefallen; und jene Helden, die
wir in der »Ilias« bewundert, wir finden sie wieder im
Liede des Séqur, wir sehen sie ratschlagen, zanken
und kämpfen, wie einst vor dem Skäischen Tore; ist
auch die Jacke des Königs von Neapel etwas allzu
buntscheckig modern, so ist doch sein Schlachtmut
und Übermut ebenso groß wie der des Peliden; ein
Hektor an Milde und Tapferkeit, steht vor uns Prinz
Eugen, der edle Ritter, Ney kämpft wie ein Ajax,
Berthier ist ein Nestor ohne Weisheit, Davoust, Daru,
Caulaincourt usw., in ihnen wohnen die Seelen des
Menelaos, des Odysseus, des Diomedes - nur der
Kaiser selbst findet nicht seinesgleichen, in seinem
Haupte ist der Olymp des Gedichtes, und wenn ich
ihn, in seiner äußeren Herrschererscheinung, mit dem
Agamemnon vergleiche, so geschieht das, weil ihn,
ebenso wie den größten Teil seiner herrlichen Kampf-
genossen, ein tragisches Schicksal erwartete und weil
sein Orestes noch lebt.
Wie die Scottschen Dichtungen hat auch das
Ségursche Epos einen Ton, der unsere Herzen
bezwingt. Aber dieser Ton weckt nicht die Liebe zu
längst verschollenen Tagen der Vorzeit, sondern es ist
ein Ton, dessen Klangfigur uns die Gegenwart gibt,
ein Ton, der uns für eben diese Gegenwart begeistert.
Wir Deutschen sind doch wahre Peter Schlemihle!
Wir haben auch in der letzten Zeit viel gesehen, viel
ertragen, z.B. Einquartierung und Adelstolz; und wir
haben unser edelstes Blut hingegeben, z.B. an Eng-
land, das noch jetzt jährlich eine anständige Summe
für abgeschossene deutsche Arme und Beine ihren
ehemaligen Eigentümern zu bezahlen hat; und wir
haben im Kleinen so viel Großes getan, daß, wenn
man es zusammenrechnete, die größten Taten heraus-
kämen, z.B. in Tirol; und wir haben viel verloren,
z.B. unsern Schlagschatten, den Titel des lieben Hei-
ligen Römischen Reichs - und dennoch, mit allen
Verlüsten, Opfern, Entbehrungen, Malheurs und
Großtaten hat unsere Literatur kein einziges solcher
Denkmäler des Ruhmes gewonnen, wie sie bei unse-
ren Nachbaren, gleich ewigen Trophäen, täglich em-
porsteigen. Unsere Leipziger Messen haben wenig
profitiert durch die Schlacht bei Leipzig. Ein Gothaer,
höre ich, will sie noch nachträglich in epischer Form
besingen; da er aber noch nicht weiß, ob er zu den
100000 Seelen gehört, die Hildburghausen bekömmt,
oder zu den 150000, die Meiningen bekömmt, oder
zu den 160000, die Altenburg bekömmt, so kann er
sein Epos noch nicht anfangen, er müßte denn begin-
nen: »Singe unsterbliche Seele, hildburghäusische
Seele - meining'sche Seele oder auch altenburgische
Seele - gleichviel, singe, singe der sündigen Deut-
schen Erlösung!« Dieser Seelenschacher im Herzen
des Vaterlandes und dessen blutende Zerrissenheit
läßt keinen stolzen Sinn und noch viel weniger ein
stolzes Wort aufkommen, unsere schönsten Taten
werden lächerlich durch den dummen Erfolg, und
während wir uns unmutig einhüllen in den Purpur-
mantel des deutschen Heldenblutes, kömmt ein politi-
scher Schalk und setzt uns die Schellenkappe aufs
Haupt.
Eben die Literaturen unserer Nachbaren jenseits
des Rheins und des Kanals muß man mit unserer Ba-
gatelliteratur vergleichen, um das Leere und Bedeu-
tungslose unseres Bagatelllebens zu begreifen. Da ich
selbst mich erst späterhin über dieses Thema, über
deutsche Literaturmisere verbreiten will, so liefere ich
einen heitern Ersatz durch das Einschalten der folgen-
den Xenien, die aus der Feder Immermanns, meines
hohen Mitstrebenden, geflossen sind. Die Gleichge-
sinnten danken mir gewiß für die Mitteilung dieser
Verse, und bis auf wenige Ausnahmen, die ich mit
Sternen bezeichne, will ich sie gern als meine eigne
Gesinnung vertreten.
Der poetische Literator
Laß dein Lächeln, laß dein Flennen, sag uns ohne Hinterlist,
Wann Hans Sachs das Licht erblickte, Weckherlin gestorben ist.
»Alle Menschen müssen sterben«, spricht das Männlein mit Bedeutung.
Alter Junge, dessengleichen ist uns keine große Zeitung.
Mit vergeßnen, alten Schwarten schmiert er seine Autorstiefeln,
Daß er dazu heiter weine, frißt er fromm poet'sche Zwiefeln.
*Willst du kommentieren, Fränzel, mindestens verschon den Luther,
Dieser Fisch behagt uns besser ohne die zerlaßne Butter.
