Als die schöne Sara die Augen aufschlug, ward sie
fast geblendet von den Strahlen der Sonne. Die hohen
Türme einer großen Stadt erhoben sich, und der stum-
me Wilhelm stand mit der Hakenstange aufrecht im
Kahne und leitete denselben durch das lustige Gewühl
vieler buntbewimpelten Schiffe, deren Mannschaft
entweder müßig hinabschaute auf die Vorbeifahren-
den oder vielhändig beschäftigt war mit dem Ausla-
den von Kisten, Ballen und Fässern, die auf kleineren
Fahrzeugen ans Land gebracht wurden, wobei ein be-
täubender Lärm, das beständige Hallorufen der Bar-
kenführer, das Geschrei der Kaufleute vom Ufer her
und das Keifen der Zöllner, die in ihren roten Röcken
mit weißen Stäbchen und weißen Gesichtern von
Schiff zu Schiff hüpften.
»Ja, schöne Sara«, sagte der Rabbi zu seiner Frau,
heiter lächelnd, »das ist hier die weltberühmte freie
Reichs- und Handelsstadt Frankfurt am Main, und das
ist eben der Mainfluß, worauf wir jetzt fahren. Da
drüben die lachenden Häuser, umgeben von grünen
Hügeln, das ist das Sachsenhausen, woher uns der
lahme Gumpertz zur Zeit des Lauberhüttenfestes die
schönen Myrrhen holt. Hier siehst du auch die starke
Mainbrücke mit ihren dreizehn Bögen, und gar viel
Volk, Wagen und Pferde geht sicher darüberhin, und
in der Mitte steht das Häuschen, wovon die Mühmele
Täubchen erzählt hat, daß ein getaufter Jude darin
wohnt, der jedem, der ihm eine tote Ratte bringt,
sechs Heller auszahlt für Rechnung der jüdischen Ge-
meinde, die dem Stadtrate jährlich fünftausend Rat-
tenschwänze abliefern soll!«
Über diesen Krieg, den die Frankfurter Juden mit
den Ratten zu führen haben, mußte die schöne Sara
laut lachen, das klare Sonnenlicht und die neue bunte
Welt, die vor ihr auftauchte, hatte alles Grauen und
Entsetzen der vorigen Nacht aus ihrer Seele ver-
scheucht, und als sie aus dem landenden Kahne von
ihrem Manne und dem stummen Wilhelm aufs Ufer
gehoben worden, fühlte sie sich wie durchdrungen
von freudiger Sicherheit. Der stumme Wilhelm aber
mit seinen schönen, tiefblauen Augen sah ihr lange
ins Gesicht, halb schmerzlich, halb heiter, dann warf
er noch einen bedeutenden Blick nach dem Rabbi,
sprang zurück in seinen Kahn, und bald war er damit
verschwunden.
»Der stumme Wilhelm hat doch viele Ähnlichkeit
mit meinem verstorbenen Bruder«, bemerkte die schö-
ne Sara. »Die Engel sehen sich alle ähnlich«, erwider-
te leichthin der Rabbi, und sein Weib bei der Hand
ergreifend, führte er sie durch das Menschengewim-
mel des Ufers, wo jetzt, weil es die Zeit der
Ostermesse, eine Menge hölzerner Krambuden aufge-
baut standen. Als sie durch das dunkle Maintor in die
Stadt gelangten, fanden sie nicht minder lärmigen
Verkehr. Hier, in einer engen Straße, erhob sich ein
Kaufmannsladen neben dem andern, und die Häuser,
wie überall in Frankfurt, waren ganz besonders zum
Handel eingerichtet: im Erdgeschosse keine Fenster,
sondern lauter offne Bogentüren, so daß man tief hin-
einschauen und jeder Vorübergehende die ausgestell-
ten Waren deutlich betrachten konnte. Wie staunte die
schöne Sara ob der Masse kostbarer Sachen und ihrer
nie gesehenen Pracht! Da standen Venezianer, die
allen Luxus des Morgenlands und Italiens feilboten,
und die schöne Sara war wie festgebannt beim An-
blick der aufgeschichteten Putzsachen und Kleinodi-
en, der bunten Mützen und Mieder, der güldnen Arm-
spangen und Halsbänder, des ganzen Flitterkrams,
das die Frauen sehr gern bewundern und womit sie
sich noch lieber schmücken. Die reichgestickten Samt
- und Seidenstoffe schienen mit der schönen Sara
sprechen und ihr allerlei Wunderliches ins Gedächtnis
zurückfunkeln zu wollen, und es war ihr wirklich zu-
mute, als wäre sie wieder ein kleines Mädchen und
Mühmele Täubchen habe ihr Versprechen erfüllt und
sie nach der Frankfurter Messe geführt, und jetzt eben
stehe sie vor den hübschen Kleidern, wovon ihr soviel
erzählt worden. Mit heimlicher Freude überlegte sie
schon, was sie nach Bacherach mitbringen wolle, wel-
chem von ihren beiden Bäschen, dem kleinen Blüm-
chen oder dem kleinen Vögelchen, der blauseidne
Gürtel am besten gefallen würde, ob auch die grünen
Höschen dem kleinen Gottschalk passen mögen -
doch plötzlich sagte sie zu sich selber: »Ach Gott! die
sind ja unterdessen großgewachsen und gestern umge-
bracht worden!« Sie schrak heftig zusammen, und die
Bilder der Nacht wollten schon mit all ihrem Entset-
zen wieder in ihr aufsteigen; doch die goldgestickten
Kleider blinzelten nach ihr wie mit tausend Schelmen-
augen und redeten ihr alles Dunkle aus dem Sinn, und
wie sie hinaufsah nach dem Antlitz ihres Mannes, so
war dieses unumwölkt und trug seine gewöhnliche
ernste Milde. »Mach die Augen zu, schöne Sara«,
sagte der Rabbi und führte seine Frau weiter durch
das Menschengedränge.
