Kapitel
I-III
Ich bin wie Weib dem Manne --
Graf August v. Platen-Hallermünde
Will der Herr Graf ein Tänzchen wagen,
So mag er's sagen,
Ich spiel ihm auf.
Figaro
Karl Immermann, dem Dichter,
widmet diese Blätter,
als ein Zeichen freudigster Verehrung,
der Verfasser
Kapitel I
Als ich zu Mathilden ins Zimmer trat, hatte sie den
letzten Knopf des grünen Reitkleides zugeknöpft und
wollte eben einen Hut mit weißen Federn aufsetzen.
Sie warf ihn rasch von sich, sobald sie mich erblickte,
mit ihren wallend goldnen Locken stürzte sie mir ent-
gegen - »Doktor des Himmels und der Erde!« rief sie,
und nach alter Gewohnheit ergriff sie meine beiden
Ohrlappen und küßte mich mit der drolligsten Herz-
lichkeit.
»Wie geht's, Wahnsinnigster der Sterblichen! Wie
glücklich bin ich, Sie wiederzusehen! Denn ich werde
nirgends auf dieser weiten Welt einen verrückteren
Menschen finden. Narren und Dummköpfe gibt es
genug, und man erzeigt ihnen oft die Ehre, sie für ver-
rückt zu halten; aber die wahre Verrücktheit ist so sel-
ten wie die wahre Weisheit, sie ist vielleicht gar
nichts anderes als Weisheit, die sich geärgert hat, daß
sie alles weiß, alle Schändlichkeiten dieser Welt, und
die deshalb den weisen Entschluß gefaßt hat, verrückt
zu werden. Die Orientalen sind ein gescheutes Volk,
sie verehren einen Verrückten wie einen Propheten,
wir aber halten jeden Propheten für verrückt.«
»Aber, Mylady, warum haben Sie mir nicht ge-
schrieben?«
»Gewiß, Doktor, ich schrieb Ihnen einen langen
Brief und bemerkte auf der Adresse: ›Abzugeben in
Neu-Bedlam.‹ Da Sie aber, gegen alle Vermutung,
nicht dort waren, so schickte man den Brief nach St.
Luze, und da Sie auch hier nicht waren, so ging er
weiter nach einer ähnlichen Anstalt, und so machte er
die Ronde durch alle Tollhäuser Englands, Schott-
lands und Irlands, bis man ihn mir zurückschickte mit
der Bemerkung, daß der Gentleman, den die Adresse
bezeichne, noch nicht eingefangen sei. Und in der Tat,
wie haben Sie es angefangen, daß Sie immer noch auf
freien Füßen sind?«
»Hab's pfiffig angefangen, Mylady. Überall, wohin
ich kam, wußt ich mich um die Tollhäuser herumzu-
schleichen, und ich denke, es wird mir auch in Italien
gelingen.«
»Oh, Freund, hier sind Sie ganz sicher; denn er-
stens ist gar kein Tollhaus in der Nähe, und zweitens
haben wir hier die Oberhand.«
»Wir? Mylady! Sie zählen sich also zu den Unse-
ren? Erlauben Sie, daß ich Ihnen den Bruderkuß auf
die Stirne drücke.«
»Ach! ich meine wir Badegäste, worunter ich wahr-
lich noch die Vernünftigste bin - Und nun machen
Sie sich leicht einen Begriff von der Verrücktesten,
nämlich von Julie Maxfield, die beständig behauptet,
grüne Augen bedeuten den Frühling der Seele; dann
haben wir noch zwei junge Schönheiten -«
»Gewiß englische Schönheiten, Mylady -«
»Doktor, was bedeutet dieser spöttische Ton? Die
gelbfettigen Makkaronigesichter in Italien müssen
Ihnen so gut schmecken, daß Sie keinen Sinn mehr
haben für britische -«
»Plumpuddings mit Rosinenaugen, Roastbeefbusen
festoniert mit weißen Meerrettichstreifen, stolze Pa-
steten -«
»Es gab eine Zeit, Doktor, wo Sie jedesmal in Ver-
