Memoiren

Text by Heinrich Heine
Entstanden 1854/55
Erstdruck: Heinrich Heines Memoiren,
hg. v. Eduard Engel, Hamburg
(Hoffmann und Campe) 1884.

portugiesisch (Vorwort)


Ich habe in der Tat, teure Dame, die Denkwürdig-
keiten meiner Zeit, insofern meine eigene Person
damit als Zuschauer oder als Opfer in Berührung
kam, so wahrhaft und getreu als möglich aufzuzeich-
nen gesucht.
Diese Aufzeichnungen, denen ich selbstgefällig den
Titel »Memoiren« verlieh, habe ich jedoch schier zur
Hälfte wieder vernichten müssen, teils aus leidigen
Familienrücksichten, teils auch wegen religiöser
Skrupeln.
Ich habe mich seitdem bemüht, die entstandenen
Lakunen notdürftig zu füllen, doch ich fürchte, postu-
me Pflichten oder ein selbstquälerischer Überdruß
zwingen mich, meine Memoiren vor meinem Tode
einem neuen Autodafé zu überliefern, und was als-
dann die Flammen verschonen, wird vielleicht nie-
mals das Tageslicht der Öffentlichkeit erblicken.
Ich nehme mich wohl in acht, die Freunde zu nen-
nen, die ich mit der Hut meines Manuskriptes und der
Vollstreckung meines Letzten Willens in bezug auf
dasselbe betraue; ich will sie nicht nach meinem Ab-
leben der Zudringlichkeit eines müßigen Publikums
und dadurch einer Untreue an ihrem Mandat bloßstel-
len.
Eine solche Untreue habe ich nie entschuldigen
können; es ist eine unerlaubte und unsittliche
Handlung, auch nur eine Zeile von einem Schriftstel-
ler zu veröffentlichen, die er nicht selber für das große
Publikum bestimmt hat. Dieses gilt ganz besonders
von Briefen, die an Privatpersonen gerichtet sind.
Wer sie drucken läßt oder verlegt, macht sich einer
Felonie schuldig, die Verachtung verdient.
Nach diesen Bekenntnissen, teure Dame, werden
Sie leicht zur Einsicht gelangen, daß ich Ihnen nicht,
wie Sie wünschen, die Lektüre meiner Memoiren und
Briefschaften gewähren kann.
Jedoch, ein Höfling Ihrer Liebenswürdigkeit, wie
ich es immer war, kann ich Ihnen kein Begehr unbe-
dingt verweigern, und um meinen guten Willen zu be-
kunden, will ich in anderer Weise die holde Neugier
stillen, die aus einer liebenden Teilnahme an meinen
Schicksalen hervorgeht.
Ich habe die folgenden Blätter in dieser Absicht
niedergeschrieben, und die biographischen Notizen,
die für Sie ein Interesse haben, finden Sie hier in
reichlicher Fülle. Alles Bedeutsame und Charakteri-
stische ist hier treuherzig mitgeteilt, und die Wechsel-
wirkung äußerer Begebenheiten und innerer Seele-
nereignisse offenbart Ihnen die Signatura meines
Seins und Wesens. Die Hülle fällt ab von der Seele,
und du kannst sie betrachten in ihrer schönen Nackt-
heit. Da sind keine Flecken, nur Wunden. Ach! und
nur Wunden, welche die Hand der Freunde, nicht die
Handlung, auch nur eine Zeile von einem Schriftstel-
ler zu veröffentlichen, die er nicht selber für das große
Publikum bestimmt hat. Dieses gilt ganz besonders
von Briefen, die an Privatpersonen gerichtet sind.
Wer sie drucken läßt oder verlegt, macht sich einer
Felonie schuldig, die Verachtung verdient.
Nach diesen Bekenntnissen, teure Dame, werden
Sie leicht zur Einsicht gelangen, daß ich Ihnen nicht,
wie Sie wünschen, die Lektüre meiner Memoiren und
Briefschaften gewähren kann.
Jedoch, ein Höfling Ihrer Liebenswürdigkeit, wie
ich es immer war, kann ich Ihnen kein Begehr unbe-
dingt verweigern, und um meinen guten Willen zu be-
kunden, will ich in anderer Weise die holde Neugier
stillen, die aus einer liebenden Teilnahme an meinen
Schicksalen hervorgeht.
Ich habe die folgenden Blätter in dieser Absicht
niedergeschrieben, und die biographischen Notizen,
die für Sie ein Interesse haben, finden Sie hier in
reichlicher Fülle. Alles Bedeutsame und Charakteri-
stische ist hier treuherzig mitgeteilt, und die Wechsel-
wirkung äußerer Begebenheiten und innerer Seele-
nereignisse offenbart Ihnen die Signatura meines
Seins und Wesens. Die Hülle fällt ab von der Seele,
und du kannst sie betrachten in ihrer schönen Nackt-
heit. Da sind keine Flecken, nur Wunden. Ach! und
nur Wunden, welche die Hand der Freunde, nicht die
der Feinde geschlagen hat!
Die Nacht ist stumm. Nur draußen klatscht der
Regen auf die Dächer und ächzet wehmütig der
Herbstwind.
Das arme Krankenzimmer ist in diesem Augenblick
fast wohllustig heimlich, und ich sitze schmerzlos im
großen Sessel.
Da tritt dein holdes Bild herein, ohne daß sich die
Türklinke bewegt, und du lagerst dich auf das Kissen
zu meinen Füßen. Lege dein schönes Haupt auf meine
Knie und horche, ohne aufzublicken.
Ich will dir das Märchen meines Lebens erzählen.
Wenn manchmal dicke Tropfen auf dein Locken-
haupt fallen, so bleibe dennoch ruhig; es ist nicht der
Regen, welcher durch das Dach sickert. Weine nicht
und drücke mir nur schweigend die Hand.

*

Welch ein erhabenes Gefühl muß einen solchen
Kirchenfürsten beseelen, wenn er hinabblickt auf den
wimmelnden Marktplatz, wo Tausende entblößten
Hauptes mit Andacht vor ihm niederkniend seinen
Segen erwarten!
In der italienischen Reisebeschreibung des Hofrats
Moritz las ich einst eine Beschreibung jener Szene,
wo ein Umstand vorkam, der mir ebenfalls jetzt in
den Sinn kommt.
Unter dem Landvolk, erzählt Moritz, das er dort
auf den Knien liegen sah, erregte seine besondere
Aufmerksamkeit einer jener wandernden Rosenkranz-
händler des Gebirges, die aus einer braunen Holzgat-
tung die schönsten Rosenkränze schnitzen und sie in
der ganzen Romagna um so teurer verkaufen, da sie
denselben an obenerwähntem Feiertage vom Papste
selbst die Weihe zu verschaffen wissen.
Mit der größten Andacht lag der Mann auf den
Knien, doch den breitkrempigen Filzhut, worin seine
Ware, die Rosenkränze, befindlich, hielt er in die
Höhe, und während der Papst mit ausgestreckten
Händen den Segen sprach, rüttelte jener seinen Hut
und rührte darin herum, wie Kastanienverkäufer zu
tun pflegen, wenn sie ihre Kastanien auf dem Rost
braten; gewissenhaft schien er dafür zu sorgen, daß
die Rosenkränze, die unten im Hut lagen, auch etwas
von dem päpstlichen Segen abbekämen und alle
gleichmäßig geweiht würden.
Ich konnte nicht umhin, diesen rührenden Zug von
frommer Naivetät hier einzuflechten, und ergreife wie-
der den Faden meiner Geständnisse, die alle auf den
geistigen Prozeß Bezug haben, den ich später durch-
machen mußte.
Aus den frühesten Anfängen erklären sich die spä-
testen Erscheinungen. Es ist gewiß bedeutsam, daß
mir bereits in meinem dreizehnten Lebensjahr alle Sy-
steme der freien Denker vorgetragen wurden, und
zwar durch einen ehrwürdigen Geistlichen, der seine
sazerdotalen Amtspflichten nicht im geringsten ver-
nachlässigte, so daß ich hier frühe sah, wie ohne Heu-
chelei Religion und Zweifel ruhig nebeneinandergin-
gen, woraus nicht bloß in mir der Unglauben, sondern
auch die toleranteste Gleichgültigkeit entstand.
Ort und Zeit sind auch wichtige Momente: ich bin
geboren zu Ende des skeptischen achtzehnten Jahr-
hunderts und in einer Stadt, wo zur Zeit meiner Kind-
heit nicht bloß die Franzosen, sondern auch der fran-
zösische Geist herrschte.
Die Franzosen, die ich kennenlernte, machten mich,
ich muß es gestehen, mit Büchern bekannt, die sehr
unsauber und mir ein Vorurteil gegen die ganze fran-
zösische Literatur einflößten.
Ich habe sie auch später nie so sehr geliebt, wie sie
es verdient, und am ungerechtesten blieb ich gegen
die französische Poesie, die mir von Jugend an fatal
war.
Daran ist wohl zunächst der vermaledeite Abbé
d'Aulnoi schuld, der im Lyzeum zu Düsseldorf die
französische Sprache dozierte und mich durchaus
zwingen wollte, französische Verse zu machen.
Wenig fehlte, und er hätte mir nicht bloß die französi-
sche, sondern die Poesie überhaupt verleidet.
Der Abbé d'Aulnoi, ein emigrierter Priester, war
ein ältliches Männchen mit den beweglichsten Ge-
sichtsmuskeln und mit einer braunen Perücke, die,
sooft er in Zorn geriet, eine sehr schiefe Stellung an-
nahm.
Er hatte mehrere französische Grammatiken sowie
auch Chrestomathien, worin Auszüge deutscher und
französischer Klassiker, zum Übersetzen für seine
verschiedenen Klassen geschrieben; für die oberste
veröffentlichte er auch eine »Art oratoire« und eine
»Art poétique«, zwei Büchlein, wovon das erstere Be-
redsamkeitsrezepte aus Quintilian enthielt, angewen-
det auf Beispiele von Predigten Fléchiers, Massillons,
Bourdaloues und Bossuets, welche mich nicht allzu-
sehr langweilten. -
Aber gar das andere Buch, das die Definitionen
von der Poesie: l'art de peindre par les images, den
faden Abhub der alten Schule von Batteux, auch die
französische Prosodie und überhaupt die ganze Me-
trik der Franzosen enthielt, welch ein schrecklicher
Alp!
Ich kenne auch jetzt nichts Abgeschmackteres als
das metrische System der französischen Poesie, dieser
art de peindre par les images, wie die Franzosen die-
selbe definieren, welcher verkehrte Begriff vielleicht
dazu beiträgt, daß sie immer in die malerische Para-
phrase geraten.
Ihre Metrik hat gewiß Prokrustes erfunden; sie ist
eine wahre Zwangsjacke für Gedanken, die bei ihrer
Zahmheit gewiß nicht einer solchen bedürfen. Daß die
Schönheit eines Gedichtes in der Überwindung der
metrischen Schwierigkeiten bestehe, ist ein lächerli-
cher Grundsatz, derselben närrischen Quelle entsprun-
gen. Der französische Hexameter, dieses gereimte
Rülpsen, ist mir wahrhaft ein Abscheu. Die Franzo-
sen haben diese widrige Unnatur, die weit sündhafter
als die Greuel von Sodom und Gomorrha, immer
selbst gefühlt, und ihre guten Schauspieler sind darauf
angewiesen, die Verse so sakkadiert zu sprechen, als
wären sie Prosa - warum aber alsdann die überflüssi-
ge Mühe der Versifikation?
So denk ich jetzt, und so fühlt ich schon als Knabe,
und man kann sich leicht vorstellen, daß es zwischen
mir und der alten braunen Perücke zu offnen Feindse-
ligkeiten kommen mußte, als ich ihm erklärte, wie es
mir rein unmöglich sei, französische Verse zu ma-
chen. Er sprach mir allen Sinn für Poesie ab und
nannte mich einen Barbaren des Teutoburger Waldes.
Ich denke noch mit Entsetzen daran, daß ich aus
der Chrestomathie des Professors die Anrede des Kai-
phas an den Sanhedrin aus den Hexametern der Klop-
stockschen »Messiade« in französische Alexandriner
übersetzen sollte! Es war ein Raffinement von Grau-
samkeit, die alle Passionsqualen des Messias selbst
übersteigt und die selbst dieser nicht ruhig erduldet
hätte. Gott verzeih, ich verwünschte die Welt und die
fremden Unterdrücker, die uns ihre Metrik aufbürden
wollten, und ich war nahe dran, ein Franzosenfresser
zu werden.
Ich hätte für Frankreich sterben können, aber fran-
zösische Verse machen - nimmermehr!
Durch den Rektor und meine Mutter wurde der
Zwist beigelegt. Letztere war überhaupt nicht damit
zufrieden, daß ich Verse machen lernte, und seien es
auch nur französische. Sie hatte nämlich damals die
größte Angst, daß ich ein Dichter werden möchte; das
wäre das Schlimmste, sagte sie immer, was mir pas-
sieren könne.
Die Begriffe, die man damals mit dem Namen
Dichter verknüpfte, waren nämlich nicht sehr ehren-
haft, und ein Poet war ein zerlumpter, armer Teufel,
der für ein paar Taler ein Gelegenheitsgedicht verfer-
tigt und am Ende im Hospital stirbt.
Meine Mutter aber hatte große, hochfliegende
Dinge mit mir im Sinn, und alle Erziehungspläne ziel-
ten darauf hin. Sie spielte die Hauptrolle in meiner
Entwickelungsgeschichte, sie machte die Programme
aller meiner Studien, und schon vor meiner Geburt
begannen ihre Erziehungspläne. Ich folgte gehorsam
ihren ausgesprochenen Wünschen, jedoch gestehe ich,
daß sie schuld war an der Unfruchtbarkeit meiner
meisten Versuche und Bestrebungen in bürgerlichen
Stellen, da dieselben niemals meinem Naturell ent-
sprachen, Letzteres, weit mehr als die Weltbegeben-
heiten, bestimmte meine Zukunft.
In uns selbst liegen die Sterne unseres Glücks.
Zuerst war es die Pracht des Kaiserreichs, die
meine Mutter blendete, und da die Tochter eines Ei-
senfabrikanten unserer Gegend, die mit meiner Mutter
sehr befreundet war, eine Herzogin geworden und ihr
gemeldet hatte, daß ihr Mann sehr viele Schlachten
gewonnen und bald auch zum König avancieren
würde - ach, da träumte meine Mutter für mich die
goldensten Epauletten oder die brodiertesten Ehren-
chargen am Hofe des Kaisers, dessen Dienst sie mich
ganz zu widmen beabsichtigte.
Deshalb mußte ich jetzt vorzugsweise diejenigen
Studien betreiben, die einer solchen Laufbahn förder-
lich, und obgleich im Lyzeum schon hinlänglich für
mathematische Wissenschaften gesorgt war und ich
bei dem liebenswürdigen Professor Brewer vollauf
mit Geometrie, Statik, Hydrostatik, Hydraulik und so
weiter gefüttert ward und in Logarithmen und Algebra
schwamm, so mußte ich doch noch Privatunterricht in
dergleichen Disziplinen nehmen, die mich instand set-
zen sollten, ein großer Strategiker oder nötigenfalls
der Administrator von eroberten Provinzen zu wer-
den.
Mit dem Fall des Kaiserreichs mußte auch meine
Mutter der prachtvollen Laufbahn, die sie für mich
geträumt, entsagen; die dahin zielenden Studien nah-
men ein Ende, und sonderbar! sie lieben auch keine
Spur in meinem Geiste zurück, so sehr waren sie
demselben fremd. Es war nur eine mechanische Er-
rungenschaft, die ich von mir warf als unnützen Plun-
der.
Meine Mutter begann jetzt in anderer Richtung eine
glänzende Zukunft für mich zu träumen.
Das Rothschildsche Haus, mit dessen Chef mein
Vater vertraut war, hatte zu jener Zeit seinen fabelhaf-
ten Flor bereits begonnen; auch andere Fürsten der
Bank und der Industrie hatten in unserer Nähe sich
erhoben, und meine Mutter behauptete, es habe jetzt
die Stunde geschlagen, wo ein bedeutender Kopf im
merkantilischen Fache das Ungeheuerlichste erreichen
und sich zum höchsten Gipfel der weltlichen Macht
emporschwingen könne. Sie beschloß daher jetzt, daß
ich eine Geldmacht werden sollte, und jetzt mußte ich
fremde Sprachen, besonders Englisch, Geographie,
Buchhalten, kurz, alle auf den Land- und Seehandel
und Gewerbskunde bezüglichen Wissenschaften stu-
dieren.
Um etwas vom Wechselgeschäft und von Kolonial-
waren kennenzulernen, mußte ich später das Comp-
toir eines Bankiers meines Vaters und die Gewölbe
eines großen Spezereihändlers besuchen; erstere Be-
suche dauerten höchstens drei Wochen, letztere vier
Wochen, doch ich lernte bei dieser Gelegenheit, wie
man einen Wechsel ausstellt und wie Muskatnüsse
aussehen.
Ein berühmter Kaufmann, bei welchem ich ein
apprenti millionaire werden wollte, meinte, ich hätte
kein Talent zum Erwerb, und lachend gestand ich
ihm, daß er wohl recht haben möchte.
Da bald darauf eine große Handelskrisis entstand
und wie viele unserer Freunde auch mein Vater sein
Vermögen verlor, da platzte die merkantilische Sei-
fenblase noch schneller und kläglicher als die impe-
riale, und meine Mutter mußte nun wohl eine andere
Laufhahn für mich träumen.
Sie meinte jetzt, ich müsse durchaus Jurisprudenz
studieren.
Sie hatte nämlich bemerkt, wie längst in England,
aber auch in Frankreich und im konstitutionellen
Deutschland der Juristenstand allmächtig sei und be-
sonders die Advokaten durch die Gewohnheit des öf-
fentlichen Vortrags die schwatzenden Hauptrollen
spielen und dadurch zu den höchsten Staatsämtern ge-
langen. Meine Mutter hatte ganz richtig beobachtet.
