Kapitel
I - X
Das Geschlecht der Örindur,
Unsres Thrones feste Säule,
Soll bestehn, ob die Natur
Auch damit zu Ende eile.
Müllner
Evelina empfange diese Blätter
als ein Zeichen der Freundschaft und
Liebe des Verfassers
Kapitel I
Sie war liebenswürdig, und er liebte sie; er aber
war nicht liebenswürdig, und sie liebte ihn nicht.
Altes Stück
Madame, kennen Sie das alte Stück? Es ist ein
ganz außerordentliches Stück, nur etwas zu sehr me-
lancholisch. Ich hab mal die Hauptrolle darin ge-
spielt, und da weinten alle Damen, nur eine einzige
weinte nicht, nicht eine einzige Träne weinte sie, und
das war eben die Pointe des Stücks, die eigentliche
Katastrophe -
O diese einzige Träne! sie quält mich noch immer
in Gedanken; der Satan, wenn er meine Seele verder-
ben will, flüstert mir ins Ohr ein Lied von dieser un-
geweinten Träne, ein fatales Lied mit einer noch fata-
leren Melodie - ach, nur in der Hölle hört man diese
Melodie! - - - - - - - - -
Wie man im Himmel lebt, Madame, können Sie
sich wohl vorstellen, um so eher, da Sie verheuratet
sind. Dort amüsiert man sich ganz süperbe, man hat
alle mögliche Vergnügungen, man lebt in lauter Lust
und Pläsier, so recht wie Gott in Frankreich. Man
speist von Morgen bis Abend, und die Küche ist so
gut wie die Jagorsche, die gebratenen Gänse fliegen
herum mit den Sauceschüsselchen im Schnabel und
fühlen sich geschmeichelt, wenn man sie verzehrt,
butterglänzende Torten wachsen wild wie Sonnenblu-
men, überall Bäche mit Bouillon und Champagner,
überall Bäume, woran Servietten flattern, und man
speist und wischt sich den Mund und speist wieder,
ohne sich den Magen zu verderben, man singt Psal-
men, oder man tändelt und schäkert mit den lieben,
zärtlichen Engelein, oder man geht spazieren auf der
grünen Hallelujawiese, und die weißwallenden Klei-
der sitzen sehr bequem, und nichts stört da das Gefühl
der Seligkeit, kein Schmerz, kein Mißbehagen, ja
sogar, wenn einer dem andern zufällig auf die
Hühneraugen tritt und »Excusez!« ausruft, so lächelt
dieser wie verklärt und versichert: »Dein Tritt, Bru-
der, schmerzt nicht, sondern, au contraire, mein Herz
fühlt dadurch nur desto süßere Himmelswonne.«
Aber von der Hölle, Madame, haben Sie gar keine
Idee. Von allen Teufeln kennen Sie vielleicht nur den
kleinsten, das Beelzebübchen Amor, den artigen
Croupier der Hölle, und diese selbst kennen Sie nur
aus dem »Don Juan«, und für diesen Weiberbetrüger,
der ein böses Beispiel gibt, dünkt sie Ihnen niemals
heiß genug, obgleich unsere hochlöblichen Theater
direktionen soviel Flammenspektakel, Feuerregen,
Pulver und Kolophonium dabei aufgehen lassen, wie
es nur irgend ein guter Christ in der Hölle verlangen
kann.
Indessen, in der Hölle sieht es viel schlimmer aus,
als unsere Theaterdirektoren wissen - sie würden
auch sonst nicht so viele schlechte Stücke aufführen
lassen -, in der Hölle ist es ganz höllisch heiß, und
als ich mal in den Hundstagen dort war, fand ich es
nicht zum Aushalten. Sie haben keine Idee von der
Hölle, Madame. Wir erlangen dorther wenig offizielle
Nachrichten. Daß die armen Seelen da drunten den
ganzen Tag all die schlechten Predigten lesen müssen,
die hier oben gedruckt werden - das ist Verleumdung.