Dramatiker
1
*»Nimmer schreib ich mehr Tragödien, mich am Publikum
zu rächen
Schimpf uns, wie du willst, mein Guter, aber halte dein Versprechen.
2
Diesen Reiterleutnant müsset, Stachelverse, ihr verschonen;
Denn er kommandiert Sentenzen und Gefühl' in Eskadronen.
3
Wär Melpomene ein Mädchen, gut, gefühlvoll und natürlich,
Riet' ich ihr: Heirate diesen, der so milde und so zierlich.
4
Seiner vielen Sünden wegen geht der tote Kotzebue
Um in diesem Ungetüme ohne Strümpfe, ohne Schuhe.
Und so kommt zu vollen Ehren tiefe Lehr' aus grauen Jahren,
Daß die Seelen der Verstorbnen müssen in die Bestien fahren.
Östliche Poeten
Groß mérite ist es jetzo, nach Saadis Art zu girren,
Doch mir scheint's egal gepudelt, ob wir östlich, westlich irren.
Sonsten sang, beim Mondenscheine, Nachtigall seu Philomele;
Wenn jetzt Bülbül flötet, scheint es mir denn doch dieselbe Kehle.
Alter Dichter, du gemahnst mich, als wie Hamelns Rattenfänger;
Pfeifst nach Morgen, und es folgen all die lieben kleinen Sänger.
Aus Bequemlichkeit verehren sie die Kühe frommer Inden,
Daß sie den Olympus mögen nächst in jedem Kuhstall finden.
Von den Früchten, die sie aus dem Gartenhain von Schiras stehlen,
Essen sie zuviel, die Armen, und vomieren dann Ghaselen.
Glockentöne
Seht den dicken Pastor dorten unter seiner Tür im Staate,
Läutet mit den Glocken, daß man ihn verehr' in dem Ornate.
Und es kamen, ihn zu schauen, flugs die Blinden und die Lahmen,
Engebrust und Krampf, besonders hysteriegeplagte Damen.
Weiße Salbe weder heilet noch verschlimmert irgend Schäden,
Weiße Salbe findest jetzo du in allen Bücherläden.
Geht's so fort, und läßt sich jeder Pfaffe ferner adorieren,
Werd ich in den Schoß der Kirche ehebaldigst retournieren.
Dort gehorch ich einem Papste und verehr ein praesens numen,
Aber hier macht sich zum numen jeglich ordiniertes lumen.
Orbis pictus
Hätte einen Hals das ganze weltverderbende Gelichter,
Einen Hals, ihr hohen Götter: Priester, Histrionen, Dichter!
In die Kirche ging ich morgens, um Komödien zu schauen,
Abends ins Theater, um mich an der Predigt zu erbauen.
Selbst der liebe Gott verlieret sehr bei mir an dem Gewichte,
Weil nach ihrem Ebenbilde schnitzen ihn viel tausend Wichte.
Wenn ich euch gefall, ihr Leute, dünk ich mich ein Leineweber,
Aber, wenn ich euch verdrieße, seht, das stärkt mir meine Leber.
»Ganz bewältigt er die Sprache«; ja, es ist, sich totzulachen,
Seht nur, was für tolle Sprünge lässet er die arme machen.
Vieles Schlimme kann ich dulden, aber eins ist mir zum Ekel,
Wenn der nervenschwache Zärtling spielt den genialen Rekel.
*Damals mochtst du mir gefallen, als du buhltest mit Lucindchen,
Aber, o der frechen Liebschaft! mit Marien wollen sünd'gen.
Erst in England, dann in Spanien, jetzt in Brahmas Finsternissen,
Überall umhergestrichen, deutschen Rock und Schuh zerrissen.
Wenn die Damen schreiben, kramen stets sie aus von ihren Schmerzen,
Fausses couches touchierter Tugend - ach, die gar zu offnen Herzen!
Laßt die Damen mir zufrieden; daß sie schreiben, find ich rätlich:
Führt die Frau die Autorfeder, wird sie wenigstens nicht schädlich.
Glaubt, das Schriftentum wird gleichen bald den ärgsten Rockenstuben,
Die Gevatterinnen schnacken, und es hören zu die Buben.
Wär ich Dschingis-Khan, o China, wärst du längst von mir vernichtet,
Dein verdammtes Teegeplätscher hat uns langsam hingerichtet.
Alles setzet sich zur Ruhe, und der Größte wird geduldig,
Streicht gemächlich ein, was frühre Zeiten blieben waren schuldig.
Jene Stadt ist voller Verse, Töne, Statuen, Schilderein,
Wursthans steht mit der Trompete an dem Tor und schreit: »Herein!«
»Diese Reime klingen schändlich, ohne Metrum und Zäsuren«;
Wollt in Uniform ihr stecken literarische Panduren? -
»Sag, wie kommst du nur zu Worten, die so grob und ungezogen?«
Freund, im wüsten Marktgedränge braucht man seine Ellenbogen.
»Aber du hast auch bereimet, was unleugbar gut und groß.«
Mischt der Beste sich zum Plebse, duldet er desPlebses Los.
Wenn die Sommerfliegen schwärmen, tutet ihr sie mit den Klappen,
Und nach diesen Reimen werdet schlagen ihr mit euren Kappen.
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