Welch ein buntes Treiben! Zumeist waren es Han-
delsleute, die laut miteinander feilschten oder auch
mit sich selber sprechend an den Fingern rechneten
oder auch von einigen hochbepackten Markthelfern,
die im kurzen Hundetrab hinter ihnen herliefen, ihre
Einkäufe nach der Herberge schleppen ließen. Andere
Gesichter ließen merken, daß bloß die Neugier sie
herbeigezogen. Am roten Mantel und der goldenen
Halskette erkannte man den breiten Ratsherrn. Das
schwarze, wohlhabend bauschigte Wams verriet den
ehrsamen stolzen Altbürger. Die eiserne Pickelhaube,
das gelblederne Wams und die klirrenden Pfundspo-
ren verkündigten den schweren Reutersknecht. Un-
term schwarzen Sammethäubchen, das in einer Spitze
auf der Stirne zusammenlief, barg sich ein rosiges
Mädchengesicht, und die jungen Gesellen, die gleich
witternden Jagdhunden hinterdreinsprangen, zeigten
sich als vollkommene Stutzer durch ihre keckbefieder-
ten Barette, ihre klingelnden Schnabelschuhe und ihre
seidnen Kleider von geteilter Farbe, wo die rechte
Seite grün, die linke Seite rot oder die eine regenbo-
genartig gestreift, die andre buntscheckig gewürfelt
war, so daß die närrischen Burschen aussahen, als
wären sie in der Mitte gespalten. Von der Menschen-
strömung fortgezogen, gelangte der Rabbi mit seinem
Weibe nach dem Römer. Dieses ist der große, mit
hohen Giebelhäusern umgebene Marktplatz der Stadt,
seinen Namen führend von einem ungeheuren Hause,
das »Zum Römer« hieß und vom Magistrate ange-
kauft und zu einem Rathause geweiht wurde. In die-
sem Gebäude wählte man Deutschlands Kaiser, und
vor demselben wurden oft edle Ritterspiele gehalten.
Der König Maximilian, der dergleichen leidenschaft-
lich liebte, war damals in Frankfurt anwesend, und
tags zuvor hatte man ihm zu Ehren vor dem Römer
ein großes Stechen veranstaltet. An den hölzernen
Schranken, die jetzt von den Zimmerleuten
abgebrochen wurden, standen noch viele Müßiggän-
ger und erzählten sich, wie gestern der Herzog von
Braunschweig und der Markgraf von Brandenburg
unter Pauken- und Trompetenschall gegeneinanderge-
rannt, wie Herr Walter der Lump den Bärenritter so
gewaltig aus dem Sattel gestoßen, daß die Lanzen-
splitter in die Luft flogen, und wie der lange, blonde
König Max im Kreise seines Hofgesindes auf dem
Balkone stand und sich vor Freude die Hände rieb.
Die Decken von goldnen Stoffen lagen noch auf der
Lehne des Balkons und der spitzbögigen Rathausfen-
ster. Auch die übrigen Häuser des Marktplatzes
waren noch festlich geschmückt und mit Wappen-
schilden verziert, besonders das Haus Limburg, auf
dessen Banner eine Jungfrau gemalt war, die einen
Sperber auf der Hand trägt, während ihr ein Affe
einen Spiegel vorhält. Auf dem Balkone dieses Hau-
ses standen viele Ritter und Damen, in lächelnder Un-
terhaltung hinabblickend auf das Volk, das unten in
tollen Gruppen und Aufzügen hin und her wogte.
Welche Menge Müßiggänger von jedem Stande und
Alter drängte sich hier, um ihre Schaulust zu befriedi-
gen! Hier wurde gelacht, gegreint, gestohlen in die
Lenden gekniffen, gejubelt, und zwischendrein
schmetterte gellend die Trompete des Arztes, der im
roten Mantel mit seinem Hanswurst und Affen auf
einem hohen Gerüste stand, seine eigne
Kunstfertigkeit recht eigentlich ausposaunte, seine
Tinkturen und Wundersalben anpries oder ernsthaft
das Uringlas betrachtete, das ihm irgendein altes
Weib vorhielt, oder sich anschickte, einem armen
Bauer den Backzahn auszureißen. Zwei Fechtmeister,
in bunten Bändern einherflatternd, ihre Rapiere
schwingend, begegneten sich hier wie zufällig und
stießen mit Scheinzorn aufeinander; nach langem Ge-
fechte erklärten sie sich wechselseitig für unüber-
windlich und sammelten einige Pfenninge. Mit
Trommler und Pfeifer marschierte jetzt vorbei die neu
errichtete Schützengilde. Hierauf folgte, angeführt
von dem Stöcker, der eine rote Fahne trug, ein Rudel
fahrender Fräulein, die aus dem Frauenhause »Zum
Esel« von Würzburg herkamen und nach dem Rosen-
tale hinzogen, wo die hochlöbliche Obrigkeit ihnen
für die Meßzeit ihr Quartier angewiesen. »Mach die
Augen zu, schöne Sara!« sagte der Rabbi. Denn jene
phantastisch und allzu knapp bekleideten Weibsbil-
der, worunter einige sehr hübsche, gebärdeten auf die
unzüchtigste Weise, entblößten ihren weißen, frechen
Busen, neckten die Vorübergehenden mit schamlosen
Worten, schwangen ihre langen Wanderstöcke, und
indem sie auf letzteren wie auf Steckenpferden die
Sankt- Katharinen-Pforte hinabritten, sangen sie mit
gellender Stimme das Hexenlied:
»Wo ist der Bock, das Höllentier?
Wo ist der Bock? Und fehlt der Bock,
So reiten wir, so reiten wir,
So reiten wir auf dem Stock!«
Dieser Singsang, den man noch in der Ferne hören
konnte, verlor sich am Ende in den kirchlich langge-
zogenen Tönen einer herannahenden Prozession. Das
war ein trauriger Zug von kahlköpfigen und barfüßi-
gen Mönchen, welche brennende Wachslichter oder
Fahnen mit Heil'genbildern oder auch große silberne
Kruzifixe trugen. An ihrer Spitze gingen rot- und
weißgeröckte Knaben mit dampfenden Weihrauchkes-
seln. In der Mitte des Zuges, unter einem prächtigen
Baldachin, sah man Geistliche in weißen Chorhemden
von kostbaren Spitzen oder in buntseidenen Stolen,
und einer derselben trug in der Hand ein sonnenartig
goldnes Gefäß, das er, bei einer Heiligennische der
Marktecke anlangend hoch emporhob, während er la-
teinische Worte halb rief, halb sang... Zugleich erklin-
gelte ein kleines Glöckchen, und alles Volk ringsum
verstummte, fiel auf die Knie und bekreuzte sich. Der
Rabbi aber sprach zu seinem Weibe: »Mach die
Augen zu, schöne Sara!«, und hastig zog er sie von
hinnen nach einem schmalen Nebengäßchen, durch
ein Labyrinth von engen und krummen Straßen und
endlich über den unbewohnten, wüsten Platz, der das
neue Judenquartier von der übrigen Stadt trennte.