So schlimm ist es nicht in der Hölle, so raffinierte
Qualen wird Satan niemals ersinnen. Hingegen
Dantes Schilderung ist etwas zu mäßig, im ganzen
allzu poetisch. Mir erschien die Hölle wie eine große
bürgerliche Küche, mit einem unendlich langen Ofen,
worauf drei Reihen eiserne Töpfe standen, und in die-
sen saßen die Verdammten und wurden gebraten. In
der einen Reihe saßen die christlichen Sünder, und,
sollte man es wohl glauben! ihre Anzahl war nicht
allzu klein, und die Teufel schürten unter ihnen das
Feuer mit besonderer Geschäftigkeit. In der anderen
Reihe saßen die Juden, die beständig schrien und von
den Teufeln zuweilen geneckt wurden, wie es sich
denn gar possierlich ausnahm, als ein dicker,
pustender Pfänderverleiher über allzu große Hitze
klagte und ein Teufelchen ihm einige Eimer kaltes
Wasser über den Kopf goß, damit er sähe, daß die
Taufe eine wahre erfrischende Wohltat sei. In der drit-
ten Reihe saßen die Heiden, die, ebenso wie die
Juden, der Seligkeit nicht teilhaftig werden können
und ewig brennen müssen. Ich hörte, wie einer dersel-
ben, dem ein vierschrötiger Teufel neue Kohlen unter-
legte, gar unwillig aus dem Topfe hervorrief: »Schone
meiner, ich war Sokrates, der weiseste der Sterbli-
chen, ich habe Wahrheit und Gerechtigkeit gelehrt
und mein Leben geopfert für die Tugend.« Aber der
vierschrötige, dumme Teufel ließ sich in seinem Ge-
schäfte nicht stören und brummte: »Ei was! alle Hei-
den müssen brennen, und wegen eines einzigen
Menschen dürfen wir keine Ausnahme machen.« --
Ich versichere Sie, Madame, es war eine fürchterliche
Hitze und ein Schreien, Seufzen, Stöhnen, Quäken,
Greinen, Quirilieren - und durch all diese entsetzli-
chen Töne drang vernehmbar jene fatale Melodie des
Liedes von der ungeweinten Träne.
Kapitel II
Sie war liebenswürdig, und er liebte sie; er aber
war nicht liebenswürdig, und sie liebte ihn nicht.
Altes Stück
Madame! das alte Stück ist eine Tragödie, obschon
der Held darin weder ermordet wird noch sich selbst
ermordet. Die Augen der Heldin sind schön, sehr
schön - Madame, riechen Sie nicht Veilchenduft? -,
sehr schön und doch so scharfgeschliffen, daß sie mir
wie gläserne Dolche durch das Herz drangen und
gewiß aus meinem Rücken wieder herausguckten -
aber ich starb doch nicht an diesen meuchelmörderi-
schen Augen. Die Stimme der Heldin ist auch schön -
Madame, hörten Sie nicht eben eine Nachtigall schla-
gen? -, eine schöne, seidne Stimme, ein süßes Ge-
spinst der sonnigsten Töne, und meine Seele ward
darin verstrickt und würgte sich und quälte sich. Ich
selbst - es ist der Graf vom Ganges, der jetzt spricht,
und die Geschichte spielt in Venedig -, ich selbst
hatte mal der gleichen Quälereien satt, und ich dachte
schon im ersten Akte dem Spiel ein Ende zu machen
und die Schellenkappe mitsamt dem Kopfe herunter-
zuschießen, und ich ging nach einem Galanterieladen
auf der Via Burstah, wo ich ein Paar schöne Pistolen
in einem Kasten ausgestellt fand - ich erinnere mich
dessen noch sehr gut, es standen daneben viel freudi-
ge Spielsachen von Perlemutter und Gold, eiserne
Herzen an güldenen Kettlein, Porzellantassen mit
zärtlichen Devisen, Schnupftabaksdosen mit hüb-
schen Bildern, z.B. die göttliche Geschichte von der
Susanna, der Schwanengesang der Leda, der Raub der
Sabinerinnen, die Lucretia, das dicke Tugendmensch
mit dem entblößten Busen, in den sie sich den Dolch
nachträglich hineinstößt, die selige Bethmann, La
belle ferroniere, lauter lockende Gesichter - aber ich
kaufte doch die Pistolen, ohne viel zu dingen, und
dann kauft ich Kugeln, dann Pulver, und dann ging
ich in den Keller des Signor Unbescheiden und ließ
mir Austern und ein Glas Rheinwein vorstellen -
Essen konnt ich nicht und trinken noch viel weni-
ger. Die heißen Tropfen fielen ins Glas, und im Glas
sah ich die liebe Heimat, den blauen, heiligen Gan-
ges, den ewigstrahlenden Himalaja, die riesigen Ban-
janenwälder, in deren weiten Laubgängen die klugen
Elefanten und die weißen Pilger ruhig wandelten, selt-
sam träumerische Blumen sahen mich an, heimlich
mahnend, goldne Wundervögel jubelten wild, flim-
mernde Sonnenstrahlen und süßnärrische Laute von
lachenden Affen neckten mich lieblich, aus fernen Pa-
goden ertönten die frommen Priestergebete, und da-
zwischen klang die schmelzend klagende Stimme der
Sultanin von Delhi - in ihrem Teppichgemache rann-
te sie stürmisch auf und nieder, sie zerriß ihren silber-
nen Schleier, sie stieß zu Boden die schwarze Sklavin
mit dem Pfauenwedel, sie weinte, sie tobte, sie
schrie - Ich konnte sie aber nicht verstehen, der Kel-
ler des Signor Unbescheiden ist 3000 Meilen entfernt
vom Harem zu Delhi, und dazu war die schöne Sulta-
nin schon tot seit 3000 Jahren - und ich trank hastig
den Wein, den hellen, freudigen Wein, und doch
wurde es in meiner Seele immer dunkler und trauri-
ger - Ich war zum Tode verurteilt - - - - - - - - -
- - - - - - - - - - - - -
Als ich die Kellertreppe wieder hinaufstieg, hörte
ich das Armesünderglöckchen läuten, die Menschen-
menge wogte vorüber; ich aber stellte mich an die
Ecke der Strada San Giovanni und hielt folgenden
Monolog:
»In alten Märchen gibt es goldne Schlösser,
Wo Harfen klingen, schöne Jungfraun tanzen,
Und schmucke Diener blitzen, und Jasmin
Und Myrt' und Rosen ihren Duft verbreiten -
Und doch ein einziges Entzaubrungswort
Macht all die Herrlichkeit im Nu zerstieben,
Und übrig bleibt nur alter Trümmerschutt
Und krächzend Nachtgevögel und Morast.
So hab auch ich, mit einem einz'gen Worte,
Die ganze blühende Natur entzaubert.
Da liegt sie nun, leblos und kalt und fahl,
Wie eine aufgeputzte Königsleiche,
Der man die Backenknochen rot gefärbt
Und in die Hand ein Zepter hat gelegt.
Die Lippen aber schauen gelb und welk,
Weil man vergaß, sie gleichfalls rot zu schminken,
Und Mäuse springen um die Königsnase,
Und spotten frech des großen, goldnen Zepters.« -
Es ist allgemein rezipiert, Madame, daß man einen
Monolog hält, ehe man sich totschießt. Die meisten
Menschen benutzen bei solcher Gelegenheit das Ham-
letsche »Sein oder Nichtsein«. Es ist eine gute Stelle,
und ich hätte sie hier auch gern zitiert - aber jeder ist
sich selbst der Nächste, und hat man, wie ich, eben-
falls Tragödien geschrieben, worin solche Lebens-
abiturientenreden enthalten sind, z.B. den unsterbli-
chen »Almansor«, so ist es sehr natürlich, daß man
seinen eignen Worten, sogar vor den
Shakespeareschen, den Vorzug gibt. Auf jeden Fall
sind solche Reden ein sehr nützlicher Brauch; man
gewinnt dadurch wenigstens Zeit - Und so geschah
es, daß ich an der Ecke der Strada San Giovanni
etwas lange stehenblieb - und als ich da stand, ein
Verurteilter, der dem Tode geweiht war, da erblickte
ich plötzlich sie!
Sie trug ihr blauseidnes Kleid und den rosaroten
Hut, und ihr Auge sah mich an so mild, so todbesie-
gend, so lebenschenkend - Madame, Sie wissen wohl
aus der römischen Geschichte, daß, wenn die Vesta-
linnen im alten Rom auf ihrem Wege einem Verbre-
cher begegneten, der zur Hinrichtung geführt wurde,
so hatten sie das Recht, ihn zu begnadigen, und der
arme Schelm blieb am Leben. - Mit einem einzigen
Blick hat sie mich vom Tode gerettet, und ich stand
vor ihr wie neubelebt, wie geblendet vom Son-
nenglanze ihrer Schönheit, und sie ging weiter - und
ließ mich am Leben.
Kapitel III
Und sie ließ mich am Leben, und ich lebe, und das
ist die Hauptsache.
Mögen andre das Glück genießen, daß die Geliebte
ihr Grabmal mit Blumenkränzen schmückt und mit
Tränen der Treue benetzt - Oh, Weiber! haßt mich,
verlacht mich, bekorbt mich! aber laßt mich leben!
Das Leben ist gar zu spaßhaft süß; und die Welt ist
so lieblich verworren; sie ist der Traum eines weinbe-
rauschten Gottes, der sich aus der zechenden Götter-
versammlung à la francaise fortgeschlichen und auf
einem einsamen Stern sich schlafen gelegt und selbst
nicht weiß, daß er alles das auch erschafft, was er
träumt - und die Traumgebilde gestalten sich oft
buntscheckig toll, oft auch harmonisch vernünftig -
die »Ilias«, Plato, die Schlacht bei Marathon, Moses,
die Mediceische Venus, der Straßburger Münster, die
französische Revolution, Hegel, die Dampfschiffe
usw. sind einzelne gute Gedanken in diesem schaffen-
den Gottestraum - aber es wird nicht lange dauern,
und der Gott erwacht und reibt sich die verschlafenen
Augen und lächelt - und unsre Welt ist zerronnen in
nichts, ja, sie hat nie existiert.
Gleichviel, ich lebe. Bin ich auch nur das Schatten-
bild in einem Traum, so ist auch dieses besser als das
kalte, schwarze, leere Nichtsein des Todes. Das
Leben ist der Güter höchstes, und das schlimmste
Übel ist der Tod. Mögen berlinische Gardeleutnants
immerhin spötteln und es Feigheit nennen, daß der
Prinz von Homburg zurückschaudert, wenn er sein
offnes Grab erblickt - Heinrich Kleist hatte dennoch
ebensoviel Courage wie seine hochbrüstigen, wohlge-
schnürten Kollegen, und er hat es leider bewiesen.
Aber alle kräftige Menschen lieben das Leben. Goe-
thes Egmont scheidet nicht gern »von der freundlichen
Gewohnheit des Daseins und Wirkens«. Immermanns
Edwin hängt am Leben »wie 'n Kindlein an der Mut-
ter Brüsten«, und obgleich es ihm hart ankömmt,
durch fremde Gnade zu leben, so fleht er dennoch um
Gnade:
»Weil Leben, Atmen doch das Höchste ist.«
Wenn Odysseus in der Unterwelt den Achilleus als
Führer toter Helden sieht und ihn preist wegen seines
Ruhmes bei den Lebendigen und seines Ansehens
sogar bei den Toten, antwortet dieser:
»Nicht mir rede vom Tod ein Trostwort, edler Odysseus!
Lieber ja wollt' ich das Feld als Tagelöhner bestellen
Einem dürftigen Mann, ohn' Erbe und eigenen Wohlstand,
Als die sämtliche Schar der geschwundenen Toten beherrschen.«
Ja, als der Major Düvent den großen Israel Löwe
auf Pistolen forderte und zu ihm sagte: »Wenn Sie
sich nicht stellen, Herr Löwe, so sind Sie ein Hund«,
da antwortete dieser: »Ich will lieber ein lebendiger
Hund sein als ein toter Löwe!«, und er hatte recht -
Ich habe mich oft genug geschlagen, Madame, um
dieses sagen zu dürfen - Gottlob! ich lebe! In meinen
Adern kocht das rote Leben, unter meinen Füßen
zuckt die Erde, in Liebesglut umschlinge ich Bäume
und Marmorbilder, und sie werden lebendig in meiner
Umarmung. Jedes Weib ist mir eine geschenkte Welt,
ich schwelge in den Melodien ihres Antlitzes, und mit
einem einzigen Blick meines Auges kann ich mehr ge-
nießen als andre, mit ihren sämtlichen Gliedmaßen,
zeit ihres Lebens. Jeder Augenblick ist mir ja eine
Unendlichkeit; ich messe nicht die Zeit mit der Bra-
banter oder mit der kleinen Hamburger Elle, und ich
brauche mir von keinem Priester ein zweites Leben
versprechen zu lassen, da ich schon in diesem Leben
genug erleben kann, wenn ich rückwärts lebe, im
Leben der Vorfahren, und mir die Ewigkeit erobere
im Reiche der Vergangenheit.
Und ich lebe! Der große Pulsschlag der Natur bebt
auch in meiner Brust, und wenn ich jauchze, antwor-
tet mir ein tausendfältiges Echo. Ich höre tausend
Nachtigallen. Der Frühling hat sie gesendet, die Erde
aus ihrem Morgenschlummer zu wecken, und die Erde
schauert vor Entzücken, ihre Blumen sind die Hym-
nen, die sie in Begeisterung der Sonne entgegensingt
- die Sonne bewegt sich viel zu langsam, ich möchte
ihre Feuerrosse peitschen, damit sie schneller dahinja-
gen - Aber wenn sie zischend ins Meer hinabsinkt
und die große Nacht heraufsteigt mit ihrem großen
sehnsüchtigen Auge, oh! dann durchbebt mich erst
recht die rechte Lust, wie schmeichelnde Mädchen
legen sich die Abendlüfte an mein brausendes Herz,
und die Sterne winken, und ich erhebe mich und
schwebe über der kleinen Erde und den kleinen Ge-
danken der Menschen.
Kapitel IV
Aber einst wird kommen der Tag, und die Glut in
meinen Adern ist erloschen, in meiner Brust wohnt
der Winter, seine weißen Flocken umflattern spärlich
mein Haupt, und seine Nebel verschleiern mein Auge.
In verwitterten Gräbern liegen meine Freunde, ich al-
lein bin zurückgeblieben, wie ein einsamer Halm, den
der Schnitter vergessen, ein neues Geschlecht ist
hervorgeblüht mit neuen Wünschen und neuen Ge-
danken, voller Verwundrung höre ich neue Namen
und neue Lieder, die alten Namen sind verschollen,
und ich selbst bin verschollen, vielleicht noch von
wenigen geehrt, von vielen verhöhnt und von nieman-
den geliebt! Und es springen heran zu mir die rosen-
wangigen Knaben und drücken mir die alte Harfe in
die zitternde Hand und sprechen lachend: »Du hast
schon lange geschwiegen, du fauler Graukopf, sing
uns wieder Gesänge von den Träumen deiner Ju-
gend.«
Dann ergreif ich die Harfe, und die alten Freuden
und Schmerzen erwachen, die Nebel zerrinnen, Trä-
nen blühen wieder aus meinen toten Augen, es früh-
lingt wieder in meiner Brust, süße Töne der Wehmut
beben in den Saiten der Harfe, ich sehe wieder den
blauen Fluß und die marmornen Paläste und die schö-
nen Frauen- und Mädchengesichter - und ich singe
ein Lied von den Blumen der Brenta.
Es wird mein letztes Lied sein, die Sterne werden
mich anblicken wie in den Nächten meiner Jugend,
das verliebte Mondlicht küßt wieder meine Wangen,
die Geisterchöre verstorbener Nachtigallen flöten aus
der Ferne, schlaftrunken schließen sich meine Augen,
meine Seele verhallt wie die Töne meiner Harfe - es
duften die Blumen der Brenta.
Ein Baum wird meinen Grabstein beschatten. Ich
hätte gern eine Palme, aber diese gedeiht nicht im
Norden. Es wird wohl eine Linde sein, und sommer-
abends werden dort die Liebenden sitzen und kosen;
der Zeisig, der sich lauschend in den Zweigen wiegt,
ist verschwiegen, und meine Linde rauscht traulich
über den Häuptern der Glücklichen, die so glücklich
sind, daß sie nicht einmal Zeit haben, zu lesen, was
auf dem weißen Leichensteine geschrieben steht.
Wenn aber späterhin der Liebende sein Mädchen ver-
loren hat, dann kommt er wieder zu der wohlbekann-
ten Linde und seufzt und weint und betrachtet den
Leichenstein, lang und oft, und liest darauf die In-
schrift; - »Er liebte die Blumen der Brenta.«
Kapitel V
Madame! ich habe Sie belogen. Ich bin nicht der
Graf vom Ganges. Niemals im Leben sah ich den hei-
ligen Strom, niemals die Lotosblumen, die sich in sei-
nen frommen Wellen bespiegeln. Niemals lag ich
träumend unter indischen Palmen, niemals lag ich be-
tend vor dem Diamantengott zu Jagernaut, durch den
mir doch leicht geholfen wäre. Ich war ebensowenig
jemals in Kalkutta wie der Kalkutenbraten, den ich
gestern mittag gegessen. Aber ich stamme aus Hindo-
stan, und daher fühl ich mich so wohl in den breiten
Sangeswäldern Valmikis, die Heldenleiden des göttli-
chen Ramo bewegen mein Herz wie ein bekanntes
Weh, aus den Blumenliedern Kalidasas blühn mir
hervor die süßesten Erinnerungen, und als vor einigen
Jahren eine gütige Dame in Berlin mir die hübschen
Bilder zeigte, die ihr Vater, der lange Zeit Gouverneur
in Indien war, von dort mitgebracht, schienen mir die
zartgemalten, heiligstillen Gesichter so wohlbekannt,
und es war mir, als beschaute ich meine eigne Famili-
engalerie.
Franz Bopp - