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Die Stadt Lucca | Englische Fragmente

und

Schlußwort

Text by Heinrich Heine (1797-1856)

Geschrieben den 29. November 1830

Es war eine niedergedrückte, arretierte Zeit in 
Deutschland, als ich den zweiten Band der »Reisebil-
der« schrieb und während des Schreibens drucken 
ließ. Ehe er aber erschien, verlautete schon etwas 
davon im Publikum, es hieß, mein Buch wolle den 
eingeschüchterten Freiheitsmut wieder aufmuntern 
und man treffe schon Maßregeln, es ebenfalls zu un-
terdrücken. Bei solchem Gerüchte war es ratsam, das 
Werk um so schneller zu fördern und aus der Presse 
zu jagen. Da es eine gewisse Bogenzahl enthalten 
mußte, um den Ansprüchen einer hochlöblichen Zen-
sur zu entgehen, so glich ich in jener Not dem Benve-
nuto Cellini, als er beim Guß des Perseus nicht Erz 
genug hatte und, zur Füllung der Form, alle zinnernen
Teller, die ihm zur Hand lagen, in den Schmelzofen 
warf. Es war gewiß leicht, das Zinn, besonders das 
zinnerne Ende des Buches, von dem besseren Erze zu 
unterscheiden; doch wer das Handwerk verstand, ver-
riet den Meister nicht.
Wie aber alles in der Welt wiederkehren kann, so 
geschieht es auch, daß sich zufälligerweise bei diesen 
»Nachträgen« eine ähnliche Bedrängnis ereignet, und 
ich habe wieder eine Menge Zinn in den Guß werfen 
müssen, und ich wünsche, daß man meine Zinngieße-
reien nur der Zeitnot zuschreibe.
Ach! ist ja das ganze Buch aus der Zeitnot hervor-
gegangen, ebenso wie die früheren Schriften ähnlicher
Richtung; die näheren Freunde des Verfassers, die 
seiner Privatverhältnisse kundig sind, wissen sehr gut,
wie wenig ihn die eigne Selbstsucht zur Tribüne 
drängt und wie groß die Opfer sind, die er bringen 
muß, für jedes freie Wort, das er seitdem gesprochen 
- und, will's Gott!, noch sprechen wird. Jetzt ist das 
Wort eine Tat, deren Folgen sich nicht abmessen las-
sen; kann doch keiner genau wissen, ob er nicht gar 
am Ende als Blutzeuge auftreten muß für das Wort.
Seit mehreren Jahren warte ich vergebens auf das 
Wort jener kühnen Redner, die einst in den Versamm-
lungen der deutschen Burschenschaft so oft ums Wort
baten und mich so oft durch ihre rhetorischen Talente 
überwunden und eine so vielversprechende Sprache 
gesprochen; sie waren sonst so vorlaut und sind jetzt 
so nachstill. Wie schmähten sie damals die Franzen 
und das welsche Babel und den undeutschen, frivolen 
Vaterlandsverräter, der das Franzentum lobte. Jenes 
Lob hat sich bewährt in der großen Woche.
Ach, die große Woche von Paris! Der Freiheitsmut,
der von dort herüberwehte nach Deutschland, hat frei-
lich hie und da die Nachtlichter umgeworfen, so daß 
die roten Gardinen an einigen Thronen in Brand 
gerieten und die goldnen Kronen heiß wurden unter 
den lodernden Schlafmützen; - aber die alten Hä-
scher, denen die Reichspolizei anvertraut, schleppen 
schon die Löscheimer herbei und schnüffeln jetzt um 
so wachsamer und schmieden um so fester die heimli-
chen Ketten, und ich merke schon, unsichtbar wölbt 
sich eine noch dichtere Kerkermauer um das deutsche 
Volk.
Armes, gefangenes Volk! verzage nicht in deiner 
Not - Oh, daß ich Katapulta sprechen könnte! Oh, 
daß ich Falarika hervorschießen könnte aus meinem 
Herzen!
Von meinem Herzen schmilzt die vornehme Eis-
rinde, eine seltsame Wehmut beschleicht mich - ist es
Liebe, und gar Liebe für das deutsche Volk? Oder ist 
es Krankheit? - meine Seele bebt, und es brennt mir 
im Auge, und das ist ein ungünstiger Zustand für 
einen Schriftsteller, der den Stoff beherrschen und 
hübsch objektiv bleiben soll, wie es die Kunstschule 
verlangt und wie es auch Goethe getan - er ist achtzig
Jahr dabei alt geworden und Minister und wohlha-
bend - armes deutsches Volk! das ist dein größter 
Mann!
Es fehlen mir noch einige Oktavseiten, und ich will
deshalb noch eine Geschichte erzählen - sie schwebt 
mir schon seit gestern im Sinne -, es ist eine Ge-
schichte aus dem Leben Karls V. Doch ist es schon 
lange her, seit ich sie vernahm, und ich weiß die be-