Vor jener Zeit wohnten die Juden zwischen dem
Dom und dem Mainufer, nämlich von der Brücke bis
zum Lumpenbrunnen und von der Mehlwaage bis zu
Sankt Bartholomäi. Aber die katholischen Priester er-
langten eine päpstliche Bulle, die den Juden verwehr-
te, in solcher Nähe der Hauptkirche zu wohnen, und
der Magistrat gab ihnen einen Platz auf dem Wollgra-
ben, wo sie das heutige Judenquartier erbauten. Die-
ses war mit starken Mauern versehen, auch mit eiser-
nen Ketten vor den Toren, um sie gegen Pöbelandrang
zu sperren. Denn hier lebten die Juden ebenfalls in
Druck und Angst und mehr als heutzutage in der Erin-
nerung früherer Nöten. Im Jahr 1240 hatte das entzü-
gelte Volk ein großes Blutbad unter ihnen angerichtet,
welches man die erste Judenschlacht nannte, und im
Jahr 1349, als die Geißler bei ihrem Durchzuge die
Stadt anzündeten und die Juden des Brandstiftens an-
klagten, wurden diese von dem aufgereizten Volke
zum größten Teil ermordet, oder sie fanden den Tod
in den Flammen ihrer eignen Häuser, welches man die
zweite Judenschlacht nannte. Später bedrohte man die
Juden noch oft mit dergleichen Schlachten, und bei
innern Unruhen Frankfurts, besonders bei einem
Streite des Rates mit den Zünften, stand der Christen-
pöbel oft im Begriff, das Judenquartier zu stürmen.
Letzteres hatte zwei Tore, die an katholischen
Feiertagen von außen, an jüdischen Feiertagen von
innen geschlossen wurden, und vor jedem Tor befand
sich ein Wachthaus mit Stadtsoldaten.
Als der Rabbi mit seinem Weibe an das Tor des
Judenquartiers gelangte, lagen die Landsknechte, wie
man durch die offnen Fenster sehen konnte, auf der
Pritsche ihrer Wachtstube, und draußen vor der Türe,
im vollen Sonnenschein, saß der Trommelschläger
und phantasierte auf seiner großen Trommel. Das war
eine schwere, dicke Gestalt; Wams und Hosen von
feuergelbem Tuch, an Armen und Lenden weit aufge-
pufft und, als wenn unzählige Menschenzungen dar-
aus hervorleckten, von oben bis unten besät mit klei-
nen eingenähten roten Wülstchen; Brust und Rücken
gepanzert mit schwarzen Tuchpolstern, woran die
Trommel hing; auf dem Kopfe eine platte, runde
schwarze Kappe; das Gesicht ebenso platt und rund,
auch orangengelb und mit roten Schwärchen gespickt
und verzogen zu einem gähnenden Lächeln. So saß
der Kerl und trommelte die Melodie des Liedes, das
einst die Geißler bei der Judenschlacht gesungen, und
mit seinem rauhen Biertone gurgelte er die Worte:
»Unsre Liebe Fraue,
Die ging im Morgentaue,
Kyrie eleison!«
»Hans, das ist eine schlechte Melodie«, rief eine
Stimme hinter dem verschlossenen Tore des Juden-
quartiers, »Hans, auch ein schlecht Lied, paßt nicht
für die Trommel, paßt gar nicht und beileibe nicht in
der Messe und am Ostermorgen, schlecht Lied, ge-
fährlich Lied, Hans, Hänschen, klein Trommelhän-
schen, ich bin ein einzelner Mensch, und wenn du
mich liebhast, wenn du den Stern liebhast, den langen
Stern, den langen Nasenstern, so hör auf!«
Diese Worte wurden von dem ungesehenen Spre-
cher teils angstvoll hastig, teils aufseufzend langsam
hervorgestoßen, in einem Tone, worin das ziehend
Weiche und das heiser Harte schroff abwechselte, wie
man ihn bei Schwindsüchtigen findet. Der Trommel-
schläger blieb unbewegt, und in der vorigen Melodie
forttrommelnd, sang er weiter:
»Da kam ein kleiner Junge,
Sein Bart war ihm entsprungen,
Halleluja!«
»Hans«, rief wieder die Stimme des obenerwähnten
Sprechers, »Hans, ich bin ein einzelner Mensch, und
es ist ein gefährlich Lied, und ich hör es nicht gern,
und ich hab meine Gründe, und wenn du mich lieb-
hast, singst du was anders, und morgen trinken wir...«
Bei dem Wort »trinken« hielt der Hans inne mit
seinem Trommeln und Singen, und biedern Tones
sprach er: »Der Teufel hole die Juden, aber du, lieber
Nasenstern, bist mein Freund, ich beschütze dich, und
wenn wir noch oft zusammen trinken, werde ich dich
auch bekehren. Ich will dein Pate sein; wenn du ge-
tauft wirst, wirst du selig, und wenn du Genie hast
und fleißig bei mir lernst, kannst du sogar noch Trom-
melschläger werden. Ja, Nasenstern, du kannst es
noch weit bringen, ich will dir den ganzen Katechis-
mus vortrommeln, wenn wir morgen zusammen trin-
ken - aber jetzt mach mal das Tor auf, da stehen zwei
Fremde und begehren Einlaß.«
»Das Tor auf?« schrie der Nasenstern, und die
Stimme versagte ihm fast. »Das geht nicht so schnell,
lieber Hans, man kann nicht wissen, man kann gar
nicht wissen, und ich bin ein einzelner Mensch. Der
Veitel Rindskopf hat den Schlüssel und steht jetzt
still in der Ecke und brümmelt sein Achtzehngebet; da
darf man sich nicht unterbrechen lassen. Jäkel der
Narr ist auch hier, aber er schlägt jetzt sein Wasser
ab. Ich bin ein einzelner Mensch!«
»Der Teufel hole die Juden!« rief der Trommel-
hans, und über diesen eignen Witz laut lachend, troll-
te er sich nach der Wachtstube und legte sich eben-
falls auf die Pritsche.
Während nun der Rabbi mit seinem Weibe jetzt
ganz allein vor dem großen verschlossenen Tore
stand, erhub sich hinter demselben eine schnarrende,
näselnde, etwas spöttisch gezogene Stimme: »Stern-
chen, dröhnle nicht so lange, nimm die Schlüssel aus
Rindsköpfchens Rocktasche oder nimm deine Nase
und schließe damit das Tor auf. Die Leute stehen
schon lange und warten.«
»Die Leute?« schrie ängstlich die Stimme des Man-
nes, den man den Nasenstern nannte, »ich glaubte, es
wäre nur einer, und ich bitte dich, Narr, lieber Jäkel
Narr, guck mal heraus, wer da ist.«
Da öffnete sich im Tore ein kleines, wohlvergitter-
tes Fensterlein, und zum Vorschein kam eine gelbe,
zweihörnige Mütze und darunter das drollig ver-
schnörkelte Lustigmachergesicht Jäkels des Narren.