Da eben die neue Universität Bonn errichtet wor-
den, wo die Juristische Fakultät von den berühmtesten
Professoren besetzt war, schickte mich meine Mutter
unverzüglich nach Bonn, wo ich bald zu den Füßen
Mackeldeys und Welckers saß und die Manna ihres
Wissens einschlürfte.
Von den sieben Jahren, die ich auf deutschen Uni-
versitäten zubrachte, vergeudete ich drei schöne blü-
hende Lebensjahre durch das Studium der römischen
Kasuistik, der Jurisprudenz, dieser illiberalsten Wis-
senschaft.
Welch ein fürchterliches Buch ist das Corpus juris,
die Bibel des Egoismus!
Wie die Römer selbst blieb mir immer verhaßt ihr
Rechtskodex. Diese Räuber wollten ihren Raub si-
cherstellen, und was sie mit dem Schwerte erbeutet,
suchten sie durch Gesetze zu schützen; deshalb war
der Römer zu gleicher Zeit Soldat und Advokat, und
es entstand eine Mischung der widerwärtigsten Art.
Wahrhaftig, jenen römischen Dieben verdanken wir
die Theorie des Eigentums, das vorher nur als Tatsa-
che bestand, und die Ausbildung dieser Lehre in ihren
schnödesten Konsequenzen ist jenes gepriesene römi-
sche Recht, das allen unseren heutigen Legislationen,
ja allen modernen Staatsinstituten zugrunde liegt, ob-
gleich es im grellsten Widerspruch mit der Religion,
der Moral, dem Menschengefühl und der Vernunft
steht.
Ich brachte jenes gottverfluchte Studium zu Ende,
aber ich konnte mich nimmer entschließen, von
solcher Errungenschaft Gebrauch zu machen, und
vielleicht auch weil ich fühlte, daß andere mich in der
Advokasserie und Rabulisterei leicht überflügeln
würden, hing ich meinen juristischen Doktorhut an
den Nagel.
Meine Mutter machte eine noch ernstere Miene als
gewöhnlich. Aber ich war ein sehr erwachsener
Mensch geworden, der in dem Alter stand, wo er der
mütterlichen Obhut entbehren muß.
Die gute Frau war ebenfalls älter geworden, und
indem sie nach so manchem Fiasko die Oberleitung
meines Lebens aufgab, bereute sie, wie wir oben ge-
sehen, daß sie mich nicht dem geistlichen Stande ge-
widmet.
Sie ist jetzt eine Matrone von siebenundachtzig
Jahren, und ihr Geist hat durch das Alter nicht gelit-
ten. Über meine wirkliche Denkart hat sie sich nie
eine Herrschaft angemaßt und war für mich immer die
Schonung und Liebe selbst.
Ihr Glauben war ein strenger Deismus, der ihrer
vorwaltenden Vernunftrichtung ganz angemessen. Sie
war eine Schülerin Rousseaus, hatte dessen »Émile«
gelesen, säugte selbst ihre Kinder, und Erziehungswe-
sen war ihr Steckenpferd. Sie selbst hatte eine gelehr-
te Erziehung genossen und war die Studiengefährtin
eines Bruders gewesen, der ein ausgezeichneter Arzt
ward, aber früh starb. Schon als ganz junges Mädchen
mußte sie ihrem Vater die lateinischen Dissertationen
und sonstige gelehrte Schriften vorlesen, wobei sie oft
den Alten durch ihre Fragen in Erstaunen setzte.
Ihre Vernunft und ihre Empfindung war die Ge-
sundheit selbst, und nicht von ihr erbte ich den Sinn
für das Phantastische und die Romantik. Sie hatte,
wie ich schon erwähnt, eine Angst vor Poesie, entriß
mir jeden Roman, den sie in meinen Händen fand, er-
laubte mir keinen Besuch des Schauspiels, versagte
mir alle Teilnahme an Volksspielen, überwachte mei-
nen Umgang, schalt die Mägde, welche in meiner Ge-
genwart Gespenstergeschichten erzählten, kurz, sie tat
alles Mögliche, um Aberglauben und Poesie von mir
zu entfernen.
Sie war sparsam, aber nur in bezug auf ihre eigene
Person; für das Vergnügen andrer konnte sie ver-
schwenderisch sein, und da sie das Geld nicht liebte,
sondern nur schätzte, schenkte sie mit leichter Hand
und setzte mich oft durch ihre Wohltätigkeit und Frei-
gebigkeit in Erstaunen.
Welche Aufopferung bewies sie dem Sohne, dem
sie in schwieriger Zeit nicht bloß das Programm sei-
ner Studien, sondern auch die Mittel dazu lieferte! Als
ich die Universität bezog, waren die Geschäfte meines
Vaters in sehr traurigem Zustand, und meine Mutter
verkaufte ihren Schmuck, Halsband und Ohrringe von
großem Werte, um mir das Auskommen für die vier
ersten Universitätsjahre zu sichern.
Ich war übrigens nicht der erste in unserer Familie,
der auf der Universität Edelsteine aufgegessen und
Perlen verschluckt hatte. Der Vater meiner Mutter,
wie diese mir einst erzählte, erprobte dasselbe Kunst-
stück. Die Juwelen, welche das Gebetbuch seiner ver-
storbenen Mutter verzierten, mußten die Kosten sei-
nes Aufenthalts auf der Universität bestreiten, als sein
Vater, der alte Lazarus de Geldern, durch einen Suk-
zessionsprozeß mit einer verheirateten Schwester in
große Armut geraten war, er, der von seinem Vater
ein Vermögen geerbt hatte, von dessen Größe mir
eine alte Großmuhme soviel Wunderdinge erzählte.
Das klang dem Knaben immer wie Märchen von
»Tausendundeiner Nacht«, wenn die Alte von den
großen Palästen und den persischen Tapeten und dem
massiven Gold- und Silbergeschirr erzählte, die der
gute Mann, der am Hofe des Kurfürsten und der Kur-
fürstin soviel Ehren genoß, so kläglich einbüßte. Sein
Haus in der Stadt war das große Hotel in der
Rheinstraße; das jetzige Krankenhaus in der Neustadt
gehörte ihm ebenfalls sowie ein Schloß bei Graven-
berg, und am Ende hatte er kaum, wo er sein Haupt
hinlegen konnte.
Eine Geschichte, die ein Seitenstock zu der obigen
bildet, will ich hier einweben, da sie die verunglimpf-
te Mutter eines meiner Kollegen in der öffentlichen
Meinung rehabilitieren dürfte. Ich las nämlich einmal
in der Biographie des armen Dietrich Grabbe, daß
das Laster des Trunks, woran derselbe zugrunde ge-
gangen, ihm durch seine eigene Mutter frühe einge-
pflanzt worden sei, indem sie dem Knaben, ja dem
Kinde Branntewein zu trinken gegeben habe. Diese
Anklage, die der Herausgeber der Biographie aus dem
Munde feindseliger Verwandter erfahren, scheint
grundfalsch, wenn ich mich der Worte erinnere,
womit der selige Grabbe mehrmals von seiner Mutter
sprach, die ihn oft gegen »dat Suppen« mit den nach-
drücklichsten Worten verwarnte.
Sie war eine rohe Dame, die Frau eines Gefängnis-
wärters, und wenn sie ihren jungen Wolf-Dietrich ka-
ressierte, mag sie ihn wohl manchmal mit den Tatzen
einer Wölfin auch ein bißchen gekratzt haben. Aber
sie hatte doch ein echtes Mutterherz und bewährte
solches, als ihr Sohn nach Berlin reiste, um dort zu
studieren.
Beim Abschied, erzählte mir Grabbe, drückte sie
ihm ein Paket in die Hand, worin, weich umwickelt
mit Baumwolle, sich ein halb Dutzend silberne Löffel
nebst sechs dito kleinen Kaffeelöffeln und ein großer
dito Potagelöffel befand, ein stolzer Hausschatz, des-
sen die Frauen aus dem Volke sich nie ohne Herzblu-
ten entäußern, da sie gleichsam eine silberne Dekora-
tion sind, wodurch sie sich von dem gewöhnlichen
zinnernen Pöbel zu unterscheiden glauben. Als ich
Grabbe kennenlernte, hatte er bereits den Potagelöf-
fel, den Goliath, wie er ihn nannte, aufgezehrt. Be-
fragte ich ihn manchmal, wie es ihm gehe, antwortete
er mit bewölkter Stirn lakonisch: »Ich bin an meinem
dritten Löffel«, oder: »Ich bin an meinem vierten Löf-
fel.« - »Die großen gehen dahin«, seufzte er einst,
»und es wird sehr schmale Bissen geben, wenn die
kleinen, die Kaffeelöffelchen, an die Reihe kommen,
und wenn diese dahin sind, gibt's gar keine Bissen
mehr.«
Leider hatte er recht, und je weniger er zu essen
hatte, desto mehr legte er sich aufs Trinken und ward
ein Trunkenbold. Anfangs Elend und später häusli-
cher Gram trieben den Unglücklichen, im Rausche Er-
heiterung oder Vergessenheit zu suchen, und zuletzt
mochte er wohl zur Flasche gegriffen haben, wie an-
dere zur Pistole, um dem Jammertum ein Ende zu ma-
chen. »Glauben Sie mir«, sagte mir einst ein naiver
westfälischer Landsmann Grabbes, »der konnte viel
vertragen und wäre nicht gestorben, weil er trank,
sondern er trank, weil er sterben wollte; er starb durch
Selbsttrunk.«
Obige Ehrenrettung einer Mutter ist gewiß nie am
unrechten Platz; ich versäumte bis jetzt, sie zur Spra-
che zu sie in einer Charakteristik Grabbes aufzeich-
nen wollte, diese kam nie zustande, und auch in
meinem Buche »De l'Allemagne« konnte ich Grabbes
nur flüchtig erwähnen.
Obige Notiz ist mehr an den deutschen als an den
französischen Leser gerichtet, und für letzteren will
ich hier nur bemerken, daß besagter Dietrich Grabbe
einer der größten deutschen Dichter war und von allen
unseren dramatischen Dichtern wohl als derjenige ge-
nannt werden darf, der die meiste Verwandtschaft mit
Shakespeare hat. Er mag weniger Saiten auf seiner
Leier haben als andre, die dadurch ihn vielleicht über-
ragen, aber die Saiten, die er besitzt, haben einen
Klang, der nur bei dem großen Briten gefunden wird.
Er hat dieselben Plötzlichkeiten, dieselben Naturlaute,
womit uns Shakespeare erschreckt, erschüttert, ent-
zückt.
Aber alle seine Vorzüge sind verdunkelt durch eine
Geschmacklosigkeit, einen Zynismus und eine Ausge-
lassenheit, die das Tollste und Abscheulichste über-
bieten, das je ein Gehirn zutage gefördert. Es ist aber
nicht Krankheit, etwa Fieber oder Blödsinn, was der-
gleichen hervorbrachte, sondern eine geistige Intoxi-
kation des Genies. Wie Plato den Diogenes sehr tref-
fend einen wahnsinnigen Sokrates nannte, so könnte
man unsern Grabbe leider mit doppeltem Rechte
einen betrunkenen Shakespeare nennen.
In seinen gedruckten Dramen sind jene Monstruosi-
täten sehr gemildert, sie befanden sich aber grauenhaft
grell in dem Manuskript seines »Gothland«, einer
Tragödie, die er einst, als er mir noch ganz unbekannt
war, überreichte oder vielmehr vor die Füße schmiß
mit den Worten: »Ich wollte wissen, was an mir sei,
und da habe ich dieses Manuskript dem Professor Gu-
bitz gebracht, der darüber den Kopf geschüttelt und,
um meiner loszuwerden, mich an Sie verwies, der
ebenso tolle Grillen im Kopfe trüge wie ich und mich
daher weit besser verstünde - hier ist nun der Bulk!«
Nach diesen Worten, ohne Antwort zu erwarten,
troddelte der närrische Kauz wieder fort, und da ich
eben zu Frau von Varnhagen ging, nahm ich das Ma-
nuskript mit, um ihr die Primeur eines Dichters zu
verschaffen; denn ich hatte an den wenigen Stellen,
die ich las, schon gemerkt, daß hier ein Dichter war.
Wir erkennen das poetische Wild schon am Ge-
ruch. Aber der Geruch war diesmal zu stark für weib-
liche Nerven, und spät, schon gegen Mitternacht, ließ
mich Frau von Varnhagen rufen und beschwor mich
um Gottes willen, das entsetzliche Manuskript wieder
zurückzunehmen, da sie nicht schlafen könne, solange
sich dasselbe noch im Hause befände. Einen solchen
Eindruck machten Grabbes Produktionen in ihrer ur-
sprünglichen Gestalt.
Obige Abschweifung mag ihr Gegenstand selbst
rechtfertigen.
Die Ehrenrettung einer Mutter ist überall an ihrem
Platze, und der fühlende Leser wird die oben mitge-
teilten Äußerungen Grabbes über die arme verun-
glimpfte Frau, die ihn zur Welt gebracht, nicht aber
als eine müßige Abschweifung betrachten.
Jetzt aber, nachdem ich mich einer Pflicht der Pie-
tät gegen einen unglücklichen Dichter erledigt habe,
will ich wieder zu meiner eigenen Mutter und ihrer
Sippschaft zurückkehren, in weiterer Besprechung des
Einflusses, der von dieser Seite auf meine geistige
Bildung ausgeübt wurde.
Nach meiner Mutter beschäftigte sich mit letzterer
ganz besonders ihr Bruder, mein Oheim Simon de
Geldern. Er ist tot seit zwanzig Jahren. Er war ein
Sonderling von unscheinbarem, ja sogar närrischem
Äußeren. Eine kleine, gehäbige Figur, mit einem
bläßlichen, strengen Gesichte, dessen Nase zwar grie-
chisch gradlinicht, aber gewiß um ein Drittel länger
war, als die Griechen ihre Nasen zu tragen pflegten.
In seiner Jugend, sagte man, sei diese Nase von ge-
wöhnlicher Größe gewesen, und nur durch die üble
Gewohnheit, daß er sich beständig daran zupfte, soll
sie sich so übergebührlich in die Länge gezogen
haben. Fragten wir Kinder den Ohm, ob das wahr sei,
so verwies er uns solche respektwidrige Rede mit gro-
ßem Eifer und zupfte sich dann wieder an der Nase.
Er ging ganz altfränkisch gekleidet, trug kurze
Beinkleider, weißseidene Strümpfe, Schnallenschuhe
und nach der alten Mode einen ziemlich langen Zopf,
der, wenn das kleine Männchen durch die Straßen
trippelte, von einer Schulter zur andern flog, allerlei
Kapriolen schnitt und sich über seinen eigenen Herrn
hinter seinem Rücken zu mokieren schien.
Oft, wenn der gute Onkel in Gedanken vertieft saß
oder die Zeitung las, überschlich mich das frevle Ge-
lüste, heimlich sein Zöpfchen zu ergreifen und daran
zu ziehen, als wäre es eine Hausklingel, worüber
ebenfalls der Ohm sich sehr erboste, indem er jam-
mernd die Hände rang über die junge Brut, die vor
nichts mehr Respekt hat, weder durch menschliche
noch durch göttliche Autorität mehr in Schranken zu
halten und sich endlich an dem Heiligsten vergreifen
werde.
War aber das Äußere des Mannes nicht geeignet,
Respekt einzuflößen, so war sein Inneres, sein Herz
desto respektabler, und es war das bravste und edel-
mütigste Herz, das ich hier auf Erden kennenlernte.
Es war eine Ehrenhaftigkeit in dem Manne, die an den
Rigorismus der Ehre in altspanischen Dramen erin-
nerte, und auch in der Treue glich er den Helden
derselben. Er hatte nie Gelegenheit, der »Arzt seiner
Ehre« zu werden, doch ein »Standhafter Prinz« war er
in ebenso ritterlicher Größe, obgleich er nicht in vier-
füßigen Trochäen deklamierte, gar nicht nach To-
despalmen lechzte und statt des glänzenden
Rittermantels ein scheinloses Röckchen mit Bachstel-
zenschwanz trug.
Er war durchaus kein sinnenfeindlicher Askete, er
liebte Kirmesfeste, die Weinstube des Gastwirts
Rasia, wo er besonders gern Krammetsvögel aß mit
Wacholderbeeren - aber alle Krammetsvögel dieser
Welt und alle ihre Lebensgenüsse opferte er mit stol-
zer Entschiedenheit, wenn es die Idee galt, die er für
wahr und gut erkannt. Und er tat dieses mit solcher
Anspruchlosigkeit, ja Verschämtheit, daß niemand
merkte, wie eigentlich ein heimlicher Märtyrer in die-
ser spaßhaften Hülle steckte.
Nach weltlichen Begriffen war sein Leben ein ver-
fehltes. Simon de Geldern hatte im Kollegium der Je-
suiten seine sogenannten humanistischen Studien, Hu-
maniora, gemacht, doch als der Tod seiner Eltern ihm
die völlig freie Wahl einer Lebenslaufbahn ließ, wähl-
te er gar keine, verzichtete auf jedes sogenannte Brot-
studium der ausländischen Universitäten und blieb
lieber daheim zu Düsseldorf in der »Arche Noä«, wie
das kleine Haus hieß, welches ihm sein Vater hinter-
ließ und über dessen Türe das Bild der Arche Noä
recht hübsch ausgemeißelt und bunt koloriert zu
schauen war.
Von rastlosem Fleiße, überließ er sich hier allen
seinen gelehrten Liebhabereien und Schnurrpfeiferei-
en, seiner Bibliomanie und besonders seiner Wut des
Schriftstellerns, die er besonders in politischen Tages-
blättern und obskuren Zeitschriften ausließ.
Nebenbei gesagt, kostete ihm nicht bloß das
Schreiben, sondern auch das Denken die größte An-
strengung.