sonderen Umstände nicht mehr ganz genau. So was 
vergißt sich leicht, wenn man kein bestimmtes Gehalt 
dafür bezieht, daß man die alten Geschichten alle 
halbe Jahre vom Hefte abliest. Was ist aber auch 
daran gelegen, wenn man die Ortsnamen und Jahrzah-
len der Geschichten vergessen hat; wenn man nur ihre
innere Bedeutung, ihre Moral, im Gedächtnisse behal-
ten. Diese ist es eigentlich, die mir im Sinne klingt 
und mich wehmütig bis zu Tränen stimmt. Ich fürch-
te, ich werde krank.
Der arme Kaiser war von seinen Feinden gefangen-
genommen und saß in schwerer Haft. Ich glaube, es 
war in Tirol. Da saß er, in einsamer Betrübnis, verlas-
sen von allen seinen Rittern und Höflingen, und kei-
ner kam ihm zu Hülfe. Ich weiß nicht, ob er schon da-
mals jenes käsebleiche Gesicht hatte, wie es auf den 
Bildern von Holbein abkonterfeit ist. Aber die men-
schenverachtende Unterlippe trat gewiß noch gewalt-
samer hervor als auf jenen Bildern. Mußte er doch die
Leute verachten, die, im Sonnenschein des Glückes, 
ihn so ergeben umwedelt und ihn jetzt allein ließen in 
dunkler Not. Da öffnete sich plötzlich die Kerkertüre, 
und herein trat ein verhüllter Mann, und wie dieser 
den Mantel zurückschlug, erkannte der Kaiser seinen 
treuen Kunz von der Rosen, den Hofnarren. Dieser 
brachte ihm Trost und Rat, und es war der Hofnarr.
Oh, deutsches Vaterland! teures deutsches Volk! 
ich bin dein Kunz von der Rosen. Der Mann, dessen 
eigentliches Amt die Kurzweil und der dich nur belu-
stigen sollte in guten Tagen, er dringt in deinen Ker-
ker zur Zeit der Not; hier unter dem Mantel bringe ich
dir dein starkes Zepter und die schöne Krone - er-
kennst du mich nicht, mein Kaiser? Wenn ich dich 
nicht befreien kann, so will ich dich wenigstens trö-
sten, und du sollst jemanden um dir haben, der mit dir
schwatzt über die bedränglichste Drangsal und dir 
Mut einspricht und dich liebhat und dessen bester 
Spaß und bestes Blut zu deinen Diensten steht. Denn 
du, mein Volk, bist der wahre Kaiser, der wahre Herr 
der Lande - dein Wille ist souverän und viel legitimer
als jenes purpurne Tel est notre plaisir, das sich auf 
ein göttliches Recht beruft, ohne alle andre Gewähr 
als die Salbadereien geschorener Gaukler - dein 
Wille, mein Volk, ist die alleinig rechtmäßige Quelle 
aller Macht. Wenn du auch in Fesseln daniederliegst, 
so siegt doch am Ende dein gutes Recht, es naht der 
Tag der Befreiung, eine neue Zeit beginnt - mein 
Kaiser, die Nacht ist vorüber, und draußen glüht das 
Morgenrot.
»Kunz von der Rosen, mein Narr, du irrst dich, ein 
blankes Beil hältst du vielleicht für eine Sonne, und 
das Morgenrot ist nichts als Blut.«
»Nein, mein Kaiser, es ist die Sonne, obgleich sie 
im Westen hervorsteigt - seit sechstausend Jahren sah
man sie immer aufgehen im Osten, da wird es wohl 
Zeit, daß sie mal eine Verändrung vornehme in ihrem 
Lauf.«
»Kunz von der Rosen, mein Narr, du hast ja die 
Schellen verloren von deiner roten Mütze, und sie hat 
jetzt so ein seltsames Ansehen, die rote Mütze.«
»Ach, mein Kaiser, ich habe ob Eurer Not so wü-
tend ernsthaft den Kopf geschüttelt, daß die närri-
schen Schellen abfielen von der Mütze; sie ist aber 
darum nicht schlechter geworden.«
»Kunz von der Rosen, mein Narr, was bricht und 
kracht da draußen?«
»Seid still! das ist die Säge und die Zimmermann-
saxt, und bald brechen zusammen die Pforten Eures 
Kerkers, und Ihr seid frei, mein Kaiser!«
»Bin ich denn wirklich Kaiser? Ach, es ist ja der 
Narr, der es mir sagt!«
»Oh, seufzt nicht, mein lieber Herr, die Kerkerluft 
macht Euch so verzagt; wenn Ihr erst wieder Eure 
Macht errungen, fühlt Ihr auch wieder das kühne Kai-
serblut in Euren Adern, und Ihr seid stolz wie ein 
Kaiser und übermütig und genädig und ungerecht und
lächelnd und undankbar, wie Fürsten sind.«
»Kunz von der Rosen, mein Narr, wenn ich wieder 
frei werde, was willst du dann anfangen?«
»Ich will mir dann neue Schellen an meine Mütze 
nähen.«
»Und wie soll ich deine Treue belohnen?«
»Ach! lieber Herr, laßt mich nicht umbringen.«

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