In demselben Augenblicke schloß sich wieder die
Fensterluke, und ärgerlich schnarrte es: »Mach auf,
mach auf, draußen ist nur ein Mann und ein Weib.«
»Ein Mann und ein Weib!« ächzte der Nasenstern.
»Und wenn das Tor aufgemacht wird, wirft das Weib
den Rock ab und es ist auch ein Mann, und es sind
dann zwei Männer, und wir sind nur unserer drei!«
»Sei kein Hase«, erwiderte Jäkel der Narr, »und sei
herzhaft und zeige Courage!«
»Courage!« rief der Nasenstern und lachte mit ver-
drießlicher Bitterkeit. »Hase! Hase ist ein schlechter
Vergleich, Hase ist ein unreines Tier. Courage! Man
hat mich nicht der Courage wegen hierhergestellt,
sondern der Vorsicht halber. Wenn zu viele kommen,
soll ich schreien. Aber ich selbst kann sie nicht zu-
rückhalten. Mein Arm ist schwach, ich trage eine
Fontanelle, und ich bin ein einzelner Mensch. Wenn
man auf mich schießt, bin ich tot. Dann sitzt der rei-
che Mendel Reiß am Sabbat bei Tische und wischt
sich vom Maul die Rosinensauce und streichelt sich
den Bauch und sagt vielleicht: Das lange Nasenstern-
chen war doch ein braves Kerlchen, wäre es nicht ge-
wesen, so hätten sie das Tor gesprengt, es hat sich
doch für uns totschießen lassen, es war ein braves
Kerlchen, schade, daß es tot ist -«
Die Stimme wurde hier allmählich weich und wei-
nerlich, aber plötzlich schlug sie über in einen hasti-
gen, fast erbitterten Ton: »Courage! Und damit der
reiche Mendel Reiß sich die Rosinensauce vom Maul
abwischen und sich den Bauch streicheln und mich
braves Kerlchen nennen möge, soll ich mich tot-
schießen lassen? Courage! Herzhaft! Der kleine
Strauß war herzhaftig und hat gestern auf dem Römer
dem Stechen zugesehen und hat geglaubt, man kenne
ihn nicht, weil er einen violetten Rock trug, von Samt,
drei Gulden die Elle, mit Fuchsschwänzchen, ganz
goldgestickt, ganz prächtig - und sie haben ihm den
violetten Rock so lange geklopft, bis er abfärbte und
auch sein Rücken violett geworden ist und nicht mehr
menschenähnlich sieht. Courage! Der krumme Leser
war herzhaftig, nannte unseren lumpigen Schultheiß
einen Lump, und sie haben ihn an den Füßen aufge-
hängt zwischen zwei Hunden, und der Trommelhans
trommelte. Courage! Sei kein Hase! Unter den vielen
Hunden ist der Hase verloren, ich bin ein einzelner
Mensch, und ich habe wirklich Furcht!«
»Schwör mal!« rief Jäkel der Narr.
»Ich habe wirklich Furcht!« wiederholte seufzend
der Nasenstern, »ich weiß, die Furcht liegt im Geblüt,
und ich habe es von meiner seligen Mutter -«
»Ja, ja!« unterbrach ihn Jäkel der Narr, »und deine
Mutter hatte es von ihrem Vater, und der hatte es wie-
der von dem seinigen, und so hatten es deine Vorel-
tern einer vom andern, bis auf deinen Stammvater,
welcher unter König Saul gegen die Philister zu Felde
zog und der erste war, welcher Reißaus nahm. - Aber
sieh mal, Rindsköpfchen ist gleich fertig, er hat sich
bereits zum viertenmal gebückt, schon hüpft er wie
ein Floh bei dem dreimaligen Worte Heilig, und jetzt
greift er vorsichtig in die Tasche...«
In der Tat, die Schlüssel rasselten, knarrend öffnete
sich ein Flügel des Tores, und der Rabbi und sein
Weib traten in die ganz menschenleere Judengasse.
Der Aufschließer aber, ein kleiner Mann mit gutmütig
sauerm Gesicht, nickte träumerisch wie einer, der in
seinen Gedanken nicht gern gestört sein möchte, und
nachdem er das Tor wieder sorgsam verschlossen,
schlappte er, ohne ein Wort zu reden, nach einem
Winkel hinter dem Tore, beständig Gebete vor sich
hin murmelnd. Minder schweigsam war Jäkel der
Narr, ein untersetzter, etwas krummbeinigter Gesell,
mit einem lachend vollroten Antlitz und einer un-
menschlich großen Fleischhand, die er aus den weiten
Ärmeln seiner buntscheckigen Jacke zum Willkomm
hervorstreckte. Hinter ihm zeigte oder vielmehr barg
sich eine lange, magere Gestalt, der schmale Hals
weiß befiedert von einer feinen batistnen Krause und
das dünne, blasse Gesicht gar wundersam geziert mit
einer fast unglaublich langen Nase, die sich neugierig
angstvoll hin und her bewegte.
»Gott willkommen! zum guten Festtag!« rief Jäkel
der Narr, »wundert euch nicht, daß jetzt die Gasse so
leer und still ist. Alle unsere Leute sind jetzt in der
Synagoge, und ihr kommt eben zur rechten Zeit, um
dort die Geschichte von der Opferung Isaaks vorlesen
zu hören. Ich kenne sie, es ist eine interessante Ge-
schichte, und wenn ich sie nicht schon dreiunddreißig-
mal angehört hätte, so würde ich sie gern dies Jahr
noch einmal hören. Und es ist eine wichtige Ge-
schichte, denn wenn Abraham den Isaak wirklich ge-
schlachtet hätte und nicht den Ziegenbock, so wären
jetzt mehr Ziegenböcke und weniger Juden auf der
Welt.« - Und mit wahnsinnig lustiger Grimasse fing
der Jäkel an, folgendes Lied aus der Agade zu singen:
»Ein Böcklein, ein Böcklein, das gekauft Väterlein,
er gab dafür zwei Suslein; ein Böcklein, ein Böcklein!
Es kam ein Kätzlein und aß das Böcklein, das ge-
kauft Väterlein, er gab dafür zwei Suslein; ein Böck-
lein, ein Böcklein!
Es kam ein Hündlein und biß das Kätzlein, das ge-
fressen das Böcklein, das gekauft Väterlein, er gab
dafür zwei Suslein; ein Böcklein, ein Böcklein!
Es kam ein Stöcklein und schlug das Hündlein, das
gebissen das Kätzlein, das gefressen das Böcklein,
das gekauft Väterlein, er gab dafür zwei Suslein ein
Böcklein, ein Böcklein!
Es kam ein Feuerlein und verbrannte das Stöcklein,
das geschlagen das Hündlein, das gebissen das Kätz-
lein, das gefressen das Böcklein, das gekauft Väter-
lein, er gab dafür zwei Suslein; ein Böcklein, ein
Böcklein!
Es kam ein Wässerlein und löschte das Feuerlein,
das verbrannt das Stöcklein, das geschlagen das
Hündlein, das gebissen das Kätzlein, das gefressen
das Böcklein, das gekauft Väterlein, er gab dafür
zwei Suslein; ein Böcklein, ein Böcklein!
Es kam ein Öchslein und soff das Wässerlein, das
gelöscht das Feuerlein, das verbrannt das Stöcklein,
das geschlagen das Hündlein, das gebissen das Kätz-
lein, das gefressen das Böcklein, das gekauft Väter-
lein, er gab dafür zwei Suslein; ein Böcklein, ein
Böcklein!
Es kam ein Schlächterlein und schlachtete das
Öchslein, das gesoffen das Wässerlein, das gelöscht
das Feuerlein, das verbrannt das Stöcklein, das ge-
schlagen das Hündlein, das gebissen das Kätzlein,
das gefressen das Böcklein, das gekauft Väterlein, er
gab dafür zwei Suslein; ein Böcklein, ein Böcklein!
Es kam ein Todesenglein und schlachtete das
Schlächterlein, das geschlachtet das Öchslein, das ge-
soffen das Wässerlein, das gelöscht das Feuerlein, das
verbrannt das Stöcklein, das geschlagen das Hünd-
lein, das gebissen das Kätzlein, das gefressen das
Böcklein, das gekauft Väterlein, er gab dafür zwei
Suslein; ein Böcklein, ein Böcklein!«
»Ja, schöne Frau«, fügte der Sänger hinzu, »einst
kommt der Tag, wo der Engel des Todes den Schläch-
ter schlachten wird, und all unser Blut kommt über
Edom; denn Gott ist ein rächender Gott ---«
Aber plötzlich den Ernst, der ihn unwillkürlich be-
schlichen, gewaltsam abstreifend, stürzte sich Jäkel
der Narr wieder in seine Possenreißereien und fuhr
fort mit schnarrendem Lustigmachertone: »Fürchtet
Euch nicht, schöne Frau, der Nasenstern tut Euch
nichts zuleid. Nur für die alte Schnapper-Elle ist er
gefährlich. Sie hat sich in seine Nase verliebt, aber
die verdient es auch. Sie ist schön wie der Turm, der
gen Damaskus schaut, und erhaben wie die Zeder des
Libanons. Auswendig glänzt sie wie Glimmgold und
Sirup, und inwendig ist lauter Musik und Lieblich-
keit. Im Sommer blüht sie, im Winter ist sie zugefro-
ren, und Sommer und Winter wird sie gehätschelt von
Schnapper-Elles weißen Händen. Ja, die Schnapper-
Elle ist verliebt in ihn, ganz vernarrt. Sie pflegt ihn,
sie füttert ihn, und sobald er fett genug ist, wird sie
ihn heuraten, und für ihr Alter ist sie noch jung
genug, und wer mal nach dreihundert Jahren hierher
nach Frankfurt kömmt, wird den Himmel nicht sehen
können vor lauter Nasensternen!«
»Ihr seid Jäkel der Narr«, rief lachend der Rabbi,
»ich merk es an Euren Worten. Ich habe oft von Euch
sprechen gehört.«
»Ja, ja«, erwiderte jener mit drolliger Bescheiden-
heit, »ja, ja, das macht der Ruhm. Man ist oft weit
und breit für einen größern Narren bekannt, als man
selbst weiß. Doch ich gebe mir viele Mühe, ein Narr
zu sein, und springe und schüttle mich, damit die
Schellen klingeln. Andre haben's leichter... Aber sagt
mir, Rabbi, warum reiset Ihr am Feiertage?«
»Meine Rechtfertigung«, versetzte der Befragte,
»steht im Talmud, und es heißt: Gefahr vertreibt den
Sabbat.«
»Gefahr!« schrie plötzlich der lange Nasenstern
und gebärdete sich wie in Todesangst, »Gefahr! Ge-
fahr! Trommelhans, trommel, trommle, Gefahr!
Gefahr! Trommelhans...«
Draußen aber rief der Trommelhans mit seiner
dicken Bierstimme: »Tausend Donner-Sakrament!
Der Teufel hole die Juden! Das ist schon das dritte-
mal, daß du mich heute aus dem Schlafe weckst, Na-
senstern! Mach mich nicht rasend! Wenn ich rase,
werde ich wie der leibhaftige Satanas, und dann, so
wahr ich ein Christ bin, dann schieße ich mit der
Büchse durch die Gitterluke des Tores, und dann hüte
jeder seine Nase!«
»Schieß nicht! Schieß nicht! Ich bin ein einzelner
Mensch«, wimmerte angstvoll der Nasenstern und
drückte sein Gesicht fest an die nächste Mauer, und in
dieser Stellung verharrte er zitternd und leise betend.
»Sagt, sagt, was ist passiert?« rief jetzt auch Jäkel
der Narr mit all jener hastigen Neugier, die schon da-
mals den Frankfurter Juden eigentümlich war.
Der Rabbi aber riß sich von ihm los und ging mit
seinem Weibe weiter die Judengasse hinauf. »Sieh,
schöne Sara« sprach er seufzend, »wie schlecht ge-
schützt ist Israel! Falsche Freunde hüten seine Tore
von außen, und drinnen sind seine Hüter Narrheit und
Furcht!«
Langsam wanderten die beiden durch die lange,
leere Straße, wo nur hie und da ein blühender Mäd-
chenkopf zum Fenster hinausguckte, wahrend sich die
Sonne in den blanken Scheiben festlich heiter
bespiegelte. Damals nämlich waren die Häuser des
Judenviertels noch neu und nett, auch niedriger wie
jetzt, indem erst späterhin die Juden, als sie in Frank-
furt sich sehr vermehrten und doch ihr Quartier nicht
erweitern durften, dort immer ein Stockwerk über das
andere bauten, sardellenartig zusammenrückten und
dadurch an Leib und Seele verkrüppelten. Der Teil
des Judenquartiers, der nach dem großen Brande ste-
hengeblieben und den man die Alte Gasse nennt, jene
hohen, schwarzen Häuser, wo ein grinsendes, feuchtes
Volk umherschachert, ist ein schauderhaftes Denkmal
des Mittelalters. Die ältere Synagoge existiert nicht
mehr; sie war minder geräumig als die jetzige, die
später erbaut wurde, nachdem die Nüremberger Ver-
triebenen in die Gemeinde aufgenommen worden. Sie
lag nördlicher. Der Rabbi brauchte ihre Lage nicht
erst zu erfragen. Schon aus der Ferne vernahm er die
vielen verworrenen und überaus lauten Stimmen. Im
Hofe des Gotteshauses trennte er sich von seinem
Weibe. Nachdem er an dem Brunnen, der dort steht,
seine Hände gewaschen, trat er in jenen untern Teil
der Synagoge, wo die Männer beten; die schöne Sara
hingegen erstieg eine Treppe und gelangte oben nach
der Abteilung der Weiber.