Entstand diese Schreibwut vielleicht durch den
Drang, gemeinnützig zu wirken? Er nahm teil an allen
Tagesfragen, und das Lesen von Zeitungen und Bro-
schüren trieb er bis zur Manie. Die Nachbarn nannten
ihn den Doktor, aber nicht eigentlich wegen seiner
Gelahrtheit, sondern weil sein Vater und sein Bruder
Doktoren der Medizin gewesen. Und die alten Weiber
ließen es sich nicht ausreden, daß der Sohn des alten
Doktors, der sie so oft kuriert, nicht auch die Heilmit-
tel seines Vaters geerbt haben müsse, und wenn sie
erkrankten, kamen sie zu ihm gelaufen mit ihren Urin-
flaschen, mit Weinen und Bitten, daß er dieselben
doch besehen möchte, ihnen zu sagen, was ihnen
fehle. Wenn der arme Oheim solcherweise in seinen
Studien gestört wurde, konnte er in Zorn geraten und
die alten Trullen mit ihren Urinflaschen zum Teufel
wünschen und davonjagen.
Dieser Oheim war es nun, der auf meine geistige
Bildung großen Einfluß geübt und dem ich in solcher
Beziehung unendlich viel zu verdanken habe. Wie
sehr auch unsere Ansichten verschieden und so küm-
merlich auch seine literärischen Bestrebungen waren,
so regten sie doch vielleicht in mir die Lust zu schrift-
lichen Versuchen.
Der Ohm schrieb einen alten steifen Kanzleistil,
wie er in den Jesuitenschulen, wo Latein die Hauptsa-
che, gelehrt wird, und konnte sich nicht leicht be-
freunden mit meiner Ausdrucksweise, die ihm zu
leicht, zu spielend, zu irreverenziös vorkam. Aber
sein Eifer, womit er mir die Hülfsmittel des geistigen
Fortschritts zuwies, war für mich von größtem Nut-
zen.
Er beschenkte schon den Knaben mit den schön-
sten, kost barsten Werken; er stellte zu meiner Verfü-
gung seine eigene Bibliothek, die an klassischen Bü-
chern und wichtigen Tagesbroschüren so reich war,
und er erlaubte mir sogar, auf dem Söller der »Arche
Noä« in den Kisten herumzukramen, worin sich die
alten Bücher und Skripturen des seligen Großvaters
befanden.
Welche geheimnisvolle Wonne jauchzte im Herzen
des Knaben, wenn er auf jenem Söller, der eigentlich
eine große Dachstube war, ganze Tage verbringen
konnte.
Es war nicht eben ein schöner Aufenthalt, und die
einzige Bewohnerin desselben, eine dicke Angorakat-
ze, hielt nicht sonderlich auf Sauberkeit, und nur sel-
ten fegte sie mit ihrem Schweife ein bißchen den
Staub und das Spinnweb fort von dem alten
Gerümpel, das dort aufgestapelt lag.
Aber mein Herz war so blühend jung, und die
Sonne schien so heiter durch die kleine Lukarne, daß
mir alles von einem phantastischen Lichte übergossen
schien und die alte Katze selbst mir wie eine ver-
wünschte Prinzessin vorkam, die wohl plötzlich, aus
ihrer tierischen Gestalt wieder befreit, sich in der vori-
gen Schöne und Herrlichkeit zeigen dürfte, während
die Dachkammer sich in einen prachtvollen Palast
verwandeln würde, wie es in allen Zaubergeschichten
zu geschehen pflegt.
Doch die alte gute Märchenzeit ist verschwunden,
die Katzen bleiben Katzen, und die Dachstube der
»Arche Noä« blieb eine staubige Rumpelkammer, ein
Hospital für inkurablen Hausrat, eine Salpétrière für
alte Möbel, die den äußersten Grad der Dekrepitüde
erlangt und die man doch nicht vor die Türe schmei-
ßen darf, aus sentimentaler Anhänglichkeit und Be-
rücksichtigung der frommen Erinnerung, die sich
damit verknüpften.
Da stand eine morsch zerbrochene Wiege, worin
einst meine Mutter gewiegt worden; jetzt lag darin die
Staatsperücke meines Großvaters, die ganz vermodert
war und vor Alter kindisch geworden zu sein schien.
Der verrostete Galanteriedegen des Großvaters und
eine Feuerzange, die nur einen Arm hatte, und anderes
invalides Eisengeschirr hing an der Wand. Daneben
auf einem wackligen Brette stand der ausgestopfte Pa-
pagei der seligen Großmutter, der jetzt ganz entfiedert
und nicht mehr grün, sondern aschgrau war und mit
dem einzigen Glasauge, das ihm geblieben, sehr un-
heimlich aussah.
Hier stand auch ein großer, grüner Mops von Por-
zellan, welcher inwendig hohl war; ein Stück des Hin-
terteils war abgebrochen, und die Katze schien für
dieses chinesische oder japanische Kunstbild einen
großen Respekt zu hegen; sie machte vor demselben
allerlei devote Katzenbuckel und hielt es vielleicht für
ein göttliches Wesen; die Katzen sind so abergläu-
bisch.
In einem Winkel lag eine alte Flöte, welche einst
meiner Mutter gehört; sie spielte darauf, als sie noch
ein junges Mädchen war, und ebenjene Dachkammer
wählte sie zu ihrem Konzertsaale, damit der alte Herr,
ihr Vater, nicht von der Musik in seiner Arbeit gestört
oder auch ob dem sentimentalen Zeitverlust, dessen
sich seine Tochter schuldig machte, unwirsch würde.
Die Katze hatte jetzt diese Flöte zu ihrem liebsten
Spielzeug erwählt, indem sie an dem verblichenen
Rosaband, das an der Flöte befestigt war, dieselbe hin
und her auf dem Boden rollte.
Zu den Antiquitäten der Dachkammer gehörten
auch Weltkugeln, die wunderlichsten Planetenbilder
und Kolben und Retorten, erinnernd an astrologische
und alchimistische Studien.
In den Kisten, unter den Büchern des Großvaters,
befanden sich auch viele Schriften, die auf solche Ge-
heimwissenschaften Bezug hatten. Die meisten Bü-
cher waren freilich medizinische Scharteken. An phi-
losophischen war kein Mangel, doch neben dem erz-
vernünftigen Cartesius befanden sich auch Phantasten
wie Paracelsus, van Helmont und gar Agrippa von
Nettesheim, dessen »Philosophia occulta« ich hier
zum erstenmal zu Gesicht bekam. Schon den Knaben
amüsierte die Dedikationsepistel an den Abt Trithem,
dessen Antwortschreiben beigedruckt, wo dieser
compère dem andern Scharlatan seine bombastischen
Komplimente mit Zinsen zurückerstattet.
Der beste und kostbarste Fund jedoch, den ich in
den bestäubten Kisten machte, war ein Notizenbuch
von der Hand eines Bruders meines Großvaters, den
man den Chevalier oder den Morgenländer nannte und
von welchem die alten Muhmen immer soviel zu sin-
gen und zu sagen wußten.
Dieser Großoheim, welcher ebenfalls Simon de
Geldern hieß, muß ein sonderbarer Heiliger gewesen
sein. Den Zunamen der »Morgenländer« empfing er,
weil er große Reisen im Oriente gemacht und sich bei
seiner Rückkehr immer in orientalische Tracht kleide-
te.
Am längsten scheint er in den Küstenstädten
Nordafrikas, namentlich in den marokkanischen Staa-
ten, verweilt zu haben, wo er von einem Portugiesen
das Handwerk eines Waffenschmieds erlernte und
dasselbe mit Glück betrieb.
Er wallfahrtete nach Jerusalem, wo er in der Ver-
zückung des Gebetes, auf dem Berge Moria, ein Ge-
sicht hatte. Was sah er? Er offenbarte es nie.
Ein unabhängiger Beduinenstamm, der sich nicht
zum Islam, sondern zu einer Art Mosaismus bekannte
und in einer der unbekannten Oasen der nordafrikani-
schen Sandwüste gleichsam sein Absteigequartier
hatte, wählte ihn zu seinem Anführer oder Scheik.
Dieses kriegerische Völkchen lebte in Fehde mit allen
Nachbarstämmen und war der Schrecken der Karawa-
nen. Europäisch zu reden: mein seliger Großoheim,
der fromme Visionär vom heiligen Berge Moria, ward
Räuberhauptmann. In dieser schönen Gegend erwarb
er auch jene Kenntnisse von Pferdezucht und jene
Reiterkünste, womit er nach seiner Heimkehr ins
Abendland so viele Bewunderung erregte.
An den verschiedenen Höfen, wo er sich lange auf-
hielt, glänzte er auch durch seine persönliche Schön-
heit und Stattlichkeit sowie auch durch die Pracht der
orientalischen Kleidung, welche besonders auf die
Frauen ihren Zauber übte. Er imponierte wohl noch
am meisten durch sein vorgebliches Geheimwissen,
und niemand wagte es, den allmächtigen
Nekromanten bei seinen hohen Gönnern herabzuset-
zen. Der Geist der Intrige fürchtete die Geister der
Kabbala.
Nur sein eigener Übermut konnte ihn ins Verder-
ben stürzen, und sonderbar geheimnisvoll schüttelten
die alten Muhmen ihre greisen Köpflein, wenn sie
etwas von dem galanten Verhältnis munkelten, worin
der »Morgenländer« mit einer sehr erlauchten Dame
stand und dessen Entdeckung ihn nötigte, aufs schleu-
nigste den Hof und das Land zu verlassen. Nur durch
die Flucht mit Hinterlassung aller seiner Habseligkei-
ten konnte er dem sichern Tode entgehen, und eben
seiner erprobten Reiterkunst verdankte er seine Ret-
tung.
Nach diesem Abenteuer scheint er in England einen
sichern, aber kümmerlichen Zufluchtsort gefunden zu
haben. Ich schließe solches aus einer zu London ge-
druckten Broschüre des Großoheims, welche ich
einst, als ich in der Düsseldorfer Bibliothek bis zu
den höchsten Bücherbrettern kletterte, zufällig ent-
deckte. Es war ein Oratorium in französischen Ver-
sen, betitelt »Moses auf dem Horeb«, hatte vielleicht
Bezug auf die erwähnte Vision, die Vorrede war aber
in englischer Sprache geschrieben und von London
datiert; die Verse, wie alle französische Verse, ge-
reimtes lauwarmes Wasser, aber in der englischen
Prosa der Vorrede verriet sich der Unmut eines
stolzen Mannes, der sich in einer dürftigen Lage be-
findet.
Aus dem Notizenbuch des Großoheims konnte ich
nicht viel Sicheres ermitteln; es war, vielleicht aus
Vorsicht, meistens mit arabischen, syrischen und
koptischen Buchstaben geschrieben, worin, sonderbar
genug, französische Zitate vorkamen, z.B. sehr oft der
Vers:

Où l'innocence périt c'est un crime de vivre.

Mich frappierten auch manche Äußerungen, die
ebenfalls in französischer Sprache geschrieben; letzte-
re scheint das gewöhnliche Idiom des Schreibenden
gewesen zu sein.
Eine rätselhafte Erscheinung, schwer zu begreifen,
war dieser Großoheim. Er führte eine jener wunderli-
chen Existenzen, die nur im Anfang und in der Mitte
des achtzehnten Jahrhunderts möglich gewesen; er
war halb Schwärmer, der für kosmopolitische, weltbe-
glückende Utopien Propaganda machte, halb Glücks-
ritter, der im Gefühl seiner individuellen Kraft die
morschen Schranken einer morschen Gesellschaft
durchbricht oder überspringt. Jedenfalls war er ganz
ein Mensch.
Sein Scharlatanismus, den wir nicht in Abrede stel-
len, war nicht von gemeiner Sorte. Er war kein
gewöhnlicher Scharlatan, der den Bauern auf den
Märkten die Zähne ausreißt, sondern er drang mutig
in die Paläste der Großen, denen er den stärksten
Backzahn ausriß, wie weiland Ritter Hüon von Bor-
deaux dem Sultan von Babylon tat. Klappern gehört
zum Handwerk, sagt das Sprüchwort, und das Leben
ist ein Handwerk wie jedes andre.
Und welcher bedeutende Mensch ist nicht ein bi-
ßchen Scharlatan? Die Scharlatane der Bescheidenheit
sind die schlimmsten mit ihrem demütig tuenden
Dünkel! Wer gar auf die Menge wirken will, bedarf
einer scharlatanischen Zutat.
Der Zweck heiligt die Mittel. Hat doch der liebe
Gott selbst, als er auf dem Berg Sinai sein Gesetz
promulgierte, nicht verschmäht, bei dieser Gelegen-
heit tüchtig zu blitzen und zu donnern, obgleich das
Gesetz so vortrefflich, so göttlich gut war, daß es füg-
lich aller Zutat von leuchtendem Kolophonium und
donnernden Paukenschlägen entbehren konnte. Aber
der Herr kannte sein Publikum, das mit seinen Ochsen
und Schafen und aufgesperrten Mäulern unten am
Berge stand und welchem gewiß ein physikalisches
Kunststück mehr Bewunderung einflößen konnte als
alle Mirakel des ewigen Gedankens.
Wie dem auch sei, dieser Großohm hat die Einbil-
dungskraft des Knaben außerordentlich beschäftigt.
Alles, was man von ihm erzählte, machte einen
unauslöschlichen Eindruck auf mein junges Gemüt,
und ich versenkte mich so tief in seine Irrfahrten und
Schicksale, daß mich manchmal am hellen, lichten
Tage ein unheimliches Gefühl ergriff und es mir vor-
kam, als sei ich selbst mein seliger Großoheim und
als lebte ich nur eine Fortsetzung des Lebens jenes
längst Verstorbenen!
In der Nacht spiegelte sich dasselbe retrospektiv
zurück in meine Träume. Mein Leben glich damals
einem großen Journal, wo die obere Abteilung die Ge-
genwart, den Tag mit seinen Tagesberichten und Ta-
gesdebatten, enthielt, während in der unteren Abtei-
lung die poetische Vergangenheit in fortlaufenden
Nachtträumen wie eine Reihenfolge von Romanfeuil-
letons sich phantastisch kundgab.
In diesen Träumen identifizierte ich mich gänzlich
mit meinem Großohm, und mit Grauen fühlte ich zu-
gleich, daß ich ein anderer war und einer anderen Zeit
angehörte. Da gab es Örtlichkeiten, die ich nie vorher
gesehen, da gab es Verhältnisse, wovon ich früher
keine Ahnung hatte, und doch wandelte ich dort mit
sicherem Fuß und sicherem Verhalten.
Da begegneten mir Menschen in brennend bunten,
sonderbaren Trachten und mit abenteuerlich wüsten
Physiognomien, denen ich dennoch wie alten Bekann-
ten die Hände drückte; ihre wildfremde, nie gehörte
Sprache verstand ich, zu meiner Verwunderung
antwortete ich ihnen sogar in derselben Sprache, wäh-
rend ich mit einer Heftigkeit gestikulierte, die mir nie
eigen war, und während ich sogar Dinge sagte, die
mit meiner gewöhnlichen Denkweise widerwärtig
kontrastierten.
Dieser wunderliche Zustand dauerte wohl ein Jahr,
und obgleich ich wieder ganz zur Einheit des Selbst-
bewußtseins kam, blieben doch geheime Spuren in
meiner Seele. Manche Idiosynkrasie, manche fatale
Sympathien und Antipathien, die gar nicht zu meinem
Naturell passen, ja sogar manche Handlungen, die im
Widerspruch mit meiner Denkweise sind, erkläre ich
mir als Nachwirkungen aus jener Traumzeit, wo ich
mein eigener Großoheim war.
Wenn ich Fehler begehe, deren Entstehung mir un-
begreiflich erscheint, schiebe ich sie gern auf Rech-
nung meines morgenländischen Doppelgängers. Als
ich einst meinem Vater eine solche Hypothese mitteil-
te, um ein kleines Versehen zu beschönigen, bemerkte
er schalkhaft: er hoffe, daß mein Großoheim keine
Wechsel unterschrieben habe, die mir einst zur Be-
zahlung präsentiert werden könnten.
Es sind mir keine solche orientalischen Wechsel
vorgezeigt worden, und ich habe genug Nöte mit mei-
nen eigenen okzidentalischen Wechseln gehabt.
Aber es gibt gewiß noch schlimmere Schulden als
Geldschulden, welche uns die Vorfahren zur Tilgung
hinterlassen. Jede Generation ist eine Fortsetzung der
andern und ist verantwortlich für ihre Taten. Die
Schrift sagt: die Väter haben Herlinge (unreife Trau-
ben) gegessen, und die Enkel haben davon schmerz-
haft taube Zähne bekommen.
Es herrscht eine Solidarität der Generationen, die
aufeinanderfolgen, ja die Völker, die hintereinander in
die Arena treten, übernehmen eine solche Solidarität,
und die ganze Menschheit liquidiert am Ende die
große Hinterlassenschaft der Vergangenheit. Im Tale
Josaphat wird das große Schuldbuch vernichtet wer-
den oder vielleicht vorher noch durch einen Universal-
bankrott.
Der Gesetzgeber der Juden hat diese Solidarität tief
erkannt und besonders in seinem Erbrecht sanktio-
niert; für ihn gab es vielleicht keine individuelle Fort-
dauer nach dem Tode, und er glaubte nur an die Un-
sterblichkeit der Familie; alle Güter waren Familien-
eigentum, und niemand konnte sie so vollständig alie-
nieren, daß sie nicht zu einer gewissen Zeit an die Fa-
milienglieder zurückfielen.
Einen schroffen Gegensatz zu jener menschen-
freundlichen Idee des mosaischen Gesetzes bildet das
römische, welches ebenfalls im Erbrechte den Egois-
mus des römischen Charakters bekundet.
Ich will hierüber keine Untersuchungen eröffnen,
und meine persönlichen Bekenntnisse verfolgend, will
ich vielmehr die Gelegenheit benutzen, die sich mir
hier bietet, wieder durch ein Beispiel zu zeigen, wie
die harmlosesten Tatsachen zuweilen zu den böswil-
ligsten Insinuationen von meinen Feinden benutzt
worden. Letztere wollen nämlich die Entdeckung ge-
macht haben, daß ich bei biographischen Mitteilun-
gen sehr viel von meiner mütterlichen Familie, aber
gar nichts von meinen väterlichen Sippen und Magen
spräche, und sie bezeichneten solches als ein absicht-
liches Hervorheben und Verschweigen und beschul-
digten mich derselben eiteln Hintergedanken, die man
auch meinem seligen Kollegen Wolfgang Goethe vor-
warf.
Es ist freilich wahr, daß in dessen Memoiren sehr
oft von dem Großvater von väterlicher Seite, welcher
als gestrenger Herr Schultheiß auf dem Römer zu
Frankfurt präsidierte, mit besonderem Behagen die
Rede ist, während der Großvater von mütterlicher
Seite, der als ehrsames Flickschneiderlein auf der
Bockenheimer Gasse auf dem Werktische hockte und
die alten Hosen der Republik ausbesserte, mit keinem
Worte erwähnt wird.
Ich habe Goethen in betreff dieses Ignorierens nicht
zu vertreten, doch was mich selbst betrifft, möchte ich
jene böswilligen und oft ausgebeuteten Interpretatio-
nen und Insinuationen dahin berichten, daß es nicht
meine Schuld ist, wenn in meinen Schriften von einem
väterlichen Großvater nie gesprochen ward. Die Ursa-
che ist ganz einfach: ich habe nie viel von ihm zu
sagen gewußt. Mein seliger Vater war als ganz frem-
der Mann nach meiner Geburtsstadt Düsseldorf ge-
kommen und besaß hier keine Anverwandten, keine
jener alten Muhmen und Basen, welche die weibli-
chen Barden sind, die der jungen Brut tagtäglich die
alten Familienlegenden mit epischer Monotonie vor-
singen, während sie die bei den schottischen Barden
obligate Dudelsackbegleitung durch das Schnarren
ihrer Nasen ersetzen. Nur über die großen Kämpen
des mütterlichen Clans konnte von dieser Seite mein
junges Gemüt frühe Eindrücke empfangen, und ich
horchte mit Andacht, wenn die alte Bräunle oder
Brunhildis erzählte.
Mein Vater selbst war sehr einsilbiger Natur,
sprach nicht gern, und einst als kleines Bübchen, zur
Zeit, wo ich die Werkeltage in der öden Franziskaner-
Klosterschule, jedoch die Sonntage zu Hause zu-
brachte, nahm ich hier eine Gelegenheit wahr, meinen
Vater zu befragen, wer mein Großvater gewesen sei.
Auf diese Frage antwortete er halb lachend, halb un-
wirsch: »Dein Großvater war ein kleiner Jude und
hatte einen großen Bart.«
Den andern Tag, als ich in den Schulsaal trat, wo
ich bereits meine kleinen Kameraden versammelt
fand, beeilte ich mich sogleich, ihnen die wichtige
Neuigkeit zu erzählen: daß mein Großvater ein klei-
ner Jude war, welcher einen langen Bart hatte.
Kaum hatte ich diese Mitteilung gemacht, als sie
von Mund zu Mund flog, in allen Tonarten wiederholt
ward, mit Begleitung von nachgeäfften Tierstimmen.
Die Kleinen sprangen über Tische und Bänke, rissen
von den Wänden die Rechentafeln, welche auf den
Boden purzelten nebst den Tintenfässern, und dabei
wurde gelacht, gemeckert, gegrunzt, gebellt, gekräht -
ein Höllenspektakel, dessen Refrain immer der Groß-
vater war, der ein kleiner Jude gewesen und einen gro-
ßen Bart hatte.
Der Lehrer, welchem die Klasse gehörte, vernahm
den Lärm und trat mit zornglühendem Gesichte in den
Saal und fragte gleich nach dem Urheber dieses Un-
fugs. Wie immer in solchen Fällen geschieht: ein
jeder suchte kleinlaut sich zu diskulpieren, und am
Ende der Untersuchung ergab es sich, daß ich Ärm-
ster überwiesen ward, durch meine Mitteilung über
meinen Großvater den ganzen Lärm veranlaßt zu
haben, und ich büßte meine Schuld durch eine bedeu-
tende Anzahl Prügel.
Es waren die ersten Prügel, die ich auf dieser Erde
empfing, und ich machte bei dieser Gelegenheit schon
die philosophische Betrachtung, daß der liebe Gott,
der die Prügel erschaffen, in seiner gütigen Weisheit
auch dafür sorgte, daß derjenige, welcher sie erteilt,
am Ende müde wird, indem sonst am Ende die Prügel
unerträglich würden.
Der Stock, womit ich geprügelt ward, war ein Rohr
von gelber Farbe, doch die Streifen, welche dasselbe
auf meinem Rücken ließ, waren dunkelblau. Ich habe
sie nicht vergessen.
Auch den Namen des Lehrers, der mich so unbarm-
herzig schlug, vergaß ich nicht: es war der Pater
Dickerscheit; er wurde bald von der Schule entfernt,
aus Gründen, die ich ebenfalls nicht vergessen, aber
nicht mitteilen will.
Der Liberalismus hat den Priesterstand oft genug
mit Unrecht verunglimpft, und man könnte ihm wohl
jetzt einige Schonung angedeihen lassen, wenn ein
unwürdiges Mitglied Verbrechen begeht, die am Ende
doch nur der menschlichen Natur oder vielmehr Unna-
tur beizumessen sind.
Wie der Name des Mannes, der mir die ersten Prü-
gel erteilte, blieb mir auch der Anlaß im Gedächtnis,
nämlich meine unglückliche genealogische Mittei-
lung, und die Nachwirkung jener frühen Jugendein-
drücke ist so groß, daß jedesmal, wenn von kleinen
Juden mit großen Bärten die Rede war, mir eine un-
heimliche Erinnerung grüselnd über den Rücken lief.
»Gesottene Katze scheut den kochenden Kessel«, sagt
das Sprüchwort, und jeder wird leicht begreifen, daß
ich seitdem keine große Neigung empfand, nähere
Auskunft über jenen bedenklichen Großvater und sei-
nen Stammbaum zu erhalten oder gar dem großen Pu-
blikum, wie einst dem kleinen, dahinbezügliche Mit-
teilungen zu machen.
Meine Großmutter väterlicherseits, von welcher ich
ebenfalls nur wenig zu sagen weiß, will ich jedoch
nicht unerwähnt lassen. Sie war eine außerordentlich
schöne Frau und einzige Tochter eines Bankiers zu
Hamburg, der wegen seines Reichtums weit und breit
berühmt war. Diese Umstände lassen mich vermuten,
daß der kleine Jude, der die schöne Person aus dem
Hause ihrer hochbegüterten Eltern nach seinem
Wohnorte Hannover heimführte, noch außer seinem
großen Barte sehr rühmliche Eigenschaften besessen
und sehr respektabel gewesen sein muß.
Er starb frühe, eine junge Witwe mit sechs Kin-
dern, sämtlich Knaben im zartesten Alter, zurücklas-
send. Sie kehrte nach Hamburg zurück und starb dort
ebenfalls nicht sehr betagt.
Im Schlafzimmer meines Oheims Salomon Heine
zu Hamburg sah ich einst das Porträt der Großmutter.
Der Maler, welcher in Rembrandtscher Manier nach
Licht- und Schatteneffekten haschte, hatte dem Bilde
eine schwarze klösterliche Kopfbedeckung, eine fast
ebenso strenge, dunkle Robe und den pechdunkelsten
Hintergrund erteilt, so daß das vollwangichte, mit
einem Doppelkinn versehene Gesicht wie ein
Vollmond aus nächtlichem Gewölk hervorschimmer-
te.
Ihre Züge trugen noch die Spuren großer Schön-
heit, sie waren zugleich milde und ernsthaft, und be-
sonders die Morbidezza der Hautfarbe gab dem gan-
zen Gesicht einen Ausdruck von Vornehmheit eigen-
tümlicher Art; hätte der Maler der Dame ein großes
Kreuz von Diamanten vor die Brust gemalt, so hätte
man sicher geglaubt, das Porträt irgendeiner gefürste-
ten Äbtissin eines protestantischen adligen Stiftes zu
sehen.
Von den Kindern meiner Großmutter haben, soviel
ich weiß, nur zwei ihre außerordentliche Schönheit
geerbt, nämlich mein Vater und mein Oheim Salomon
Heine, der verstorbene Chef des hamburgischen Ban-
kierhauses dieses Namens.
Die Schönheit meines Vaters hatte etwas Überwei-
ches, Charakterloses, fast Weibliches. Sein Bruder
besaß vielmehr eine männliche Schönheit, und er war
überhaupt ein Mann, dessen Charakterstärke sich
auch in seinen edelgemessenen, regelmäßigen Zügen
imposant, ja manchmal sogar verblüffend offenbarte.
Seine Kinder waren alle ohne Ausnahme zur ent-
zückendsten Schönheit emporgeblüht, doch der Tod
raffte sie dahin in ihrer Blüte, und von diesem schö-
nen Menschenblumenstrauß leben jetzt nur zwei, der
jetzige Chef des Bankierhauses und seine Schwester,
eine seltene Erscheinung mit ---
Ich hatte alle diese Kinder so lieb, und ich liebte
auch ihre Mutter, die ebenfalls so schön war und früh
dahinschied, und alle haben mir viele Tränen geko-
stet. Ich habe wahrhaftig in diesem Augenblicke
nötig, meine Schellenkappe zu schütteln, um die wei-
nerlichen Gedanken zu überklingeln.
Ich habe oben gesagt, daß die Schönheit meines
Vaters etwas Weibliches hatte. Ich will hiermit kei-
neswegs einen Mangel an Männlichkeit andeuten:
letztere hat er zumal in seiner Jugend oft erprobt, und
ich selbst bin am Ende ein lebendes Zeugnis dersel-
ben. Es sollte das keine unziemliche Äußerung sein;
im Sinne hatte ich nur die Formen seiner körperlichen
Erscheinung, die nicht straff und drall, sondern viel-
mehr weich und zärtlich geründet waren. Den Kontu-
ren seiner Züge fehlte das Markierte, und sie ver-
schwammen ins Unbestimmte. In seinen späteren Jah-
ren ward er fett, aber auch in seiner Jugend scheint er
nicht eben mager gewesen zu sein.
In dieser Vermutung bestätigt mich ein Porträt,
welches seitdem in einer Feuersbrunst bei meiner
Mutter verlorenging und meinen Vater als einen jun-
gen Menschen von etwa achtzehn oder neunzehn Jah-
ren, in roter Uniform, das Haupt gepudert und verse-
hen mit einem Haarbeutel, darstellt.
Dieses Porträt war günstigerweise mit Pastellfarbe
gemalt. Ich sage günstigerweise, da letztere weit bes-
ser als die Ölfarbe mit dem hinzukommenden Glanz-
leinenfirnis jenen Blütenstaub wiedergeben kann, den
wir auf den Gesichtern der Leute, welche Puder tra-
gen, bemerken, und die Unbestimmtheit der Züge vor-
teilhaft verschleiert. Indem der Maler auf besagtem
Porträt mit den kreideweiß gepuderten Haaren und der
ebenso weißen Halsbinde das rosichte Gesicht enka-
drierte, verlieh er demselben durch den Kontrast ein
stärkeres Kolorit, und es tritt kräftiger hervor.
Auch die scharlachrote Farbe des Rocks, die auf
Ölgemälden so schauderhaft uns angrinst, macht hier
im Gegenteil einen guten Effekt, indem dadurch die
Rosenfarbe des Gesichtes angenehm gemildert wird.
Der Typus von Schönheit, der sich in den Zügen
desselben aussprach, erinnerte weder an die strenge
keusche Idealität der griechischen Kunstwerke noch
an den spiritualistisch schwärmerischen, aber mit
heidnischer Gesundheit geschwängerten Stil der Re-
naissance; nein, besagtes Porträt trug vielmehr ganz
den Charakter einer Zeit, die eben keinen Charakter
besaß, die minder die Schönheit als das Hübsche, das
Niedliche, das Kokett-Zierliche liebte; einer Zeit, die
es in der Fadheit bis zur Poesie brachte, jener süßen,
geschnörkelten Zeit des Rokoko, die man auch die
Haarbeutelzeit nannte und die wirklich als Wahrzei-
chen, nicht an der Stirn, sondern am Hinterkopfe,
einen Haarbeutel trug. Wäre das Bild meines Vaters
auf besagtem Porträte etwas mehr Miniatur gewesen,
so hätte man glauben können, der vortreffliche Wat-
teau habe es gemalt, um, mit phantastischen Arabes-
ken von bunten Edelsteinen und Goldflittern um-
rahmt, auf einem Fächer der Frau von Pompadour zu
paradieren.
Bemerkenswert ist vielleicht der Umstand, daß
mein Vater auch in seinen späteren Jahren der altfrän-
kischen Mode des Puders treu blieb und bis an sein
seliges Ende sich alle Tage pudern ließ, obgleich er
das schönste Haar, das man sich denken kann, besaß.
Es war blond, fast golden, und von einer Weichheit,
wie ich sie nur bei chinesischer Flockseide gefunden.
Den Haarbeutel hätte er gewiß ebenfalls gern bei-
behalten, jedoch der fortschreitende Zeitgeist war un-
erbitterlich. In dieser Bedrängnis fand mein Vater ein
beschwichtigendes Auskunftsmittel. Er opferte nur die
Form, das schwarze Säckchen, den Beutel; die langen
Haarlocken jedoch selbst trug er seitdem wie ein
breitgeflochtenes Chignon mit kleinen Kämmchen auf
dem Haupte befestigt. Diese Haarflechte war bei der
Weichheit der Haare und wegen des Puders fast gar
nicht bemerkbar, und so war mein Vater doch im
Grunde kein Abtrünniger des alten Haarbeuteltums,
und er hatte nur wie so mancher Kryptoorthodoxe
dem grausamen Zeitgeiste sich äußerlich gefügt.
Die rote Uniform, worin mein Vater auf dem er-
wähnten Porträte abkonterfeit ist, deutet auf hannö-
versche Dienstverhältnisse. Im Gefolge des Prinzen
Ernst von Cumberland befand sich mein Vater zu An-
fang der französischen Revolution und machte den
Feldzug in Flandern und Brabant mit in der Eigen-
schaft eines Proviantmeisters oder Kommissarius
oder, wie es die Franzosen nennen, eines officier de
bouche; die Preußen nennen es einen »Mehlwurm«.
Das eigentliche Amt des blutjungen Menschen war
aber das eines Günstlings des Prinzen, eines Brum-
mells au petit pied und ohne gesteifte Krawatte, und
er teilte auch am Ende das Schicksal solcher Spielzeu-
ge der Fürstengunst. Mein Vater blieb zwar zeitlebens
fest überzeugt, daß der Prinz, welcher später König
von Hannover ward, ihn nie vergessen habe, doch
wußte er sich nie zu erklären, warum der Prinz nie-
mals nach ihm schickte, niemals sich nach ihm erkun-
digen ließ, da er doch nicht wissen konnte, ob sein
ehemaliger Günstling nicht in Verhältnissen lebte, wo
er etwa seiner bedürftig sein möchte.
Aus jener Feldzugsperiode stammen manche be-
denkliche Liebhabereien meines Vaters, die ihm
meine Mutter nur allmählich abgewöhnen konnte.
Zum Beispiel er ließ sich gern zu hohem Spiel verlei-
ten, protegierte die dramatische Kunst oder vielmehr
ihre Priesterinnen, und gar Pferde und Hunde waren
seine Passion. Bei seiner Ankunft in Düsseldorf, wo
er sich aus Liebe für meine Mutter als Kaufmann eta-
blierte, hatte er zwölf der schönsten Gäule mitge-
bracht. Er entäußerte sich aber derselben auf aus-
drücklichen Wunsch seiner jungen Gattin, die ihm
vorstellte, daß dieses vierfüßige Kapital zuviel Hafer
fresse und gar nichts eintrage.
Schwerer ward es meiner Mutter, auch den Stall-
meister zu entfernen, einen vierschrötigen Flegel, der
beständig mit irgendeinem aufgegabelten Lump im
Stalle lag und Karten spielte. Er ging endlich von
selbst in Begleitung einer goldenen Repetieruhr mei-
nes Vaters und einiger anderer Kleinodien von Wert.
Nachdem meine Mutter den Taugenichts los war,
gab sie auch den Jagdhunden meines Vaters ihre Ent-
lassung, mit Ausnahme eines einzigen, welcher Joly
hieß, aber erzhäßlich war. Er fand Gnade in ihren
Augen, weil er eben gar nichts von einem Jagdhund
an sich hatte und ein bürgerlich treuer und tugendhaf-
ter Haushund werden konnte. Er bewohnte im leeren
Stalle die alte Kalesche meines Vaters, und wenn die-
ser hier mit ihm zusammentraf, warfen sie sich wech-
selseitig bedeutende Blicke zu. »Ja, Joly«, seufzte
dann mein Vater, und Joly wedelte wehmütig mit dem
Schwanze.
Ich glaube, der Hund war ein Heuchler, und einst
in übler Laune, als sein Liebling über einen Fußtritt
allzu jämmerlich wimmerte, gestand mein Vater, daß
die Kanaille sich verstelle. Am Ende ward Joly sehr
räudig, und da er eine wandelnde Kaserne von Flöhen
geworden, mußte er ersäuft werden, was mein Vater
ohne Einspruch geschehen ließ. - Die Menschen sa-
krifizieren ihre vierfüßigen Günstlinge mit derselben
Indifferenz wie die Fürsten die zweifüßigen.
Aus der Feldlagerperiode meines Vaters stammte
auch wohl seine grenzenlose Vorliebe für den Solda-
tenstand oder vielmehr für das Soldatenspiel, die Lust
an jenem lustigen, müßigen Leben, wo Goldflitter und
Scharlachlappen die innere Leere verhüllen und die
berauschte Eitelkeit sich als Mut gebärden kann.
In seiner junkerlichen Umgebung gab es weder mi-
litärischen Ernst noch wahre Ruhmsucht; von Herois-
mus konnte gar nicht die Rede sein. Als die Hauptsa-
che erschien ihm die Wachtparade, das klirrende
Wehrgehenke, die straffanliegende Uniform, so kleid-
sam für schöne Männer.
Wie glücklich war daher mein Vater, als zu Düs-
seldorf die Bürgergarden errichtet wurden und er als
Offizier derselben die schöne dunkelblaue, mit him-
melblauen Sammetaufschlägen versehene Uniform
tragen und an der Spitze seiner Kolonnen an unserem
Hause vorbeidefilieren konnte. Vor meiner Mutter,
welche errötend am Fenster stand, salutierte er dann
mit allerliebster Courtoisie; der Federbusch auf
seinem dreieckigen Hute flatterte da so stolz, und im
Sonnenlicht blitzten freudig die Epauletten.
Noch glücklicher war mein Vater in jener Zeit,
wenn die Reihe an ihn kam, als kommandierender Of-
fizier die Hauptwache zu beziehen und für die Sicher-
heit der Stadt zu sorgen. An solchen Tagen floß auf
der Hauptwache eitel Rüdesheimer und Aßmannshäu-
ser von den trefflichsten Jahrgängen, alles auf Rech-
nung des kommandierenden Offiziers, dessen Freige-
bigkeit seine Bürgergardisten, seine Krethi und Ple-
thi, nicht genug zu rühmen wußten.
Auch genoß mein Vater unter ihnen eine Populari-
tät, die gewiß ebenso groß war wie die Begeisterung,
womit die alte Garde den Kaiser Napoleon umjubelte.
Dieser freilich verstand seine Leute in anderer Weise
zu berauschen. Den Garden meines Vaters fehlte es
nicht an einer gewissen Tapferkeit, zumal wo es galt,
eine Batterie von Weinflaschen, deren Schlünde vom
größten Kaliber, zu erstürmen. Aber ihr Heldenmut
war doch von einer andern Sorte als die, welche wir
bei der alten Kaisergarde fanden. Letztere starb und
übergab sich nicht, während die Gardisten meines Va-
ters immer am Leben blieben und sich oft übergaben.
Was die Sicherheit der Stadt Düsseldorf betrifft, so
mag es sehr bedenklich damit ausgesehen haben in
den Nächten, wo mein Vater auf der Hauptwache
kommandierte. Er trug zwar Sorge, Patrouillen
auszuschicken, die singend und klirrend in verschie-
denen Richtungen die Stadt durchstreiften. Es geschah
einst, daß zwei solcher Patrouillen sich begegneten
und in der Dunkelheit die einen die andern als Trun-
kenbolde und Ruhestörer arretieren wollten. Zum
Glück sind meine Landsleute ein harmlos fröhliches
Völkchen, sie sind im Rausche gutmütig, »ils ont le
vin bon«, und es geschah kein Malheur; sie überga-
ben sich wechselseitig.
Eine grenzenlose Lebenslust war ein Hauptzug im
Charakter meines Vaters, er war genußsüchtig, froh-
sinnig, rosenlaunig. In seinem Gemüte war beständig
Kirmes, und wenn auch manchmal die Tanzmusik
nicht sehr rauschend, so wurden doch immer die Vio-
linen gestimmt. Immer himmelblaue Heiterkeit und
Fanfaren des Leichtsinns. Eine Sorglosigkeit, die des
vorigen Tages vergaß und nie an den kommenden
Morgen denken wollte.
Dieses Naturell stand im wunderlichsten Wider-
spruch mit der Gravität, die über sein strengruhiges
Antlitz verbreitet war und sich in der Haltung und
jeder Bewegung des Körpers kundgab. Wer ihn nicht
kannte und zum ersten Male diese ernsthafte, gepu-
derte Gestalt und diese wichtige Miene sah, hätte
gewiß glauben können, einen von den Sieben Weisen
Griechenlands zu erblicken. Aber bei näherer Be-
kanntschaft merkte man wohl, daß er weder ein
Thales noch ein Lampsakus war, der über kosmogoni-
sche Probleme nachgrüble. Jene Gravität war zwar
nicht erborgt, aber sie erinnerte doch an jene antiken
Basreliefs, wo ein heiteres Kind sich eine große tragi-
sche Maske vor das Antlitz hält.
Er war wirklich ein großes Kind mit einer kindli-
chen Naivetät, die bei platten Verstandesvirtuosen
sehr leicht für Einfalt gelten konnte, aber manchmal
durch irgendeinen tiefsinnigen Ausspruch das bedeu-
tendste Anschauungsvermögen (Intuition) verriet.
Er witterte mit seinen geistigen Fühlhörnern, was
die Klugen erst langsam durch die Reflexion begrif-
fen. Er dachte weniger mit dem Kopfe als mit dem
Herzen und hatte das liebenswürdigste Herz, das man
sich denken kann. Das Lächeln, das manchmal um
seine Lippen spielte und mit der obenerwähnten Gra-
vität gar drollig anmutig kontrastierte, war der süße
Widerschein seiner Seelengüte.
Auch seine Stimme, obgleich männlich, klangvoll,
hatte etwas Kindliches, ich möchte fast sagen etwas,
das an Waldtöne, etwa an Rotkehlchenlaute, erinner-
te; wenn er sprach, so drang seine Stimme so direkt
zu Herzen, als habe sie gar nicht nötig gehabt, den
Weg durch die Ohren zu nehmen.
Er redete den Dialekt Hannovers, wo, wie auch in
der südlichen Nachbarschaft dieser Stadt, das Deut-
sche am besten ausgesprochen wird. Das war ein
großer Vorteil für mich, daß solchermaßen schon in
der Kindheit durch meinen Vater mein Ohr an eine
gute Aussprache des Deutschen gewöhnt wurde, wäh-
rend in unserer Stadt selbst jenes fatale Kauderwelsch
des Niederrheins gesprochen wird, das zu Düsseldorf
noch einigermaßen erträglich, aber in dem nachbarli-
chen Köln wahrhaft ekelhaft wird. Köln ist das Tos-
kana einer klassisch schlechten Aussprache des Deut-
schen, und Kobes klüngelt mit Marizzebill in einer
Mundart, die wie faule Eier klingt, fast riecht.
In der Sprache der Düsseldorfer merkt man schon
einen Übergang in das Froschgequäke der holländi-
schen Sümpfe. Ich will der holländischen Sprache
beileibe nicht ihre eigentümlichen Schönheiten ab-
sprechen, nur gestehe ich, daß ich kein Ohr dafür
habe. Es mag sogar wahr sein, daß unsere eigene
deutsche Sprache, wie patriotische Linguisten in den
Niederlanden behauptet haben, nur ein verdorbenes
Holländisch sei. Es ist möglich.
Dieses erinnert mich an die Behauptung eines kos-
mopolitischen Zoologen, welcher den Affen für den
Ahnherrn des Menschengeschlechts erklärt; die Men-
schen sind nach seiner Meinung nur ausgebildete, ja
überbildete Affen. Wenn die Affen sprechen könnten,
sie würden wahrscheinlich behaupten, daß die Men-
schen nur ausgeartete Affen seien, daß die Menschheit
ein verdorbenes Affentum, wie nach der Meinung der
Holländer die deutsche Sprache ein verdorbenes Hol-
ländisch ist.
Ich sage: wenn die Affen sprechen könnten, ob-
gleich ich von solchem Unvermögen des Sprechens
nicht überzeugt bin. Die Neger am Senegal versichern
steif und fest, die Affen seien Menschen ganz wie wir,
jedoch klüger, indem sie sich des Sprechens enthalten,
um nicht als Menschen anerkannt und zum Arbeiten
gezwungen zu werden; ihre skurrile Affenspäße seien
lauter Pfiffigkeit, wodurch sie bei den Machthabern
der Erde für untauglich erscheinen möchten, wie wir
andre ausgebeutet zu werden.
Solche Entäußerung aller Eitelkeit würde mir von
diesen Menschen, die ein stummes Inkognito beibe-
halten und sich vielleicht über unsere Einfalt lustig
machen, eine sehr hohe Idee einflößen. Sie bleiben
frei in ihren Wäldern, dem Naturzustand nie entsa-
gend. Sie könnten wahrlich mit Recht behaupten, daß
der Mensch ein ausgearteter Affe sei.
Vielleicht haben unsere Vorfahren im achtzehnten
Jahrhundert dergleichen schon geahnt, und indem sie
instinktmäßig fühlten, wie unsere glatte Überzivilisa-
tion nur eine gefirnißte Fäulnis ist und wie es nötig
sei, zur Natur zurückzukehren, suchten sie sich unse-
rem Urtypus, dem natürlichen Affentum, wieder zu
nähern. Sie taten das Mögliche, und als ihnen endlich,
um ganz Affe zu sein, nur noch der Schwanz fehlte,
ersetzten sie diesen Mangel durch den Zopf. So ist die
Zopfmode ein bedeutsames Symptom eines ernsten
Bedürfnisses und nicht ein Spiel der Frivolität - -
doch ich suche vergebens durch das Schellen meiner
Kappe die Wehmut zu überklingeln, die mich jedes-
mal ergreift, wenn ich an meinen verstorbenen Vater
denke.
Er war von allen Menschen derjenige, den ich am
meisten auf dieser Erde geliebt. Er ist jetzt tot seit
länger als fünfundzwanzig Jahren. Ich dachte nie
daran, daß ich ihn einst verlieren würde, und selbst
jetzt kann ich es kaum glauben, daß ich ihn wirklich
verloren habe. Es ist so schwer, sich von dem Tod der
Menschen zu überzeugen, die wir so innig liebten.
Aber sie sind auch nicht tot, sie leben fort in uns und
wohnen in unserer Seele.
Es verging seitdem keine Nacht, wo ich nicht an
meinen seligen Vater denken mußte, und wenn ich des
Morgens erwache, glaube ich oft noch den Klang sei-
ner Stimme zu hören wie das Echo eines Traumes.
Alsdann ist mir zu Sinn, als müßt ich mich geschwind
ankleiden und zu meinem Vater hinabeilen in die
große Stube, wie ich als Knabe tat.
Mein Vater pflegte immer sehr frühe aufzustehen
und sich an seine Geschäfte zu begeben, im Winter
wie im Sommer, und ich fand ihn gewöhnlich schon
am Schreibtisch, wo er, ohne aufzublicken, mir die
Hand hinreichte zum Kusse. Eine schöne, feinge-
schnittene, vornehme Hand, die er immer mit Mandel-
klei wusch. Ich sehe sie noch vor mir, ich sehe noch
jedes blaue Äderchen, das diese blendendweiße Mar-
morhand durchrieselte. Mir ist, als steige der Mandel-
duft prickelnd in meine Nase, und das Auge wird
feucht.
Zuweilen blieb es nicht beim bloßen Handkuß, und
mein Vater nahm mich zwischen seine Knie und
küßte mich auf die Stirn. Eines Morgens umarmte er
mich mit ganz besonderer Zärtlichkeit und sagte: »Ich
habe diese Nacht etwas Schönes von dir geträumt und
bin sehr zufrieden mit dir, mein lieber Harry.« Wäh-
rend er diese naiven Worte sprach, zog ein Lächeln
um seine Lippen, welches zu sagen schien: mag der
Harry sich noch so unartig in der Wirklichkeit auffüh-
ren, ich werde dennoch, um ihn ungetrübt zu lieben,
immer etwas Schönes von ihm träumen.
Harry ist bei den Engländern der familiäre Name
derjenigen, welche Henri heißen, und er entspricht
ganz meinem deutschen Taufnamen »Heinrich«. Die
familiären Benennungen des letztern sind in dem Dia-
lekte meiner Heimat äußerst mißklingend, ja fast
skurril, z.B. Heinz, Heinzchen, Hinz. Heinzchen wer-
den oft auch die kleinen Hauskobolde genannt, und
der gestiefelte Kater im Puppenspiel und überhaupt
der Kater in der Volksfabel heißt »Hinze«.
Aber nicht um solcher Mißlichkeit abzuhelfen, son-
dern um einen seiner besten Freunde in England zu
ehren, ward von meinem Vater mein Name anglisiert.
Mr. Harry war meines Vaters Geschäftsführer (Korre-
spondent) in Liverpool; er kannte dort die besten Fa-
briken, wo Velveteen fabriziert wurde, ein Handelsar-
tikel, der meinem Vater sehr am Herzen lag, mehr aus
Ambition als aus Eigennutz, denn obgleich er be-
hauptete, daß er viel Geld an jenem Artikel verdiene,
so blieb solches doch sehr problematisch, und mein
Vater hätte vielleicht noch Geld zugesetzt, wenn es
darauf ankam, den Velveteen in besserer Qualität und
in größerer Quantität abzusetzen als seine Kompetito-
ren. Wie denn überhaupt mein Vater eigentlich keinen
berechnenden Kaufmannsgeist hatte, obgleich er
immer rechnete, und der Handel für ihn vielmehr ein
Spiel war, wie die Kinder Soldaten oder Kochen spie-
len.
Seine Tätigkeit war eigentlich nur eine unaufhörli-
che Geschäftigkeit. Der Velveteen war ganz beson-
ders seine Puppe, und er war glücklich, wenn die gro-
ßen Frachtkarren abgeladen wurden und schon beim
Abpacken alle Handelsjuden der benachbarten Ge-
gend die Hausflur füllten; denn die letzteren waren
seine besten Kunden, und bei ihnen fand sein Velve-
teen nicht bloß den größten Absatz, sondern auch eh-
renhafte Anerkennung.
Da du, teurer Leser, vielleicht nicht weißt, was
»Velveteen« ist, so erlaube ich mir, dir zu erklären,
daß dieses ein englisches Wort ist, welches »samtar-
tig« bedeutet, und man benennt damit eine Art Samt
von Baumwolle, woraus sehr schöne Hosen, Westen,
sogar Kamisöle verfertigt werden. Es trägt dieser
Kleidungsstoff auch den Namen »Manchester« nach
der gleichnamigen Fabrikstadt, wo derselbe zuerst fa-
briziert wurde.
Weil nun der Freund meines Vaters, der sich auf
den Einkauf des Velveteens am besten verstand, den
Namen Harry führte, erhielt auch ich diesen Namen,
und Harry ward ich genannt in der Familie und bei
Hausfreunden und Nachbarn.
Ich höre mich noch jetzt sehr gern bei diesem
Namen nennen, obgleich ich demselben auch viel
Verdruß, vielleicht den empfindlichsten Verdruß mei-
ner Kindheit verdankte. Erst jetzt, wo ich nicht mehr
unter den Lebenden lebe und folglich alle gesell-
schaftliche Eitelkeit in meiner Seele erlischt, kann ich
ohne Befangenheit davon sprechen.
Hier in Frankreich ist mir gleich nach meiner An-
kunft in Paris mein deutscher Name »Heinrich« in
»Henri« übersetzt worden, und ich mußte mich darin
schicken und auch endlich hierzulande selbst so nen-
nen, da das Wort Heinrich dem französischen Ohr
nicht zusagte und überhaupt die Franzosen sich alle
Dinge in der Welt recht bequem machen. Auch den
Namen »Henri Heine« haben sie nie recht ausspre-
chen können, und bei den meisten heiße ich M. Enri
Enn; von vielen wird dieses in ein Enrienne zusam-
mengezogen, und einige nannten mich M. Un rien.
Das schadet mir in mancherlei literärischer Bezie-
hung, gewährt aber auch wieder einigen Vorteil. Zum
Beispiel unter meinen edlen Landsleuten, welche nach
Paris kommen, sind manche, die mich hier gern verlä-
stern machten, aber da sie immer meinen Namen
deutsch aussprechen, so kommt es den Franzosen
nicht in den Sinn, daß der Bösewicht und Unschuld-
brunnenvergifter, über den so schrecklich geschimpft
ward, kein anderer als ihr Freund Monsieur Enrienne
sei, und jene edlen Seelen haben vergebens ihrem Tu-
gendeifer die Zügel schießen lassen; die Franzosen
wissen nicht, daß von mir die Rede ist, und die trans-
rhenanische Tugend hat vergebens alle Bolzen der
Verleumdung abgeschossen.
Es hat aber, wie gesagt, etwas Mißliches, wenn
man unsern Namen schlecht ausspricht. Es gibt Men-
schen, die in solchen Fällen eine große Empfindlich-
keit an den Tag legen. Ich machte mir mal den Spaß,
den alten Cherubini zu befragen, ob es wahr sei, daß
der Kaiser Napoleon seinen Namen immer wie Sche-
rubini und nicht wie Kerubini ausgesprochen, ob-
gleich der Kaiser des Italienischen genugsam kundig
war, um zu wissen, wo das italienische ch wie ein que
oder k ausgesprochen wird. Bei dieser Anfrage expek-
torierte sich der alte Maestro mit höchst komischer
Wut.
Ich habe dergleichen nie empfunden.
Heinrich, Harry, Henri - alle diese Namen klingen
gut, wenn sie von schönen Lippen gleiten. Am besten
freilich klingt Signor Enrico. So hieß ich in jenen
hellblauen, mit großen silbernen Sternen gestickten
Sommernächten jenes edlen und unglücklichen Lan-
des, das die Heimat der Schönheit ist und Raffael
Sanzio von Urbino, Joachimo Rossini und die Princi-
pessa Christina Belgiojoso hervorgebracht hat.
Da mein körperlicher Zustand mir alle Hoffnung
raubt, jemals wieder in der Gesellschaft zu leben, und
letztere wirklich nicht mehr für mich existiert, so habe
ich auch die Fessel jener persönlichen Eitelkeit abge-
streift, die jeden behaftet, der unter den Menschen, in
der sogenannten Welt, sich herumtreiben muß.
Ich kann daher jetzt mit unbefangenem Sinn von
dem Mißgeschick sprechen, das mit meinem Namen
»Harry« verbunden war und mir die schönsten Früh-
lingsjahre des Lebens vergällte und vergiftete.
Es hatte damit folgende Bewandtnis. In meiner Va-
terstadt wohnte ein Mann, welcher »der Dreckmichel«
hieß, weil er jeden Morgen mit einem Karren, woran
ein Esel gespannt war, die Straßen der Stadt durchzog
und vor jedem Hause stillhielt, um den Kehricht, wel-
chen die Mädchen in zierlichen Haufen zusammenge-
kehrt, aufzuladen und aus der Stadt nach dem Mistfel-
de zu transportieren. Der Mann sah aus wie sein Ge-
werbe, und der Esel, welcher seinerseits wie sein Herr
aussah, hielt still vor den Häusern oder setzte sich in
Trab, je nachdem die Modulation war, womit der Mi-
chel ihm das Wort »Haarüh!« zurief.
War solches sein wirklicher Name oder nur ein
Stichwort? Ich weiß nicht, doch soviel ist gewiß, daß
ich durch die Ähnlichkeit jenes Wortes mit meinem
Namen Harry außerordentlich viel Leid von Schulka-
meraden und Nachbarskindern auszustehen hatte. Um
mich zu nergeln, sprachen sie ihn ganz so aus, wie der
Dreckmichel seinen Esel rief, und ward ich darob er-
bost, so nahmen die Schälke manchmal eine ganz un-
schuldige Miene an und verlangten, um jede Ver-
wechselung zu vermeiden, ich sollte sie lehren, wie
mein Name und der des Esels ausgesprochen werden
müßten, stellten sich aber dabei sehr ungelehrig,
meinten, der Michel pflege die erste Silbe immer sehr
langsam anzuziehen, während er die zweite Silbe
immer sehr schnell abschnappen lasse; zu anderen
Zeiten geschähe das Gegenteil, wodurch der Ruf wie-
der ganz meinem eigenen Namen gleichlaute, und
indem die Buben in der unsinnigsten Weise alle Be-
griffe und mich mit dem Esel und wieder diesen mit
mir verwechselten, gab es tolle coq-à-l'âne, über die
jeder andere lachen, aber ich selbst weinen mußte.
Als ich mich bei meiner Mutter beklagte, meinte
sie, ich solle nur suchen, viel zu lernen und gescheit
zu werden, und man werde mich dann nie mit einem
Esel verwechseln.
Aber meine Homonymität mit dem schäbigen
Langohr blieb mein Alp. Die großen Buben gingen
vorbei und grüßten: »Haarüh!«, die kleineren riefen
mir denselben Gruß, aber in einiger Entfernung. In
der Schule ward dasselbe Thema mit raffinierter
Grausamkeit ausgebeutet; wenn nur irgend von einem
Esel die Rede war, schielte man nach mir, der ich
immer errötete, und es ist unglaublich, wie Schulkna-
ben überall Anzüglichkeiten hervorzuheben oder zu
erfinden wissen.
Zum Beispiel der eine frug den andern: »Wie unter-
scheidet sich das Zebra von dem Esel des Barlaam,
Sohn Boers?« Die Antwort lautete: »Der eine spricht
zebräisch und der andere sprach hebräisch.« - Dann
kam die Frage: »Wie unterscheidet sich aber der Esel
des Dreckmichels von seinem Namensvetter?«, und
die impertinente Antwort war: »Den Unterschied wis-
sen wir nicht.« Ich wollte dann zuschlagen, aber man
beschwichtigte mich, und mein Freund Dietrich, der
außerordentlich schöne Heiligenbildchen zu verferti-
gen wußte und auch später ein berühmter Maler
wurde, suchte mich einst bei einer solchen Gelegen-
heit zu trösten, indem er mir ein Bild versprach. Er
malte für mich einen heiligen Michael - aber der Bö-
sewicht hatte mich schändlich verhöhnt. Der Erzengel
hatte die Züge des Dreckmichels, sein Roß sah ganz
aus wie dessen Esel, und statt einen Drachen durch-
stach die Lanze das Aas einer toten Katze.
Sogar der blondlockichte, sanfte, mädchenhafte
Franz, den ich so sehr liebte, verriet mich einst: er
schloß mich in seine Arme, lehnte seine Wange zärt-
lich an die meinige, blieb lange sentimental an meiner
Brust und - rief mir plötzlich ins Ohr ein lachendes
»Haarüh!« - das schnöde Wort im Davonlaufen be-
ständig modulierend, daß es weithin durch die Kreuz-
gänge des Klosters widerhallte.
Noch roher behandelten mich einige Nachbarskin-
der, Gassenbuben jener niedrigsten Klasse, welche
wir in Düsseldorf »Haluten« nannten, ein Wort, wel-
ches Etymologienjäger gewiß von den Heloten der
Spartaner ableiten würden.
Ein solcher Halut war der kleine Jupp, welches Jo-
seph heißt und den ich auch mit seinem Vatersnamen
Flader benennen will, damit er beileibe nicht mit dem
Jupp Rörsch verwechselt werde, welcher ein ganz ar-
tiges Nachbarskind war und, wie ich zufällig erfahren,
jetzt als Postbeamter in Bonn lebt. Der Jupp Flader
trug immer einen langen Fischerstecken, womit er
nach mir schlug, wenn er mir begegnete. Er pflegte
mir auch gern Roßäpfel an den Kopf zu werfen, die er
brühwarm, wie sie aus dem Backofen der Natur
kamen, von der Straße aufraffte. Aber nie unterließ er
dann auch, das fatale »Haarüh!« zu rufen, und zwar in
allen Modulationen.
Der böse Bub war der Enkel der alten Frau Flader,
welche zu den Klientinnen meines Vaters gehörte. So
böse der Bub war, so gutmütig war die arme Groß-
mutter, ein Bild der Armut und des Elends, aber nicht
abstoßend, sondern nur herzzerreißend. Sie war wohl
über achtzig Jahre alt, eine große Schlottergestalt, ein
weißes Ledergesicht mit blassen Kummeraugen, eine
weiche, röchelnde, wimmernde Stimme, und bettelnd
ganz ohne Phrase, was immer furchtbar klingt.
Mein Vater gab ihr immer einen Stuhl, wenn sie
kam, ihr Monatsgeld abzuholen an den Tagen, wo er
als Armenpfleger seine Sitzungen hielt.
Von diesen Sitzungen meines Vaters als Armen-
pfleger blieben mir nur diejenigen im Gedächtnis,
welche im Winter stattfanden, in der Frühe des Mor-
gens, wenn's noch dunkel war. Mein Vater saß dann
an einem großen Tische, der mit Geldtüten jeder
Größe bedeckt war; statt der silbernen Leuchter mit
Wachskerzen, deren sich mein Vater gewöhnlich be-
diente und womit er, dessen Herz soviel Takt besaß,
vor der Armut nicht prunken wollte, standen jetzt auf
dem Tische zwei kupferne Leuchter mit Talglichtern,
die mit der roten Flamme des dicken, schwarzge-
brannten Dochtes gar traurig die anwesende Gesell-
schaft beleuchteten.
Das waren arme Leute jedes Alters, die bis in den
Vorsaal Queue machten. Einer nach dem andern kam,
seine Tüte in Empfang zu nehmen, und mancher er-
hielt zwei; die große Tüte enthielt das Privatalmosen
meines Vaters, die kleine das Geld der Armenkasse.
Ich saß auf einem hohen Stuhle neben meinem
Vater und reichte ihm die Tüten. Mein Vater wollte
nämlich, ich sollte lernen, wie man gibt, und in die-
sem Fache konnte man bei meinem Vater etwas Tüch-
tiges lernen.
Viele Menschen haben das Herz auf dem rechten
Fleck, aber sie verstehen nicht zu geben, und es dau-
ert lange, ehe der Wille des Herzens den Weg bis zur
Tasche macht; zwischen dem guten Vorsatz und der
Vollstreckung vergeht langsam die Zeit wie bei einer
Postschnecke. Zwischen dem Herzen meines Vaters
und seiner Tasche war gleichsam schon eine Eisen-
bahn eingerichtet. Daß er durch die Aktionen solcher
Eisenbahn nicht reich wurde, versteht sich von selbst.
Bei der Nord- oder Lyonbahn ist mehr verdient wor-
den.
Die meisten Klienten meines Vaters waren Frauen,
und zwar alte, und auch in späteren Zeiten, selbst
damals, als seine Umstände sehr unglänzend zu sein
begannen, hatte er eine solche Klientel von bejahrten
Weibspersonen, denen er kleine Pensionen verab-
reichte. Sie standen überall auf der Lauer, wo sein
Weg ihn vorüberführen mußte, und er hatte solcher-
maßen eine geheime Leibwache von alten Weibern
wie einst der selige Robespierre.
Unter dieser altergrauen Garde war manche Vettel,
die durchaus nicht aus Dürftigkeit ihm nachlief, son-
dern aus wahrem Wohlgefallen an seiner Person, an
seiner freundlichen und immer liebreichen Erschei-
nung.
Er war ja die Artigkeit in Person, nicht bloß den
jungen, sondern auch den älteren Frauen gegenüber,
und die alten Weiber, die so grausam sich zeigen,
wenn sie verletzt werden, sind die dankbarste Nation,
wenn man ihnen einige Aufmerksamkeit und Zuvor-
kommenheit erwiesen, und wer in Schmeicheleien be-
zahlt sein will, der findet in ihnen Personen, die nicht
knickern, während die jungen schnippischen Dinger
uns für alle unsere Zuvorkommenheiten kaum eines
Kopfnickens würdigen.
Da nun für schöne Männer, deren Spezialität drin
besteht, daß sie schöne Männer sind, die Schmeiche-
lei ein großes Bedürfnis ist und es ihnen dabei gleich-
gültig ist, ob der Weihrauch aus einem rosichten oder
welken Munde kommt, wenn er nur stark und
reichlich hervorquillt, so begreift man, wie mein teu-
rer Vater, ohne eben darauf spekuliert zu haben, den-
noch in seinem Verkehr mit den alten Damen ein
gutes Geschäft machte.
Es ist unbegreiflich, wie groß oft die Dosis Weih-
rauch war, mit welcher sie ihn eindampften, und wie
gut er die stärkste Portion vertragen konnte. Das war
sein glückliches Temperament, durchaus nicht Einfalt.
Er wußte sehr wohl, daß man ihm schmeichle, aber er
wußte auch, daß Schmeichelei wie Zucker immer süß
ist, und er war wie das Kind, welches zu der Mutter
sagt: »Schmeichle mir ein bißchen, sogar ein bißchen
zuviel.«
Das Verhältnis meines Vaters zu den besagten
Frauen hatte aber noch außerdem einen ernsteren
Grund. Er war nämlich ihr Ratgeber, und es ist merk-
würdig, daß dieser Mann, der sich selber so schlecht
zu raten wußte, dennoch die Lebensklugheit selbst
war, wenn es galt, anderen in mißlichen Vorfallenhei-
ten einen guten Rat zu erteilen. Er durchschaute dann
gleich die Position, und wenn die betrübte Klientin
ihm auseinandergesetzt, wie es ihr in ihrem Gewerbe
immer schlimmer gehe, so tat er am Ende einen Aus-
spruch, den ich so oft, wenn alles schlecht ging, aus
seinem Munde hörte, nämlich: »In diesem Falle muß
man ein neues Fäßchen anstechen.« Er wollte damit
anraten, daß man nicht in einer verlorenen Sache
eigensinnig ferner beharren, sondern etwas Neues be-
ginnen, eine neue Richtung einschlagen müsse. Man
muß dem alten Faß, woraus nur saurer Wein und nur
sparsam tröpfelt, lieber gleich den Boden ausschlagen
und »ein neues Fäßchen anstechen!« Aber statt dessen
legt man sich faul mit offenem Mund unter das
trockene Spundloch und hofft auf süßeres und reichli-
cheres Rinnen.
Als die alte Hanne meinem Vater klagte, daß ihre
Kundschaft abgenommen und sie nichts mehr zu
brocken und, was für sie noch empfindlicher, nichts
mehr zu schlucken habe, gab er ihr erst einen Taler,
und dann sann er nach. Die alte Hanne war früher
eine der vornehmsten Hebammen, aber in späteren
Jahren ergab sie sich etwas dem Trinken und beson-
ders dem Tabakschnupfen; da in ihrer roten Nase
immer Tauwetter war und der Tropfenfall die weißen
Bettücher der Wöchnerinnen sehr verbräunte, so ward
die Frau überall abgeschafft.
Nachdem mein Vater nun reiflich nachgedacht,
sagte er endlich: »Da muß man ein neues Fäßchen an-
stechen, und diesmal muß es ein Branntweinfäßchen
sein; ich rate Euch, in einer etwas vornehmen, von
Matrosen besuchten Straße am Hafen einen kleinen
Likörladen zu eröffnen, ein Schnapslädchen.«
Die Ex-Hebamme folgte diesem Rat, sie etablierte
sich mit einer Schnapsbutike am Hafen, machte gute
Geschäfte, und sie hätte gewiß ein Vermögen erwor-
ben, wenn nicht unglücklicherweise sie selbst ihre
beste Kunde gewesen wäre. Sie verkaufte auch Tabak,
und ich sah sie oft vor ihrem Laden stehen mit ihrer
rot aufgedunsenen Schnupftabaksnase, eine lebende
Reklame, die manchen gefühlvollen Seemann anlock-
te.
Zu den schönen Eigenschaften meines Vaters ge-
hörte vorzüglich seine große Höflichkeit, die er, als
ein wahrhaft vornehmer Mann, ebensosehr gegen
Arme wie gegen Reiche ausübte. Ich bemerkte dieses
besonders in den oberwähnten Sitzungen, wo er, den
armen Leuten ihre Geldtüte verabreichend, ihnen
immer einige höfliche Worte sagte.
Ich konnte da etwas lernen, und in der Tat, man-
cher berühmte Wohltäter, der den armen Leuten
immer die Tüte an den Kopf warf, daß man mit jedem
Taler auch ein Loch in den Kopf bekam, hätte hier bei
meinem höflichen Vater etwas lernen können. Er be-
fragte die meisten armen Weiber nach ihrem Befin-
den, und er war so gewohnt an die Redeformel »Ich
habe die Ehre«, daß er sie auch anwandte, wenn er
mancher Vettel, die etwa unzufrieden und patzig, die
Türe zeigte.
Gegen die alte Flader war er am höflichsten, und er
bot ihr immer einen Stuhl. Sie war auch wirklich so
schlecht auf den Beinen und konnte mit ihrer
Handkrücke kaum forthumpeln.
Als sie zum letztenmal zu meinem Vater kam, um
ihr Monatsgeld abzuholen, war sie so zusammenfal-
lend, daß ihr Enkel, der Jupp, sie führen mußte. Die-
ser warf mir einen sonderbaren Blick zu, als er mich
an dem Tische neben meinem Vater sitzen sah. Die
Alte erhielt außer der kleinen Tüte auch noch eine
ganz große Privattüte von meinem Vater, und sie
ergoß sich in einen Strom von Segenswünschen und
Tränen.
Es ist fürchterlich, wenn eine alte Großmutter so
stark weint. Ich hätte selbst weinen können, und die
alte Frau mochte es mir wohl anmerken. Sie konnte
nicht genug rühmen, welch ein hübsches Kind ich sei,
und sie sagte, sie wollte die Muttergottes bitten, dafür
zu sorgen, daß ich niemals im Leben Hunger leiden
und bei den Leuten betteln müsse.
Mein Vater ward über diese Worte etwas verdrieß-
lich, aber die Alte meinte es ehrlich; es lag in ihrem
Blick etwas so Geisterhaftes, aber zugleich Frömmi-
ges und Liebreiches, und sie sagte zuletzt zu ihrem
Enkel: »Geh, Jupp, und küsse dem lieben Kinde die
Hand.« Der Jupp schnitt eine säuerliche Grimasse,
aber er gehorchte dem Befehl der Großmutter; ich
fühlte auf meiner Hand seine brennenden Lippen wie
den Stich einer Viper. Schwerlich konnte ich sagen
warum, aber ich zog aus der Tasche alle meine
Fettmännchen und gab sie dem Jupp, der mit einem
roh blöden Gesicht sie Stück vor Stück zählte und
endlich ganz gelassen in die Tasche seiner Bux steck-
te.
Zur Belehrung des Lesers bemerke ich, daß »Fett-
männchen« der Name einer fettigdicken Kupfermünze
ist, die ungefähr einen Sou wert ist.
Die alte Flader ist bald darauf gestorben, aber der
Jupp ist gewiß noch am Leben, wenn er nicht seitdem
gehenkt worden ist. - Der böse Bube blieb unverän-
dert. Schon den andern Tag nach unserm Zusammen-
treffen bei meinem Vater begegnete ich ihm auf der
Straße. Er ging mit seiner wohlbekannten langen Fi-
scherrute. Er schlug mich wieder mit diesem Stecken,
warf auch wieder nach mir mit einigen Roßäpfeln und
schrie wieder das fatale »Haarüh!«, und zwar so laut
und die Stimme des Dreckmichels so treu nachah-
mend, daß der Esel desselben, der sich mit dem Kar-
ren zufällig in einer Nebengasse befand, den Ruf sei-
nes Herrn zu vernehmen glaubte und ein fröhliches »I
-A« erschallen ließ.
Wie gesagt, die Großmutter des Jupp ist bald dar-
auf gestorben, und zwar in dem Ruf einer Hexe, was
sie gewiß nicht war, obgleich unsere Zippel steif und
fest das Gegenteil behauptete.
Zippel war der Name einer noch nicht sehr alten
Person, welche eigentlich Sibylle hieß, meine erste
Wärterin war und auch später im Hause blieb. Sie be-
fand sich zufällig im Zimmer am Morgen der erwähn-
ten Szene, wo die alte Flader mir so viele Lobsprüche
erteilte und die Schönheit des Kindes bewunderte. Als
die Zippel diese Worte hörte, erwachte in ihr der alte
Volkswahn, daß es den Kindern schädlich sei, wenn
sie solchermaßen gelobt werden, daß sie dadurch er-
kranken oder von einem Übel befallen werden, und
um das Übel abzuwenden, womit sie mich bedroht
glaubte, nahm sie ihre Zuflucht zu dem vom Volks-
glauben als probat empfohlene Mittel, welches darin
besteht, daß man das gelobte Kind dreimal anspucken
muß. Sie kam auch gleich auf mich zugesprungen und
spuckte mir hastig dreimal auf den Kopf.
Doch dieses war erst ein provisorisches Bespeien,
denn die Wissenden behaupten, wenn die bedenkliche
Lobspende von einer Hexe gemacht worden, so könne
der böse Zauber nur durch eine Person gebrochen
werden, die ebenfalls eine Hexe, und so entschloß
sich die Zippel, noch denselben Tag zu einer Frau zu
gehen, die ihr als Hexe bekannt war und ihr auch, wie
ich später erfahren, manche Dienste durch ihre ge-
heimnisvolle und verbotene Kunst geleistet hatte. Die
Hexe bestrich mir mit ihrem Daumen, den sie mit
Speichel angefeuchtet, den Scheitel des Hauptes, wo
sie einige Haare abgeschnitten; auch andere Stellen
bestrich sie solchermaßen, während sie allerlei
Abrakadabra-Unsinn dabei murmelte, und so ward ich
vielleicht schon frühe zum Teufelspriester ordiniert.
Jedenfalls hat diese Frau, deren Bekanntschaft mir
seitdem verblieb, mich späterhin, als ich schon er-
wachsen, in die geheime Kunst iniziert.
Ich bin zwar selbst kein Hexenmeister geworden,
aber ich weiß, wie gehext wird, und besonders weiß
ich, was keine Hexerei ist.
Jene Frau nannte man die Meisterin oder auch die
Göchin, weil sie aus Goch gebürtig war, wo auch ihr
verstorbener Gatte, der das verrufene Gewerbe eines
Scharfrichters trieb, sein Domizil hatte und von nah
und fern zu Amtsverrichtungen gerufen wurde. Man
wußte, daß er seiner Witwe mancherlei Arkana hinter-
lassen, und diese verstand es, diesen Ruf auszubeuten.
Ihre besten Kunden waren Bierwirte, denen sie die
Totenfinger verkaufte, die sie noch aus der Verlassen-
schaft ihres Mannes zu besitzen vorgab. Das sind
Finger eines gehenkten Diebes, und sie dienen dazu,
das Bier im Fasse wohlschmeckend zu machen und zu
vermehren. Wenn man nämlich den Finger eines Ge-
henkten, zumal eines unschuldig Gehenkten, an einem
Bindfaden befestigt im Fasse hinabhängen läßt, so
wird das Bier dadurch nicht bloß wohlschmeckender,
sondern man kann aus besagtem Fasse doppelt, ja
vierfach soviel zapfen wie aus einem gewöhnlichen
Fasse von gleicher Größe. Aufgeklärte Bierwirte
pflegen ein rationaleres Mittel anzuwenden, um das
Bier zu vermehren, aber es verliert dadurch an Stärke.
Auch von jungen Leuten zärtlichen Herzens hatte
die Meisterin viel Zuspruch, und sie versah sie mit
Liebestränken, denen sie in ihrer scharlatanischen La-
tinitätswut, wo sie das Latein noch lateinischer klin-
gen lassen wollte, den Namen eines Philtrariums er-
teilte; den Mann, der den Trank seiner Schönen ein-
gab, nannte sie den Philtrarius, und die Dame hieß
dann die Philtrariata.
Es geschah zuweilen, daß das Philtrarium seine
Wirkung verfehlte oder gar eine entgegengesetzte her-
vorbrachte. So hatte z.B. ein ungeliebter Bursche, der
seine spröde Schöne beschwatzt hatte, mit ihm eine
Flasche Wein zu trinken, ein Philtrarium unversehens
in ihr Glas gegossen, und er bemerkte auch in dem
Benehmen seiner Philtrariata, sobald sie getrunken
hatte, eine seltsame Veränderung, eine gewisse Ben-
autigkeit, die er für den Durchbruch einer Liebes-
brunst hielt! und glaubte sich dem großen Momente
nahe. Aber ach! als er die Errötende jetzt gewaltsam
in seine Arme schloß, drang ihm ein Duft in die Nase,
der nicht zu den Parfümerien Amors gehört, er merk-
te, daß das Philtrarium vielmehr als ein Laxarium
agierte, und seine Leidenschaft ward dadurch gar wi-
derwärtig abgekühlt.
Die Meisterin rettete den Ruf ihrer Kunst, indem
sie behauptete, den unglücklichen Philtrarius mißver-
standen und geglaubt zu haben, er wolle von seiner
Liebe geheilt sein.
Besser als ihre Liebestränke waren die Ratschläge,
womit die Meisterin ihre Philtrarien begleitete; sie riet
nämlich, immer etwas Gold in der Tasche zu tragen,
indem Gold sehr gesund sei und besonders dem Lie-
benden Glück bringe. Wer erinnert sich nicht hier an
des ehrlichen Jagos Worte im »Othello«, wenn er dem
verliebten Rodrigo sagt: »Take money in your
pocket!«
Mit dieser großen Meisterin stand nun unsere Zip-
pel in intimer Bekanntschaft, und wenn es jetzt nicht
eben mehr Liebestränke waren, die sie hier kaufte, so
nahm sie doch die Kunst der Göchin manchmal in
Anspruch, wenn es galt, an einer beglückten Neben-
buhlerin, die ihren eigenen ehemaligen Schatz heura-
tete, sich zu rächen, indem sie ihr Unfruchtbarkeit
oder dem Ungetreuen die schnödeste Entmannung an-
hexen ließ. Das Unfruchtbarmachen geschah durch
Nestelknüpfen. Das ist sehr leicht: man begibt sich in
die Kirche, wo die Trauung der Brautleute stattfindet,
und in dem Augenblick, wo der Priester über diesel-
ben die Trauungsformel ausspricht, läßt man ein ei-
sernes Schloß, welches man unter der Schürze verbor-
gen hielt, schnell zuklappen; so wie jenes Schloß ver-
schließt sich auch jetzt der Schoß der Neuvermählten.
Die Zeremonien, welche bei der Entmannung beob-
achtet werden, sind so schmutzig und haarsträubend
grauenhaft, daß ich sie unmöglich mitteilen kann.
Genug, der Patient wird nicht im gewöhnlichen Sinne
unfähig gemacht, sondern in der wahren Bedeutung
des Wortes seiner Geschlechtlichkeit beraubt, und die
Hexe, welche im Besitze des Raubes bleibt, bewahrt
folgendermaßen dieses Corpus delicti, dieses Ding
ohne Namen, welches sie auch kurzweg »das Ding«
nennt; die lateinsüchtige Göcherin nannte es immer
einen Numen Pompilius, wahrscheinlich eine Remi-
niszenz an König Numa, den weisen Gesetzgeber, den
Schüler der Nymphe Egeria, der gewiß nie geahnt,
wie schändlich sein ehrlicher Namen einst mißbraucht
würde.
Die Hexe verfährt wie folgt. Das Ding, dessen sie
sich bemächtigt, legt sie in ein leeres Vogelnest und
befestigt dasselbe ganz hoch zwischen den belaubten
Zweigen eines Baumes; auch die Dinger, die sie spä-
ter ihren Eigentümern entwenden konnte, legt sie in
dasselbe Vogelnest, doch so, daß nie mehr als ein
halb Dutzend darin zu liegen kommen. Im Anfang
sind die Dinger sehr kränklich und miserabel, viel-
leicht durch Emotion und Heimweh, aber die frische
Luft stärkt sie, und sie geben Laute von sich wie das
Zirpen von Zikaden. Die Vögel, die den Baum um-
flattern, werden davon getäuscht und meinen, es seien
noch unbefiederte Vögel, und aus Barmherzigkeit
kommen sie mit Speise in ihren Schnäblein, um die
mutterlosen Waisen zu füttern, was diese sich wohl
gefallen lassen, so daß sie dadurch erstarken, ganz fett
und gesund werden und nicht mehr leise zirpen, son-
dern laut zwitschern. Drob freut sich nun die Hexe,
und in kühlen Sommernächten, wenn der Mond recht
deutschsentimental herunterscheint, setzt sich die
Hexe unter den Baum, horchend dem Gesang der Din-
ger, die sie dann ihre süßen Nachtigallen nennt.
Sprenger in seinem »Hexenhammer«, »Malleus
maleficarum«, erwähnt auch diese Verruchtheiten der
Unholdinnen in bezug auf obige Zauberei, und ein
alter Autor, den Scheible in seinem »Kloster« zitiert
und dessen Name mir entfallen, erzählt, wie die
Hexen oft gezwungen werden, ihre Beute den Ent-
mannten zurückzugeben.
Die Hexe begeht den Mannheitsdiebstahl aber mei-
stens in der Absicht, von den Entmannten durch die
Restitution ein sogenanntes Kostgeld zu erpressen.
Bei dieser Zurückgabe des entwendeten Gegenstands
gibt es zuweilen Verwechselungen und Quiproquos,
die sehr ergötzlicher Art, und ich kenne die Geschich-
te eines Domherrn, dem ein falscher Numa Pompilius
zurückgeliefert ward, der, wie die Haushälterin des
geistlichen Herrn, seine Nymphe Egeria, behauptete,
eher einem Türken als einem Christenmenschen
angehört haben mußte.
Als einst ein solcher Entmannter auf Restitution
drang, befahl ihm die Hexe, eine Leiter zu nehmen
und ihr in den Garten zu folgen, dort auf den vierten
Baum hinaufzusteigen und in einem Vogelnest, das er
hier befestigt fände, das verlorene Gut wieder heraus-
zusuchen. Der arme Mensch befolgte die Instruktion,
hörte aber, wie die Hexe ihm lachend zurief: »Ihr habt
eine zu große Meinung von Euch. Ihr irrt Euch, was
Ihr da herausgezogen, gehört einem sehr großen geist-
lichen Herrn, und ich käme in die größte Schererei,
wenn es mir abhanden käme.«
Es war aber wahrlich nicht die Hexerei, was mich
zuweilen zur Göcherin trieb. Ich unterhielt die Be-
kanntschaft mit der Göcherin, und ich mochte wohl
schon in einem Alter von sechzehn Jahren sein, als
ich öfter als früher nach ihrer Wohnung ging, hinge-
zogen von einer Hexerei, die stärker war als alle ihre
lateinisch bombastischen Philtraria. Sie hatte nämlich
eine Nichte, welche ebenfalls kaum sechzehn Jahre alt
war, aber, plötzlich aufgeschossen zu einer hohen,
schlanken Gestalt, viel älter zu sein schien. Das plötz-
liche Wachstum war auch schuld, daß sie äußerst
mager war. Sie hatte jene enge Taille, welche wir bei
den Quarteronen in Westindien bemerken, und da sie
kein Korsett und kein Dutzend Unterröcke trug, so
glich ihre enganliegende Kleidung dem nassen
Gewand einer Statue. Keine marmorne Statue konnte
freilich mit ihr an Schönheit wetteifern, da sie das
Leben selbst und jede Bewegung die Rhythmen ihres
Leibes, ich möchte sagen sogar die Musik ihrer Seele
offenbarte. Keine von den Töchtern der Niobe hatte
ein edler geschnittenes Gesicht; die Farbe desselben
wie ihre Haut überhaupt war von einer etwas wech-
selnden Weiße. Ihre großen tiefdunklen Augen sahen
aus, als hätten sie ein Rätsel aufgegeben und warteten
ruhig auf die Lösung, während der Mund mit den
schmalen, hochaufgeschürzten Lippen und den krei-
deweißen, etwas länglichen Zähnen zu sagen schien:
›Du bist zu dumm und wirst vergebens raten.‹
Ihr Haar war rot, ganz blutrot, und hing in langen
Locken bis über ihre Schultern hinab, so daß sie das-
selbe unter dem Kinn zusammenbinden konnte. Das
gab ihr aber das Aussehen, als habe man ihr den Hals
abgeschnitten und in roten Strömen quölle daraus her-
vor das Blut.
Die Stimme der Josepha oder des roten »Sefchen«,
wie man die schöne Nichte der Göcherin nannte, war
nicht besonders wohllautend, und ihr Sprachorgan
war manchmal bis zur Klanglosigkeit verschleiert;
doch plötzlich, wenn die Leidenschaft eintrat, brach
der metallreichste Ton hervor, der mich ganz beson-
ders durch den Umstand ergriff, daß die Stimme der
Josepha mit der meinigen eine so große Ähnlichkeit
hatte.
Wenn sie sprach, erschrak ich zuweilen und glaub-
te mich selbst sprechen zu hören, und auch ihr Ge-
sang erinnerte mich an Träume, wo ich mich selber
mit derselben Art und Weise singen hörte.
Sie wußte viele alte Volkslieder und hat vielleicht
bei mir den Sinn für diese Gattung geweckt, wie sie
gewiß den größten Einfluß auf den erwachenden Poe-
ten übte, so daß meine ersten Gedichte der »Traum-
bilder«, die ich bald darauf schrieb, ein düstres und
grausames Kolorit haben, wie das Verhältnis, das da-
mals seine blutrünstigen Schatten in mein junges
Leben und Denken warf.
Unter den Liedern, die Josepha sang, war ein
Volkslied, das sie von der Zippel gelernt und welches
diese auch mir in meiner Kindheit oft vorgesungen, so
daß ich zwei Strophen im Gedächtnis behielt, die ich
um so lieber hier mitteilen will, da ich das Gedicht in
keiner der vorhandenen Volksliedersammlungen fand.
Sie lauten folgendermaßen zuerst spricht der böse
Tragig:

»Otilje lieb, Otilje mein,
Du wirst wohl nicht die letzte sein -
Sprich, willst du hängen am hohen Baum?
Oder willst du schwimmen im blauen See?
Oder willst du küssen das blanke Schwert,
Was der liebe Gott beschert?«

Hierauf antwortet Otilje:

»Ich will nicht hängen am hohen Baum,
Ich will nicht schwimmen im blauen See,
Ich will küssen das blanke Schwert,
Was der liebe Gott beschert!«

Als das rote Sefchen einst, das Lied singend, an
das Ende dieser Strophe kam und ich ihr die innere
Bewegung abmerkte, ward auch ich so erschüttert,
daß ich in ein plötzliches Weinen ausbrach, und wir
fielen uns beide schluchzend in die Arme, sprachen
kein Wort, wohl eine Stunde lang, während uns die
Tränen aus den Augen rannen und wir uns wie durch
einen Tränenschleier ansahen.
Ich bat Sefchen, mir jene Strophen aufzuschreiben,
und sie tat es, aber sie schrieb sie nicht mit Tinte,
sondern mit ihrem Blute; das rote Autograph kam mir
später abhanden, doch die Strophen blieben mir un-
auslöschlich im Gedächtnis.
Der Mann der Göchin war der Bruder von Sefchens
Vater, welcher ebenfalls Scharfrichter war, doch da
derselbe früh starb, nahm die Göchin das kleine Kind
zu sich. Aber als bald darauf ihr Mann starb und sie
sich in Düsseldorf ansiedelte, übergab sie das Kind
dem Großvater, welcher ebenfalls Scharfrichter war
und im Westfälischen wohnte.
Hier, in dem »Freihaus«, wie man die Scharfrichte-
rei zu nennen pflegt, verharrte Sefchen bis zu ihrem
vierzehnten Jahre, wo der Großvater starb und die
Göchin die ganz Verwaiste wieder zu sich nahm.
Durch die Unehrlichkeit ihrer Geburt führte
Sefchen von ihrer Kindheit bis ins Jungfrauenalter ein
vereinsamtes Leben, und gar auf dem Freihof ihres
Großvaters war sie von allem gesellschaftlichen Um-
gang abgeschieden. Daher ihre Menschenscheu, ihr
sensitives Zusammenzucken vor jeder fremden Berüh-
rung, ihr geheimnisvolles Hinträumen, verbunden mit
dem störrigsten Trutz, mit der patzigsten Halsstarrig-
keit und Wildheit.
Sonderbar! sogar in ihren Träumen, wie sie mir
einst gestand, lebte sie nicht mit Menschen, sondern
sie träumte nur von Tieren.
In der Einsamkeit der Scharfrichterei konnte sie
sich nur mit den alten Büchern des Großvaters be-
schädigen, welcher letztere ihr zwar Lesen und
Schreiben selbst lehrte, aber doch äußerst wortkarg
war.
Manchmal war er mit seinen Knechten auf mehrere
Tage abwesend, und das Kind blieb dann allein im
Freihaus, welches nahe am Hochgericht in einer wal-
digen Gegend sehr einsam gelegen war. Zu Hause
blieben nur drei alte Weiber mit greisen Wackelköp-
fen, die beständig ihre Spinnräder schnurren ließen,
hüstelten, sich zankten und viel Branntewein tranken.
Besonders in Winternächten, wo der Wind draußen
die alten Eichen schüttelte und der große flackernde
Kamin so sonderbar heulte, ward es dem armen
Sefchen sehr unheimlich im einsamen Hause; denn
alsdann fürchtete man auch den Besuch der Diebe,
nicht der lebenden, sondern der toten, der gehenkten,
die vom Galgen sich losgerissen und an die niederen
Fensterscheiben des Hauses klopften und Einlaß ver-
langten, um sich ein bißchen zu wärmen. Sie schnei-
den so jämmerlich verfrorene Grimassen. Man kann
sie nur dadurch verscheuchen, daß man aus der Eisen-
kammer ein Richtschwert holt und ihnen damit droht;
alsdann huschen sie wie ein Wirbelwind von dannen.
Manchmal lockt sie nicht bloß das Feuer des Her-
des, sondern auch die Absicht, die ihnen vom Scharf-
richter gestohlenen Finger wieder zu stehlen. Hat man
die Tür nicht hinlänglich verriegelt, so treibt sie auch
noch im Tode das alte Diebesgelüste, und sie stehlen
die Laken aus den Schränken und Betten. Eine von
den alten Frauen, die einst einen solchen Diebstahl
noch zeitig bemerkte, lief dem toten Diebe nach, der
im Winde das Laken flattern ließ, und einen Zipfel er-
fassend, entriß sie ihm den Raub, als er den Galgen
erreicht hatte und sich auf das Gebälke desselben
flüchten wollte.
Nur an Tagen, wo der Großvater sich zu einer gro-
ßen Hinrichtung anschickte, kamen aus der Nachbar-
schaft die Kollegen zum Besuche, und dann wurde ge-
sotten, gebraten, geschmaust, getrunken, wenig ge-
sprochen und gar nicht gesungen. Man trank aus sil-
bernen Bechern, statt daß dem unehrlichen Freimei-
ster oder gar seinen Freiknechten in den Wirtshäu-
sern, wo sie einkehrten, nur eine Kanne mit hölzer-
nem Deckel gereicht wurde, während man allen ande-
ren Gästen aus Kannen mit zinnernen Deckeln zu trin-
ken gab. An manchen Orten wird das Glas zerbro-
chen, woraus der Scharfrichter getrunken; niemand
spricht mit ihm, jeder vermeidet die geringste Berüh-
rung. Diese Schmach ruht auf seiner ganzen Sipp-
schaft, weshalb auch die Scharfrichterfamilien nur un-
tereinander heuraten.
Als Sefchen, wie sie mir erzählte, schon acht Jahr
alt war, kamen an einem schönen Herbsttage eine un-
gewöhnliche Anzahl von Gästen aufs Gehöft des
Großvaters, obgleich eben keine Hinrichtung oder
sonstige peinliche Amtspflicht zu vollstrecken stand.
Es waren ihrer wohl über ein Dutzend, fast alle sehr
alte Männchen mit eisgrauen oder kahlen Köpfchen,
die unter ihren langen roten Mänteln ihr Richtschwert
und ihre sonntäglichsten, aber ganz altfränkischen
Kleider trugen. Sie kamen, wie sie sagten, um zu
»tagen«, und was Küche und Keller am Kostbarsten
besaß, ward ihnen beim Mittagsmahl aufgetischt.
Es waren die ältesten Scharfrichter aus den entfern-
testen Gegenden, hatten einander lange nicht gesehen,
schüttelten sich unaufhörlich die Hände, sprachen
wenig und oft in einer geheimnisvollen Zeichenspra-
che und amüsierten sich in ihrer Weise, das heißt
»moult tristement«, wie Froissart von den Engländern
sagte, die nach der Schlacht bei Poitiers bankettierten.
Als die Nacht hereinbrach, schickte der Hausherr
seine Knechte aus dem Hause, befahl der alten Schaff-
nerin, aus dem Keller drei Dutzend Flaschen seines
besten Rheinweins zu holen und auf den Steintisch zu
stellen, der draußen vor den großen, einen Halbkreis
bildenden Eichen stand; auch die Eisenleuchter für die
Kienlichter befahl er dort aufzustellen, und endlich
schickte er die Alte nebst den zwei anderen Vetteln
mit einem Vorwande aus dem Hause. Sogar an des
Hofhundes kleinem Stall, wo die Planken eine Öff-
nung ließen, verstopfte er dieselben mit einer Pferde-
decke; der Hund ward sorgsam angekettet.
Das rote Sefchen ließ der Großvater im Hause, er
gab ihr den Auftrag, den großen silbernen Pokal, wor-
auf die Meergötter mit ihren Delphinen und Muschel-
trompeten abgebildet, rein auszuschwenken und auf
den erwähnten Steintisch zu stellen - dann aber, setz-
te er mit Befangenheit hinzu, solle sie sich
unverzüglich in ihrem Schlafkämmerlein zu Bette be-
geben.
Den Neptunspokal hat das rote Sefchen ganz ge-
horsamlich ausgeschwenkt und auf den Steintisch zu
den Weinflaschen gestellt, aber zu Bette ging sie
nicht, und von Neugier getrieben, verbarg sie sich
hinter einem Gebüsche nahe bei den Eichen, wo sie
zwar wenig hören, jedoch alles genau sehen konnte,
was vorging.
Die fremden Männer mit dem Großvater an ihrer
Spitze kamen feierlich paarweis herangeschritten und
setzten sich auf hohen Holzblöcken im Halbkreis um
den Steintisch, wo die Harzlichter angezündet worden
und ihre ernsthaften, steinharten Gesichter gar grauen-
haft beleuchteten.
Sie saßen lange schweigend oder vielmehr in sich
hinein murmelnd, vielleicht betend. Dann goß der
Großvater den Pokal voll Wein, den jeder nun aus-
trank und mit wieder neu eingeschenktem Wein sei-
nem Nachbar zustellte; nach jedem Trunk schüttelte
man sich auch biderbe die Hände.
Endlich hielt der Großvater eine Anrede, wovon
das Sefchen wenig hören konnte und gar nichts ver-
stand, die aber sehr traurige Gegenstände zu behan-
deln schien, da große Tränen aus des alten Mannes
Augen herabtropften und auch die anderen alten Män-
ner bitterlich zu weinen anfingen, was ein
entsetzlicher Anblick war, da diese Leute sonst so
hart und verwittert aussahen wie die grauen
Steinfiguren vor einem Kirchenportal - und jetzt
schossen Tränen aus den stieren Steinaugen, und sie
schluchzten wie die Kinder.
Der Mond sah dabei so melancholisch aus seinen
Nebelschleiern am sternlosen Himmel, daß der klei-
nen Lauscherin das Herz brechen wollte vor Mitleid.
Besonders rührte sie der Kummer eines kleinen alten
Mannes, der heftiger als die anderen weinte und so
laut jammerte, daß sie ganz gut einige seiner Worte
vernahm - er rief unaufhörlich: »O Gott! o Gott! das
Unglück dauert schon so lange, das kann eine
menschliche Seele nicht länger tragen. O Gott, du bist
ungerecht, ja ungerecht.« - Seine Genossen schienen
ihn nur mit großer Mühe beschwichtigen zu können.
Endlich erhob sich wieder die Versammlung von
ihren Sitzen, sie warfen ihre roten Mäntel ab, und,
jeder sein Richtschwert unterm Arme haltend, je zwei
und zwei begaben sie sich hinter einen Baum, wo
schon ein eiserner Spaten bereit stand, und mit diesem
Spaten schaufelte einer von ihnen in wenigen Augen-
blicken eine tiefe Grube. Jetzt trat Sefchens Großvater
heran, welcher seinen roten Mantel nicht wie die an-
deren abgelegt hatte, und langte darunter ein weißes
Paket hervor, welches sehr schmal, aber über eine
Brabanter Elle lang sein mochte und mit einem
Bettlaken umwickelt war; er legte dasselbe sorgsam
in die offene Grube, die er mit großer Hast wieder zu-
deckte.
Das arme Sefchen konnte es in seinem Versteck
nicht länger aushalten; bei dem Anblick jenes geheim-
nisvollen Begräbnisses sträubten sich ihre Haare, das
arme Kind trieb die Seelenangst von dannen, sie eilte
in ihr Schlafkämmerlein, barg sich unter die Decke
und schlief ein.
Am anderen Morgen erschien dem Sefchen alles
wie ein Traum, aber da sie hinter dem bekannten
Baum den aufgefrischten Boden sah, merkte sie wohl,
daß alles Wirklichkeit war. Sie grübelte lange darüber
nach, was dort wohl vergraben sein mochte: ein
Kind? ein Tier? ein Schatz? - sie sagte aber nieman-
dem ein Sterbenswort von dem nächtlichen Begebnis,
und da die Jahre vergingen, trat dasselbe in den Hin-
tergrund ihres Gedächtnisses.
Erst fünf Jahre später, als der Großvater gestorben
und die Göcherin kam, um das Mädchen nach Düssel-
dorf abzuholen, wagte dasselbe der Muhme ihr Herz
zu öffnen. Diese aber war über die seltsame Ge-
schichte weder erschrocken noch verwundert, sondern
höchlich erfreut, und sie sagte, daß weder ein Kind
noch eine Katze noch ein Schatz in der Grube verbor-
gen läge, wohl aber das alte Richtschwert des Groß-
vaters, womit derselbe hundert armen Sündern den
Kopf abgeschlagen habe. Nun sei es aber Brauch und
Sitte der Scharfrichter, daß sie ein Schwert, womit
hundertmal das hochnotpeinliche Amt verrichtet wor-
den, nicht länger behalten oder gar benutzen; denn ein
solches Richtschwert sei nicht wie andere Schwerter,
es habe mit der Zeit ein heimliches Bewußtsein be-
kommen und bedürfe am Ende der Ruhe im Grabe
wie ein Mensch.
Auch werden solche Schwerter, meinen viele, durch
das viele Blutvergießen zuletzt grausam, und sie lech-
zen manchmal nach Blut, und oft um Mitternacht
könne man deutlich hören, wie sie im Schranke, wo
sie aufgehenkt sind, leidenschaftlich rasseln und ru-
moren; ja, einige werden so tückisch und boshaft ganz
wie unsereins und betören den Unglücklichen, der sie
in Händen hat, so sehr, daß er die besten Freunde
damit verwundet. So habe mal in der Göcherin eige-
nen Familie ein Bruder den andern mit einem solchen
Schwerte erstochen.
Nichtsdestoweniger gestand die Göcherin, daß man
mit einem solchen Hundertmordschwert die kostbar-
sten Zauberstücke verrichten könne, und noch in
derselben Nacht hatte sie nichts Eiligeres zu tun, als
an dem bezeichneten Baum das verscharrte Richt-
schwert auszugraben, und sie verwahrte es seitdem
unter anderem Zaubergeräte in ihrer Rumpelkammer.
Als sie einst nicht zu Hause war, bat ich Sefchen,
mir jene Kuriosität zu zeigen. Sie ließ sich nicht lange
bitten, ging in die besagte Kammer und trat gleich
darauf hervor mit einem ungeheuren Schwerte, das sie
trotz ihrer schmächtigen Arme sehr kräftig schwang,
während sie schalkhaft drohend die Worte sang:

»Willst du küssen das blanke Schwert,
Das der liebe Gott beschert?«

Ich antwortete darauf in derselben Tonart: »Ich will
nicht küssen das blanke Schwert - ich will das rote
Sefchen küssen!«, und da sie sich aus Furcht, mich
mit dem fatalen Stahl zu verletzen, nicht zur Gegen-
wehr setzen konnte, mußte sie es geschehen lassen,
daß ich mit großer Herzhaftigkeit die feinen Hüften
umschlang und die trutzigen Lippen küßte. Ja, trotz
dem Richtschwert, womit schon hundert arme Schel-
me geköpft worden, und trotz der Infamia, womit jede
Berührung des unehrlichen Geschlechtes jeden behaf-
tet, küßte ich die schöne Scharfrichterstochter.
Ich küßte sie nicht bloß aus zärtlicher Neigung,
sondern auch aus Hohn gegen die alte Gesellschaft
und alle ihre dunklen Vorurteile, und in diesem Au-
genblicke loderten in mir auf die ersten Flammen
jener zwei Passionen, welchen mein späteres Leben
gewidmet blieb: die Liebe für schöne Frauen und die
Liebe für die französische Revolution, den modernen
furor francese, wovon auch ich ergriffen ward im
Kampf mit den Landsknechten des Mittelalters.
Ich will meine Liebe für Josepha nicht näher be-
schreiben. Soviel aber will ich gestehen, daß sie doch
nur ein Präludium war, welches den großen Tragödien
meiner reiferen Periode voranging. So schwärmt
Romeo erst für Rosalinde, ehe er seine Julia sieht.
In der Liebe gibt es ebenfalls, wie in der römisch-
katholischen Religion, ein provisorisches Fegfeuer, in
welchem man sich erst an das Gebratenwerden ge-
wöhnen soll, ehe man in die wirkliche ewige Hölle
gerät.
Hölle? Darf man der Liebe mit solcher Unart er-
wähnen? Nun, wenn ihr wollt, will ich sie auch mit
dem Himmel vergleichen. Leider ist in der Liebe nie
genau zu ermitteln, wo sie anfängt, mit der Hölle oder
mit dem Himmel die größte Ähnlichkeit zu bieten, so
wie man auch nicht weiß, ob nicht die Engel, die uns
darin begegnen, etwa verkappte Teufel sind oder ob
die Teufel dort nicht manchmal verkappte Engel sein
mögen.
Aufrichtig gesagt: welche schreckliche Krankheit
ist die Frauenliebe! Da hilft keine Inokulation, wie
wir leider gesehen. Sehr gescheute und erfahrene
Ärzte raten zu Ortsveränderung und meinen, mit der
Entfernung von der Zauberin zerreiße auch der Zau-
ber. Das Prinzip der Homöopathie, wo das Weib uns
heilet von dem Weibe, ist vielleicht das probateste.
Soviel wirst du gemerkt haben, teurer Leser, daß
die Inokulation der Liebe, welche meine Mutter in
meiner Kindheit versuchte, keinen günstigen Erfolg
hatte. Es stand geschrieben, daß ich von dem großen
Übel, den Pocken des Herzens, stärker als andere
Sterbliche heimgesucht werden sollte, und mein Herz
trägt die schlechtvernarbten Spuren in so reichlicher
Fülle, daß es aussieht wie die Gipsmaske des Mira-
beau oder wie die Fassade des Palais Mazarin nach
den glorreichen Juliustagen oder gar wie die Reputati-
on der größten tragischen Künstlerin.
Gibt es aber gar kein Heilmittel gegen das fatale
Gebreste? Jüngst meinte ein Psychologe, man könnte
dasselbe bewältigen, wenn man gleich im Beginn des
Ausbruchs einige geeignete Mittel anwende. Diese
Vorschrift mahnt jedoch an das alte naive Gebetbuch,
welches Gebete für alle Unglücksfälle, womit der
Mensch bedroht ist, und unter anderen ein mehrere
Seiten langes Gebet enthält, das der Schieferdecker
abbeten solle, sobald er sich vom Schwindel ergriffen
fühle und in Gefahr sei, vom Dache herabzufallen.
Ebenso töricht ist es, wenn man einem Liebeskran-
ken anrät, den Anblick seiner Schönen zu fliehen und
sich in der Einsamkeit an der Brust der Natur Gene-
sung zu suchen. Ach, an dieser grünen Brust wird er
nur Langeweile finden, und es wäre ratsamer, daß er,
wenn nicht alle seine Energie erloschen, an ganz an-
deren und sehr weißen Brüsten, wo nicht Ruhe, so
doch heilsame Unruhe suchte; denn das wirksamste
Gegengift gegen die Weiber sind die Weiber; freilich
hieße das, den Satan durch Beelzebub bannen, und
dann ist in solchem Falle die Medizin oft noch ver-
derblicher als die Krankheit. Aber es ist immer eine
Chance, und in trostlosen Liebeszuständen ist der
Wechsel der Innamorata gewiß das ratsamste, und
mein Vater dürfte auch hier mit Recht sagen: »Jetzt
muß man ein neues Fäßchen anstechen.«
Ja, laßt uns zu meinem lieben Vater zurückkehren,
dem irgendeine mildtätige alte Weiberseele meinen
öfteren Besuch bei der Göcherin und meine Neigung
für das rote Sefchen denunziert hatte. Diese Denun-
ziationen hatten jedoch keine andere Folge, als mei-
nem Vater Gelegenheit zu geben, seine liebenswürdi-
ge Höflichkeit zu bekunden. Denn Sefchen sagte mir
bald, ein sehr vornehmer und gepuderter Mann in Be-
gleitung eines andern sei ihr auf der Promenade be-
gegnet, und als ihm sein Begleiter einige Worte zuge-
flüstert, habe er sie freundlich angesehen und im Vor-
beigehen grüßend seinen Hut vor ihr abgezogen.
Nach der näheren Beschreibung erkannte ich in
dem grüßenden Manne meinen lieben gütigen Vater.
Nicht dieselbe Nachsicht zeigte er, als man ihm ei-
nige irreligiöse Spöttereien, die mir entschlüpft,
hinterbrachte. Man hatte mich der Gottesleugnung an-
geklagt, und mein Vater hielt mir deswegen eine
Standrede, die längste, die er wohl je gehalten und die
folgendermaßen lautete: »Lieber Sohn! Deine Mutter
läßt dich beim Rektor Schallmeyer Philosophie stu-
dieren. Das ist ihre Sache. Ich meinesteils liebe nicht
die Philosophie, denn sie ist lauter Aberglauben, und
ich bin Kaufmann und habe meinen Kopf nötig für
mein Geschäft. Du kannst Philosoph sein, soviel du
willst, aber ich bitte dich, sage nicht öffentlich, was
du denkst, denn du würdest mir im Geschäft schaden,
wenn meine Kunden erführen, daß ich einen Sohn
habe, der nicht an Gott glaubt; besonders die Juden
würden keine Velveteens mehr bei mir kaufen und
sind ehrliche Leute, zahlen prompt und haben auch
recht, an der Religion zu halten. Ich bin dein Vater
und also älter als du und dadurch auch erfahrener; du
darfst mir also aufs Wort glauben, wenn ich mir er-
laube, dir zu sagen, daß der Atheismus eine große
Sünde ist.«