zückung gerieten, wenn Sie eine schöne Engländerin
sahen -«
»Ja, das war damals! Ich bin noch immer nicht ab-
geneigt, Ihren Landsmänninnen zu huldigen; sie sind
schön wie Sonnen, aber Sonnen von Eis, sie sind
weiß wie Marmor, aber auch marmorkalt - auf ihren
kalten Herzen erfrieren die armen -«
»Oho, ich kenne einen - der dort nicht erfroren ist
und frisch und gesund übers Meer gesprungen, und es
war ein großer, deutscher, impertinenter -«
»Er hat sich wenigstens an den britisch frostigen
Herzen so stark erkältet, daß er noch jetzt davon den
Schnupfen hat.«
Mylady schien pikiert über diese Antwort, sie er-
griff die Reitgerte, die zwischen den Blättern eines
Romans, als Lesezeichen, lag, schwang sie um die
Ohren ihres weißen Jagdhundes, der leise knurrte, hob
hastig ihren Hut von der Erde, setzte ihn keck aufs
Lockenhaupt, sah ein paarmal wohlgefällig in den
Spiegel und sprach stolz: »Ich bin noch schön!« Aber
plötzlich, wie von einem dunkeln Schmerzgefühl
durchschauert, blieb sie sinnend stehen, streifte lang-
sam ihren weißen Handschuh von der Hand, reichte
sie mir, und meine Gedanken pfeilschnell ertappend,
sprach sie: »Nicht wahr, diese Hand ist nicht mehr so
schön wie in Ramsgate? Mathilde hat unterdessen
viel gelitten!«
Lieber Leser, man kann es den Glocken selten an-
sehen, wo sie einen Riß haben, und nur an ihrem
Tone merkt man ihn. Hättest du nun den Klang der
Stimme gehört, womit obige Worte gesprochen wur-
den, so wüßtest du gleich, Myladys Herz ist eine
Glocke vom besten Metall, aber ein verborgener Riß
dämpft wunderbar ihre heitersten Töne und umschlei-
ert sie gleichsam mit heimlicher Trauer. Doch ich
liebe solche Glocken, sie finden immer ein gutes Echo
in meiner eignen Brust; und ich küßte Myladys Hand
fast inniger als ehemals, obgleich sie minder vollblü-
hend war und einige Adern etwas allzu blau hervor-
tretend, mir ebenfalls zu sagen schienen: »Mathilde
hat unterdessen viel gelitten.«
Ihr Auge sah mich an wie ein wehmütig einsamer
Stern am herbstlichen Himmel, und weich und innig
sprach sie: »Sie scheinen mich wenig mehr zu lieben,
Doktor! Denn nur mitleidig fiel eben Ihre Träne auf
meine Hand, fast wie ein Almosen.«
»Wer heißt Sie die stumme Sprache meiner Tränen
so dürftig ausdeuten? Ich wette, der weiße Jagdhund,
der sich jetzt an Sie schmiegt, versteht mich besser; er
schaut mich an und dann wieder Sie und scheint sich
zu wundern, daß die Menschen, die stolzen Herren
der Schöpfung, innerlich so tief elend sind. Ach, My-
lady, nur der verwandte Schmerz entlockt uns die
Träne, und jeder weint eigentlich für sich selbst.«
»Genug, genug, Doktor. Es ist wenigstens gut, daß
wir Zeitgenossen sind und in demselben Erdwinkel
uns gefunden mit unseren närrischen Tränen. Ach des
Unglücks! wenn Sie vielleicht zweihundert Jahre frü-
her gelebt hätten, wie es mir mit meinem Freunde Mi-
chael de Cervantes Saavedra begegnet, oder gar, wenn
Sie hundert Jahre später auf die Welt gekommen
wären als ich, wie ein anderer intimer Freund von mir,
dessen Namen ich nicht einmal weiß, eben weil er ihn
erst bei seiner Geburt, Anno 1900, erhalten wird!
Aber erzählen Sie doch, wie haben Sie gelebt, seit wir
uns nicht gesehen?«
»Ich trieb mein gewöhnliches Geschäft, Mylady;
ich rollte wieder den großen Stein. Wenn ich ihn bis
zur Hälfte des Berges gebracht, dann rollte er plötz-
lich hinunter, und ich mußte wieder suchen, ihn hin-
aufzurollen - und dieses Bergauf- und Bergabrollen
wird sich so lange wiederholen, bis ich selbst unter
dem großen Steine liegenbleibe und Meister Stein-
metz mit großen Buchstaben darauf schreibt: ›Hier
ruht in Gott‹ -«
»Beileibe, Doktor, ich lasse Ihnen noch keine
Ruhe - Sein Sie nur nicht melancholisch! Lachen Sie,
oder ich -«
»Nein, kitzeln Sie nicht; ich will lieber von selbst
lachen.«
»So recht. Sie gefallen mir noch ebensogut wie in
Ramsgate, wo wir uns zuerst nahekamen -«
»Und endlich noch näher als nah. Ja, ich will lustig
sein. Es ist gut, daß wir uns wiedergefunden, und der
große deutsche... wird sich wieder ein Vergnügen dar-
aus machen, sein Leben bei Ihnen zu wagen.«
Myladys Augen lachten wie Sonnenschein nach lei-
sem Regenschauer, und ihre gute Laune brach wieder
leuchtend hervor, als John hereintrat und mit dem
steifsten Lakaienpathos Seine Exzellenz den Marche-
se Christophoro di Gumpelino anmeldete.
»Er sei willkommen! Und Sie, Doktor, werden
einen Pair unseres Narrenreichs kennenlernen. Stoßen
Sie sich nicht an sein Äußeres, besonders nicht an
seine Nase. Der Mann besitzt vortreffliche Eigen-
schaften, z.B. viel Geld, gesunden Verstand und die
Sucht, alle Narrheiten der Zeit in sich aufzunehmen;
dazu ist er in meine grünäugige Freundin Julie Max-
field verliebt und nennt sie seine Julia und sich ihren
Romeo und deklamiert und seufzt - und Lord Max-
field, der Schwager, dem die treue Julia von ihrem
Manne anvertraut worden, ist ein Argus -«
Schon wollte ich bemerken, daß Argus eine Kuh
bewachte, als die Türe sich weit öffnete und, zu mei-
nem höchsten Erstaunen, mein alter Freund, der Ban-
kier Christian Gumpel, mit seinem wohlhabenden Lä-
cheln und gottgefälligem Bauche, hereinwatschelte.
Nachdem seine glänzenden breiten Lippen sich an
Myladys Hand genugsam gescheuert und übliche Ge-
sundheitsfragen hervorgebrockt hatten, erkannte er
auch mich - und in die Arme sanken sich die Freun-
de.
Kapitel II
Mathildens Warnung, daß ich mich an die Nase des
Mannes nicht stoßen solle, war hinlänglich gegründet,
und wenig fehlte, so hätte er mir wirklich ein Auge
damit ausgestochen. Ich will nichts Schlimmes von
dieser Nase sagen; im Gegenteil, sie war von der edel-
sten Form, und sie eben berechtigte meinen Freund,
sich wenigstens einen Marchesetitel beizulegen. Man
konnte es ihm nämlich an der Nase ansehen, daß er
von gutem Adel war, daß er von einer uralten Weltfa-
milie abstammte, womit sich sogar einst der liebe
Gott, ohne Furcht vor Mesalliance, verschwägert hat.
Seitdem ist diese Familie freilich etwas herunterge-
kommen, so daß sie seit Karl dem Großen, meistens
durch den Handel mit alten Hosen und Hamburger
Lotteriezetteln, ihre Subsistenz erwerben mußte, ohne
jedoch im mindesten von ihrem Ahnenstolze abzulas-
sen oder jemals die Hoffnung aufzugeben, einst wie-
der ihre alten Güter oder wenigstens hinreichende
Emigrantenentschädigung zu erhalten, wenn ihr alter
legitimer Souverän sein Restaurationsversprechen er-
füllt, ein Versprechen, womit er sie schon zwei
Jahrtausende an der Nase herumgeführt. Sind viel-
leicht ihre Nasen eben durch dieses lange An-der-
Nase-Herumgeführtwerden so lang geworden? Oder
sind diese langen Nasen eine Art Uniform, woran der
Gottkönig Jehova seine alten Leibgardisten erkennt,
selbst wenn sie desertiert sind? Der Marchese Gum-
pelino war ein solcher Deserteur, aber er trug noch
immer seine Uniform, und sie war sehr brillant, besäet
mit Kreuzchen und Sternchen von Rubinen, einem
roten Adlerorden in Miniatur und anderen Dekoratio-
nen.
»Sehen Sie«, sagte Mylady, »das ist meine Lieb-
lingsnase, und ich kenne keine schönere Blume auf
dieser Erde.«
»Diese Blume«, schmunzlächelte Gumpelino,
»kann ich Ihnen nicht an den schönen Busen legen,
ohne daß ich mein blühendes Antlitz hinzulege, und
diese Beilage würde Sie vielleicht in der heutigen
Hitze etwas genieren. Aber ich bringe Ihnen eine
nicht minder köstliche Blume, die hier selten ist -«
Bei diesen Worten öffnete der Marchese die fließ-
papierne Tüte, die er mitgebracht, und mit langsamer
Sorgfalt zog er daraus hervor eine wunderschöne
Tulpe.
Kaum erblickte Mylady diese Blume, so schrie sie
aus vollem Halse: »Morden! morden! wollen Sie mich
morden? Fort, fort mit dem schrecklichen Anblick!«
Dabei gebärdete sie sich, als wolle man sie umbrin-
gen, hielt sich die Hände vor die Augen, rannte unsin-
nig im Zimmer umher, verwünschte Gumpelinos Nase
und Tulpe, klingelte, stampfte den Boden, schlug den
Hund mit der Reitgerte, daß er laut aufbellte, und als
John hereintrat, rief sie, wie Kean als König Richard:
»Ein Pferd! ein Pferd!
Ein Königtum für ein Pferd!«
und stürmte, wie ein Wirbelwind, von dannen.
»Eine kuriose Frau!« sprach Gumpelino, vor Er-
staunen bewegungslos und noch immer die Tulpe in
der Hand haltend, so daß er einem jener Götzenbilder
glich, die, mit Lotosblumen in den Händen, auf altin-
dischen Denkmälern zu schauen sind. Ich aber kannte
die Dame und ihre Idiosynkrasie weit besser, mich er-
götzte dieses Schauspiel über alle Maßen, ich öffnete
das Fenster und rief: »Mylady, was soll ich von Ihnen
denken? Ist das Vernunft, Sitte - besonders, ist das
Liebe?«
Da lachte herauf die wilde Antwort:
»Wenn ich zu Pferde bin, so will ich schwören:
Ich liebe dich unendlich.«
Kapitel III
»Eine kuriose Frau!« wiederholte Gumpelino, als
wir uns auf den Weg machten, seine beiden Freundin-
nen, Signora Lätitia und Signora Franscheska, deren
Bekanntschaft er mir verschaffen wollte, zu besuchen.
Da die Wohnung dieser Damen auf einer etwas ent-
fernten Anhöhe lag, so erkannte ich um so dankbarer
die Güte meines wohlbeleibten Freundes, der das
Bergsteigen etwas beschwerlich fand und auf jedem
Hügel atemschöpfend stehenblieb und »O Jesu!«
seufzte.
Die Wohnungen in den Bädern von Lucca nämlich
sind entweder unten in einem Dorfe, das von hohen
Bergen umschlossen ist, oder sie liegen auf einem die-
ser Berge selbst, unfern der Hauptquelle, wo eine pit-
toreske Häusergruppe in das reizende Tal hinab-
schaut. Einige liegen aber auch einzeln zerstreut an
den Bergesabhängen, und man muß mühsam hinauf-
klimmen durch Weinreben, Myrtengesträuch, Geiß-
blatt, Lorbeerbüsche, Oleander, Geranikum und andre
vornehme Blumen und Pflanzen, ein wildes Paradies.
Ich habe nie ein reizenderes Tal gesehen, besonders
wenn man von der Terrasse des oberen Bades, wo die
ernstgrünen Zypressen stehen, ins Dorf hinabschaut.
Man sieht dort die Brücke, die über ein Flüßchen
führt, welches Lima heißt und, das Dorf in zwei Teile
durchschneidend, an beiden Enden in mäßigen Was-
serfällen über Felsenstücke dahinstürzt und ein Ge-
räusch hervorbringt, als wolle es die angenehmsten
Dinge sagen und könne vor dem allseitig plaudernden
Echo nicht zu Worten kommen.
Der Hauptzauber dieses Tales liegt aber gewiß in
dem Umstand, daß es nicht zu groß ist und nicht zu
klein, daß die Seele des Beschauers nicht gewaltsam
erweitert wird, vielmehr sich ebenmäßig mit dem
herrlichen Anblick füllt, daß die Häupter der Berge
selbst, wie die Apenninen überall, nicht abenteuerlich
gotisch erhaben mißgestaltet sind, gleich den Bergka-
rikaturen, die wir ebensowohl wie die Menschenkari-
katuren in germanischen Ländern finden, sondern daß
ihre edelgeründeten, heiter grünen Formen fast eine
Kunstzivilisation aussprechen und gar melodisch mit
dem blaßblauen Himmel zusammenklingen.
»O Jesu!« ächzte Gumpelino, als wir, mühsamen
Steigens und von der Morgensonne schon etwas stark
gewärmt, oberwähnte Zypressenhöhe erreichten und,
ins Dorf hinabschauend, unsere englische Freundin,
hoch zu Roß, wie ein romantisches Märchenbild, über
die Brücke jagen und ebenso traumschnell wieder ver-
schwinden sahen. »O Jesu! welch eine kuriose Frau«,
wiederholte einigemal der Marchese. »In meinem ge-
meinen Leben ist mir noch keine solche Frau vorge-
kommen. Nur in Komödien findet man dergleichen,
und ich glaube, z.B. die Holzbecher würde die Rolle
gut spielen. Sie hat etwas von einer Nixe. Was den-
ken Sie?«
»Ich denke, Sie haben recht, Gumpelino. Als ich
mit ihr von London nach Rotterdam fuhr, sagte der
Schiffskapitän, sie gliche einer mit Pfeffer bestreuten
Rose. Zum Dank für diese pikante Vergleichung
schüttete sie eine ganze Pfefferbüchse auf seinen Kopf
aus, als sie ihn einmal in der Kajüte eingeschlummert
fand, und man konnte sich dem Manne nicht mehr nä-
hern, ohne zu niesen.«
»Eine kuriose Frau!« sprach wieder Gumpelino.
»So zart wie weiße Seide und ebenso stark und sitzt
zu Pferde ebensogut wie ich. Wenn sie nur nicht ihre
Gesundheit zugrunde reitet. Sahen Sie nicht eben den
langen, magern Engländer, der auf seinem magern
Gaul hinter ihr herjagte wie die galoppierende
Schwindsucht? Das Volk reitet zu leidenschaftlich,
gibt alles Geld in der Welt für Pferde aus. Lady Max-
fields Schimmel kostet dreihundert goldne, lebendige
Louisdore - ach! und die Louisdore stehen so hoch
und steigen noch täglich.«
»Ja, die Louisdor werden noch so hoch steigen, daß
ein armer Gelehrter, wie unsereiner, sie gar nicht mehr
wird erreichen können.«
»Sie haben keinen Begriff davon, Herr Doktor,
wieviel Geld ich ausgeben muß, und dabei behelfe ich
mich mit einem einzigen Bedienten, und nur wenn ich
in Rom bin, halte ich mir einen Kapellan für meine
Hauskapelle. Sehen Sie, da kommt mein Hyazinth.«
Die kleine Gestalt, die in diesem Augenblick bei
der Windung eines Hügels zum Vorschein kam, hätte
vielmehr den Namen einer Feuerlilie verdient. Es war
ein schlotternd weiter Scharlachrock, überladen mit
Goldtressen, die im Sonnenglanze strahlten, und aus
dieser roten Pracht schwitzte ein Köpfchen hervor,
das mir sehr wohlbekannt zunickte. Und wirklich, als
ich das bläßlich besorgliche Gesichtchen und die ge-
schäftig zwinkenden Äuglein näher betrachtete, er-
kannte ich jemanden den ich eher auf dem Berg Sinai
als auf den Apenninen erwartet hätte, und das war
kein anderer als Herr Hirsch, Schutzbürger in Ham-
burg, ein Mann, der nicht bloß immer ein sehr ehrli-
cher Lotteriekollekteur gewesen, sondern sich auch
auf Hühneraugen und Juwelen versteht, dergestalt,
daß er erstere von letzteren nicht bloß zu unterschei-
den weiß, sondern auch die Hühneraugen ganz ge-
schickt auszuschneiden und die Juwelen ganz genau
zu taxieren weiß.
»Ich bin guter Hoffnung«, sprach er, als er mir
näher kam, »daß Sie mich noch kennen, obgleich ich
nicht mehr Hirsch heiße. Ich heiße jetzt Hyazinth und
bin der Kammerdiener des Herrn Gumpel.«
»Hyazinth!« rief dieser in staunender Aufwallung
über die Indiskretion des Dieners.
»Sein Sie nur ruhig, Herr Gumpel oder Herr Gum-
pelino oder Herr Marchese oder Eure Eccellenza, wir
brauchen uns gar nicht vor diesem Herrn zu genieren,
der kennt mich, hat manches Los bei mir gespielt, und
ich möcht sogar drauf schwören, er ist mir von der
letzten Renovierung noch sieben Mark neun Schilling
schuldig - Ich freue mich wirklich, Herr Doktor, Sie
hier wiederzusehen. Haben Sie hier ebenfalls Vergnü-
gungsgeschäfte? Was sollte man sonst hier tun in die-
ser Hitze, und wo man noch dazu bergauf und bergab
steigen muß. Ich bin hier des Abends so müde, als
wäre ich zwanzigmal vom Altonaer Tore nach dem
Steintor gelaufen, ohne was dabei verdient zu haben.«
»O Jesu!« rief der Marchese, »schweig, schweig!
Ich schaffe mir einen andern Bedienten an.«
»Warum schweigen?« versetzte Hirsch Hyazinthos,
»ist es mir doch lieb, wenn ich mal wieder gutes
Deutsch sprechen kann mit einem Gesichte, das ich
schon einmal in Hamburg gesehen, und denke ich an
Hamburg -«
Hier, bei der Erinnerung an sein kleines Stiefvater-
ländchen, wurden des Mannes Äuglein flimmernd
feucht, und seufzend sprach er: »Was ist der Mensch!
Man geht vergnügt vor dem Altonaer Tore, auf dem
Hamburger Berg, spazieren und besieht dort die
Merkwürdigkeiten, die Löwen, die Gevögel, die
Papagoyim, die Affen, die ausgezeichneten Menschen,
und man läßt sich Karussell fahren oder elektrisieren,
und man denkt, was würde ich erst für Vergnügen
haben an einem Orte, der noch zweihundert Meilen
von Hamburg weiter entfernt ist, in dem Lande, wo
die Zitronen und Orangen wachsen, in Italien! Was ist
der Mensch! Ist er vor dem Altonaer Tore, so möchte
er gern in Italien sein, und ist er in Italien, so möchte
er wieder vor dem Altonaer Tore sein! Ach, stände ich
dort wieder und sähe wieder den Michaelisturm und
oben daran die Uhr mit den großen goldnen Zahlen
auf dem Zifferblatt, die großen goldnen Zahlen, die
ich so oft des Nachmittags betrachtete, wenn sie so
freundlich in der Sonne glänzten - ich hätte sie oft
küssen mögen. Ach, ich bin jetzt in Italien, wo die Zi-
tronen und Orangen wachsen; wenn ich aber die Zi-
tronen und Orangen wachsen sehe, so denk ich an den
Steinweg zu Hamburg, wo sie, ganzer Karren voll,
gemächlich aufgestapelt liegen und wo man sie ruhig
genießen kann, ohne daß man nötig hat, so viele Ge-
fahrberge zu besteigen und soviel Hitzwärme auszu-
stehen. So wahr mir Gott helfe, Herr Marchese, wenn
ich es nicht der Ehre wegen getan hätte und wegen der
Bildung, so wäre ich Ihnen nicht hierher gefolgt. Aber
das muß man Ihnen nachsagen, man hat Ehre bei
Ihnen und bildet sich.«
»Hyazinth!« sprach jetzt Gumpelino, der durch
diese Schmeichelei etwas besänftigt worden, »Hya-
zinth, geh jetzt zu -«
»Ich weiß schon -«
»Du weißt nicht, sage ich dir, Hyazinth -«
»Ich sag Ihnen, Herr Gumpel, ich weiß. Ew. Exzel-
lenz schicken mich jetzt zu der Lady Maxfield - Mir
braucht man gar nichts zu sagen. Ich weiß Ihre Ge-
danken, die Sie noch gar nicht gedacht und vielleicht
Ihr Lebtag gar nicht denken werden. Einen Bedienten
wie mich bekommen Sie nicht so leicht - und ich tu
es der Ehre wegen und der Bildung wegen, und wirk-
lich, man hat Ehre bei Ihnen und bildet sich -« Bei
diesem Worte putzte er sich die Nase mit einem sehr
weißen Taschentuche.
»Hyazinth«, sprach der Marchese, »du gehst jetzt
zu der Lady Julie Maxfield, zu meiner Julia, und
bringst ihr diese Tulpe - nimm sie in acht, denn sie
kostet fünf Paoli - und sagst ihr -«
»Ich weiß schon -«
»Du weißt nichts. Sag ihr: ›Die Tulpe ist unter den
Blumen‹ -«
»Ich weiß schon, Sie wollen ihr etwas durch die
Blume sagen. Ich habe für so manches Lotterielos in
meiner Kollekte selbst eine Devise gemacht -«
»Ich sage dir, Hyazinth, ich will keine Devise von
dir. Bringe diese Blume an Lady Maxfield und sage
ihr:
›Die Tulpe ist unter den Blumen,
Was unter den Käsen der Stracchino;
Doch mehr als Blumen und Käse
Verehrt dich Gumpelino!‹«
»So wahr mir Gott alles Gut's gebe, das ist gut!«
rief Hyazinth. »Winken Sie mir nicht, Herr Marchese,
was Sie wissen, das weiß ich, und was ich weiß, das
wissen Sie. Und Sie, Herr Doktor, leben Sie wohl!
Um die Kleinigkeit mahne ich Sie nicht.« Bei diesen
Worten stieg er den Hügel wieder hinab und murmel-
te beständig: »Gumpelino Stracchino - Stracchino
Gumpelino -«
»Es ist ein treuer Mensch« - sagte der Marchese -,
»sonst hätte ich ihn längst abgeschafft wegen seines
Mangels an Etikette. Vor Ihnen hat das nichts zu be-
deuten. Sie verstehen mich. Wie gefällt Ihnen seine
Livree? Es sind noch für vierzig Taler mehr Tressen
dran als an der Livree von Rothschilds Bedienten. Ich
habe innerlich mein Vergnügen, wie sich der Mensch
bei mir perfektioniert. Dann und wann gebe ich ihm
selbst Unterricht in der Bildung. Ich sage ihm oft:
›Was ist Geld? Geld ist rund und rollt weg, aber Bil-
dung bleibt.‹ Ja, Herr Doktor, wenn ich, was Gott
verhüte, mein Geld verliere, so bin ich doch noch
immer ein großer Kunstkenner, ein Kenner von Male-
rei, Musik und Poesie. Sie sollen mir die Augen
zubinden und mich in der Galerie zu Florenz herum-
führen, und bei jedem Gemälde, vor welches Sie mich
hinstellen, will ich Ihnen den Maler nennen, der es ge-
malt hat, oder wenigstens die Schule, wozu dieser
Maler gehört. Musik? Verstopfen Sie mir die Ohren,
und ich höre doch jede falsche Note. Poesie? Ich
kenne alle Schauspielerinnen Deutschlands, und die
Dichter weiß ich auswendig. Und gar Natur! Ich bin
zweihundert Meilen gereist, Tag und Nacht durch, um
in Schottland einen einzigen Berg zu sehen. Italien
aber geht über alles. Wie gefällt Ihnen hier diese Na-
turgegend? Welche Schöpfung! Sehen Sie mal die
Bäume, die Berge, den Himmel, da unten das Was-
ser - ist nicht alles wie gemalt? Haben Sie es je im
Theater schöner gesehen? Man wird sozusagen ein
Dichter! Verse kommen einem in den Sinn, und man
weiß nicht woher: -
Schweigend, in der Abenddämmrung Schleier,
Ruht die Flur, das Lied der Haine stirbt;
Nur daß hier im alternden Gemäuer
Melancholisch noch ein Heimchen zirpt.«
Diese erhabenen Worte deklamierte der Marchese
mit überschwellender Rührung, indem er, wie ver-
klärt, in das lachende, morgenhelle Tal hinabschaute.
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