Diese obere Abteilung war eine Art Galerie mit
drei Reihen hölzerner, braunrot angestrichener Sitze,
deren Lehne oben mit einem hängenden Brette
versehen war, das, um das Gebetbuch daraufzulegen,
sehr bequem aufgeklappt werden konnte. Die Frauen
saßen hier schwatzend nebeneinander oder standen
aufrecht, inbrünstig betend; manchmal auch traten sie
neugierig an das große Gitter, das sich längs der Mor-
genseite hinzog und durch dessen dünne grüne Latten
man hinabschauen konnte in die untere Abteilung der
Synagoge. Dort, hinter hohen Betpulten, standen die
Männer in ihren schwarzen Mänteln, die spitzen Bärte
herabschießend über die weißen Halskrausen und die
plattbedeckten Köpfe mehr oder minder verhüllt von
einem viereckigen, mit den gesetzlichen Schaufäden
versehenen Tuche, das aus weißer Wolle oder Seide
bestand, mitunter auch mit goldnen Tressen ge-
schmückt war. Die Wände der Synagoge waren ganz
einförmig geweißt, und man sah dort keine andere
Zierat als etwa das vergüldete Eisengitter um die vier-
eckige Bühne, wo die Gesetzabschnitte verlesen wer-
den, und die heilige Lade, ein kostbar gearbeiteter
Kasten, scheinbar getragen von marmornen Säulen
mit üppigen Kapitälern, deren Blumen- und Laub-
werk gar lieblich emporrankte, und bedeckt mit einem
Vorhang von kornblauem Sammet, worauf mit Gold-
flittern, Perlen und bunten Steinen eine fromme In-
schrift gestickt war. Hier hing die silberne Gedächtni-
sampel und erhob sich ebenfalls eine vergitterte
Bühne, auf deren Geländer sich allerlei heilige Geräte
befanden, unter andern der siebenarmige Tempel-
leuchter, und vor demselben, das Antlitz gegen die
Lade, stand der Vorsänger, dessen Gesang instrumen-
tenartig begleitet wurde von den Stimmen seiner bei-
den Gehülfen, des Bassisten und des Diskantsingers.
Die Juden haben nämlich alle wirkliche Instrumental-
musik aus ihrer Kirche verbannt, wähnend, daß der
Lobgesang Gottes erbaulicher aufsteige aus der war-
men Menschenbrust als aus kalten Orgelpfeifen.
Recht kindlich freute sich die schöne Sara, als jetzt
der Vorsänger, ein trefflicher Tenor, seine Stimme
erhob und die uralten, ernsten Melodien, die sie so gut
kannte, in noch nie geahneter junger Lieblichkeit auf-
blüheten, während der Bassist zum Gegensatze die
tiefen, dunkeln Töne hineinbrummte und in den Zwi-
schenpausen der Diskantsänger fein und süß trillerte.
Solchen Gesang hatte die schöne Sara in der Synago-
ge von Bacherach niemals gehört, denn der Gemein-
devorsteher, David Levi, machte dort den Vorsänger,
und wenn dieser schon bejahrte, zitternde Mann mit
seiner zerbröckelten, meckernden Stimme wie ein jun-
ges Mädchen trillern wollte und in solch gewaltsamer
Anstrengung seinen schlaff herabhängenden Arm fie-
berhaft schüttelte, so reizte dergleichen wohl mehr
zum Lachen als zur Andacht.
Ein frommes Behagen, gemischt mit weiblicher
Neugier, zog die schöne Sara ans Gitter, wo sie
hinabschauen konnte in die untere Abteilung, die so-
genannte Männerschule. Sie hatte noch nie eine so
große Anzahl Glaubensgenossen gesehen, wie sie da
unten erblickte, und es ward ihr noch heimlich wohler
ums Herz in der Mitte so vieler Menschen, die ihr so
nahe verwandt durch gemeinschaftliche Abstammung,
Denkweise und Leiden. Aber noch viel bewegter
wurde die Seele des Weibes, als drei alte Männer ehr-
furchtsvoll vor die heilige Lade traten, den glänzen-
den Vorhang an die Seite schoben, den Kasten auf-
schlossen und sorgsam jenes Buch herausnahmen, das
Gott mit heilig eigner Hand geschrieben und für des-
sen Erhaltung die Juden soviel erduldet, soviel Elend
und Haß, Schmach und Tod, ein tausendjähriges Mar-
tyrtum. Dieses Buch, eine große Pergamentrolle, war
wie ein fürstliches Kind in einem buntgestickten
Mäntelchen von rotem Sammet gehüllt; oben, auf den
beiden Rollhölzern, steckten zwei silberne Ge-
häuschen, worin allerlei Granaten und Glöckchen sich
zierlich bewegten und klingelten, und vorn, an silber-
nen Kettchen, hingen goldne Schilde mit bunten Edel-
steinen. Der Vorsänger nahm das Buch, und als sei es
ein wirkliches Kind, ein Kind, um dessentwillen man
große Schmerzen erlitten und das man nur desto mehr
liebt, wiegte er es in seinen Armen, tänzelte damit hin
und her, drückte es an seine Brust, und durchschauert
von solcher Berührung, erhub er seine Stimme zu
einem so jauchzend frommen Dankliede, daß es der
schönen Sara bedünkte, als ob die Säulen der heiligen
Lade zu blühen begönnen und die wunderbaren Blu-
men und Blätter der Kapitäler immer höher hinauf-
wüchsen und die Töne des Diskanten sich in lauter
Nachtigallen verwandelten und die Wölbung der Syn-
agoge gesprengt würde von den gewaltigen Tönen des
Bassisten und die Freudigkeit Gottes herabströmte
aus dem blauen Himmel. Das war ein schöner Psalm.
Die Gemeinde wiederholte chorartig die Schlußverse,
und nach der erhöhten Bühne in der Mitte der Syn-
agoge schritt langsam der Vorsänger mit dem heiligen
Buche, während Männer und Knaben sich hastig hin-
zudrängten, um die Sammethülle desselben zu küssen
oder auch nur zu berühren. Auf der erwähnten Bühne
zog man von dem heiligen Buche das samtne Mäntel-
chen sowie auch die mit bunten Buchstaben beschrie-
benen Windeln, womit es umwickelt war, und aus der
geöffneten Pergamentrolle, in jenem singenden Tone,
der am Paschafest noch gar besonders moduliert wird,
las der Vorsänger die erbauliche Geschichte von der
Versuchung Abrahams.
Die schöne Sara war bescheiden vom Gitter zu-
rückgewichen, und eine breite, putzbeladene Frau von
mittlerem Alter und gar gespreizt wohlwollendem
Wesen hatte ihr mit stummen Nicken die Miteinsicht
in ihrem Gebetbuche vergönnt. Diese Frau mochte
wohl keine große Schriftgelehrtin sein; denn als sie
die Gebete murmelnd vor sich hin las, wie die Wei-
ber, da sie nicht laut mitsingen dürfen, zu tun pflegen,
so bemerkte die schöne Sara, daß sie viele Worte all-
zusehr nach Gutdünken aussprach und manche gute
Zeile ganz überschlupperte. Nach einer Weile aber
hoben sich schmachtend langsam die wasserklaren
Augen der guten Frau, ein flaches Lächeln glitt über
das porzellanhaft rot und weiße Gesicht, und mit
einem Tone, der so vornehm als möglich hinschmel-
zen wollte, sprach sie zur schönen Sara: »Er singt
sehr gut. Aber ich habe doch in Holland noch viel
besser singen hören. Sie sind fremd und wissen viel-
leicht nicht, daß es der Vorsänger aus Worms ist und
daß man ihn hierbehalten will, wenn er mit jährlichen
vierhundert Gulden zufrieden. Es ist ein lieber Mann,
und seine Hände sind wie Alabaster. Ich halte viel
von einer schönen Hand. Eine schöne Hand ziert den
ganzen Menschen!« - Dabei legte die gute Frau
selbstgefällig ihre Hand, die wirklich noch schön war,
auf die Lehne des Betpultes, und mit einer graziösen
Beugung des Hauptes andeutend, daß sie sich im
Sprechen nicht gern unterbrechen lasse, setzte sie
hinzu: »Das Singerchen ist noch ein Kind und sieht
sehr abgezehrt aus. Der Baß ist gar zu häßlich, und
unser Stern hat mal sehr witzig gesagt: Der Baß ist
ein größerer Narr, als man von einem Baß zu
verlangen braucht! Alle drei speisen in meiner Gar-
küche, und Sie wissen vielleicht nicht, daß ich Elle
Schnapper bin.«
Die schöne Sara dankte für diese Mitteilung, woge-
gen wieder die Schnapper-Elle ihr ausführlich erzähl-
te, wie sie einst in Amsterdam gewesen, dort wegen
ihrer Schönheit gar vielen Nachstellungen unterwor-
fen war und wie sie drei Tage vor Pfingsten nach
Frankfurt gekommen und den Schnapper geheuratet,
wie dieser am Ende gestorben, wie er auf dem Tod-
bette die rührendsten Dinge gesprochen und wie es
schwer sei, als Vorsteherin einer Garküche die Hände
zu konservieren. Manchmal sah sie nach der Seite mit
wegwerfendem Blicke, der wahrscheinlich einigen
spöttischen jungen Weibern galt, die ihren Anzug mu-
sterten. Merkwürdig genug war diese Kleidung: ein
weit ausgebauschter Rock von weißem Atlas, worin
alle Tierarten der Arche Noäh grellfarbig gestickt, ein
Wams von Goldsttoff wie ein Küraß, die Ärmel von
rotem Samt, gelb geschlitzt, auf dem Haupte eine un-
menschlich hohe Mütze, um den Hals eine allmächti-
ge Krause von weißem Steiflinnen sowie auch eine
silberne Kette, woran allerlei Schaupfennige, Kameen
und Raritäten, unter andern ein großes Bild der Stadt
Amsterdam, bis über den Busen herabhingen. Aber
die Kleidung der übrigen Frauen war nicht minder
merkwürdig und bestand wohl aus einem Gemische
von Moden verschiedener Zeiten, und manches Weib-
lein, bedeckt mit Gold und Diamanten, glich einem
wandelnden Juwelierladen. Es war freilich den Frank-
furter Juden damals eine bestimmte Kleidung gesetz-
lich vorgeschrieben, und zur Unterscheidung von den
Christen sollten die Männer an ihren Mänteln gelbe
Ringe und die Weiber an ihren Mützen hochaufste-
hende blaugestreifte Schleier tragen. Jedoch im Juden-
quartier wurde diese obrigkeitliche Verordnung wenig
beachtet, und dort, besonders an Festtagen und zumal
in der Synagoge, suchten die Weiber soviel Kleider-
pracht als möglich gegeneinander auszukramen, teils,
um sich beneiden zu lassen, teils auch, um den Wohl-
stand und die Kreditfähigkeit ihrer Eheherrn darzutun.
Während nun unten in der Synagoge die Gesetzab-
schnitte aus den Büchern Mosis vorgelesen werden,
pflegt dort die Andacht etwas nachzulassen. Mancher
macht es sich bequem und setzt sich nieder, flüstert
auch wohl mit einem Nachbar über weltliche Angele-
genheiten oder geht hinaus auf den Hof, um frische
Luft zu schöpfen. Kleine Knaben nehmen sich unter-
dessen die Freiheit, ihre Mütter in der Weiberabtei-
lung zu besuchen und hier hat alsdann die Andacht
wohl noch größere Rückschritte gemacht: hier wird
geplaudert, geruddelt, gelacht, und, wie es überall ge-
schieht, die jüngeren Frauen scherzen über die alten,
und diese klagen wieder über Leichtfertigkeit der
Jugend und Verschlechterung der Zeiten. Gleichwie es
aber unten in der Synagoge zu Frankfurt einen Vor-
sänger gab, so gab es in der obern Abteilung eine
Vorklatscherin. Das war Hündchen Reiß, eine platte
grünliche Frau, die jedes Unglück witterte und immer
eine skandalose Geschichte auf der Zunge trug. Die
gewöhnliche Zielscheibe ihrer Spitzreden war die
arme Schnapper-Elle, sie wußte gar drollig die er-
zwungen vornehmen Gebärden derselben nachzuäffen
sowie auch den schmachtenden Anstand, womit sie
die schalkhaften Huldigungen der Jugend entgegen-
nimmt.
»Wißt ihr wohl«, rief jetzt Hündchen Reiß, »die
Schnapper-Elle hat gestern gesagt Wenn ich nicht
schön und klug und geliebt wäre, so möchte ich nicht
auf der Welt sein!«
Da wurde etwas laut gekichert, und die nahstehen-
de Schnapper-Elle, merkend, daß es auf ihre Kosten
geschah, hob verachtungsvoll ihr Auge empor, und
wie ein stolzes Prachtschiff segelte sie nach einem
entfernteren Platze. Die Vögele Ochs, eine runde,
etwas täppische Frau, bemerkte mitleidig, die Schnap-
per-Elle sei zwar eitel und beschränkt, aber sehr
bravmütig, und sie tue sehr viel Gutes an Leute, die
es nötig hätten.
»Besonders an den Nasenstern«, zischte Hündchen
Reiß. Und alle, die das zarte Verhältnis kannten,
lachten um so lauter.
»Wißt ihr wohl«, setzte Hündchen hämisch hinzu,
»der Nasenstern schläft jetzt auch im Hause der
Schnapper-Elle... Aber seht mal, dort unten die Sü-
schen Flörsheim trägt die Halskette, die Daniel Fläsch
bei ihrem Manne versetzt hat. Die Fläsch ärgert sich...
Jetzt spricht sie mit der Flörsheim... Wie sie sich so
freundlich die Hand drücken! Und hassen sich doch
wie Midian und Moab! Wie sie sich so liebevoll anlä-
cheln! Freßt euch nur nicht vor lauter Zärtlichkeit! Ich
will mir das Gespräch anhören.«
Und nun, gleich einem lauernden Tiere, schlich
Hündchen Reiß hinzu und hörte, daß die beiden Frau-
en teilnehmend einander klagten, wie sehr sie sich
verflossene Woche abgearbeitet, um in ihren Häusern
aufzuräumen und das Küchengeschirr zu scheuern,
was vor dem Paschafeste geschehen muß, damit kein
einziges Brosämchen der gesäuerten Bröte daran kle-
benbleibe. Auch von der Mühseligkeit beim Backen
der ungesäuerten Bröte sprachen die beiden Frauen.
Die Fläsch hatte noch besondere Beklagnisse: im
Backhause der Gemeinde mußte sie viel Ärger erlei-
den, nach der Entscheidung des Loses konnte sie dort
erst in den letzten Tagen, am Vorabend des Festes,
und erst spät nachmittags zum Backen gelangen, die
alte Hanne hatte den Teig schlecht geknetet, die
Mägde rollten mit ihren Wergelhölzern den Teig viel
zu dünn, die Hälfte der Bröte verbrannte im Ofen, und
außerdem regnete es so stark, daß es durch das bret-
terne Dach des Backhauses beständig tröpfelte, und
sie mußten sich dort, naß und müde, bis tief in die
Nacht abarbeiten.
»Und daran, liebe Flörsheim«, setzte die Fläsch
hinzu mit einer schonenden Freundlichkeit, die kei-
neswegs echt war, »daran waren Sie auch ein bißchen
schuld, weil Sie mir nicht Ihre Leute zur Hülfleistung
beim Backen geschickt haben«
»Ach, Verzeihung«, erwiderte die andre, »meine
Leute waren zu sehr beschäftigt, die Meßwaren müs-
sen verpackt werden, wir haben jetzt soviel zu tun,
mein Mann...«
»Ich weiß«, fiel ihr die Fläsch mit schneidend ha-
stigem Tone in die Rede, »ich weiß, ihr habt viel zu
tun, viel Pfänder und gute Geschäfte, und Halsket-
ten...«
Eben wollte ein giftiges Wort den Lippen der Spre-
cherin entgleiten, und die Flörsheim ward schon rot
wie ein Krebs, als plötzlich Hündchen Reiß laut auf-
kreischte: »Um Gottes willen, die fremde Frau liegt
und stirbt... Wasser! Wasser!«
Die schöne Sara lag in Ohnmacht, blaß wie der
Tod, und um sie herum drängte sich ein Schwarm von
Weibern, geschäftig und jammernd. Die eine hielt ihr
den Kopf, eine zweite hielt ihr den Arm; einige alte
Frauen bespritzten sie mit den Wassergläschen, die
hinter ihren Betpulten hängen, zum Behufe des Hän-
dewaschens, im Fall sie zufällig ihren eignen Leib be-
rührten; andre hielten unter die Nase der Ohnmächti-
gen eine alte Zitrone, die, mit Gewürznägelchen
durchstochen, noch vom letzten Fasttage herrührte,
wo sie zum nervenstärkenden Anriechen diente. Er-
mattet und tief seufzend, schlug endlich die schöne
Sara die Augen auf, und mit stummen Blicken dankte
sie für die gütige Sorgfalt. Doch jetzt ward unten das
Achtzehn-Gebet, welches niemand versäumen darf,
feierlich angestimmt, und die geschäftigen Weiber eil-
ten zurück nach ihren Plätzen und verrichteten jenes
Gebet, wie es geschehen muß, stehend und das Ge-
sicht gewendet gegen Morgen, welches die Himmels-
gegend, wo Jerusalem liegt. Vögele Ochs, Schnapper-
Elle und Hündchen Reiß verweilten am längsten bei
der schönen Sara; die beiden ersteren, indem sie ihr
eifrigst ihre Dienste anboten, die letztere, nachdem sie
sich nochmals bei ihr erkundigte, weshalb sie so
plötzlich ohnmächtig geworden.
Die Ohnmacht der schönen Sara hatte aber eine
ganz besondere Ursache. Es ist nämlich Gebrauch in
der Synagoge, daß jemand, welcher einer großen Ge-
fahr entronnen, nach der Verlesung der Gesetzab-
schnitte öffentlich hervortritt und der göttlichen Vor-
sicht für seine Rettung dankt. Als nun Rabbi
Abraham zu solcher Danksagung unten in der Syn-
agoge sich erhob und die schöne Sara die Stimme
ihres Mannes erkannte, merkte sie, wie der Ton
derselben allmählich in das trübe Gemurmel des To-
tengebetes überging, sie hörte die Namen ihrer Lieben
und Verwandten, und zwar begleitet von jenem seg-
nenden Beiwort, das man den Verstorbenen erteilt,
und die letzte Hoffnung schwand aus der Seele der
schönen Sara, und ihre Seele ward zerrissen von der
Gewißheit, daß ihre Lieben und Verwandte wirklich
ermordet worden, daß ihre kleine Nichte tot sei, daß
auch ihre Bäschen Blümchen und Vögelchen tot
seien, auch der kleine Gottschalk tot sei, alle ermordet
und tot! Von dem Schmerze dieses Bewußtseins wäre
sie schier selber gestorben, hätte sich nicht eine wohl-
tätige Ohnmacht über ihre Sinne ergossen.
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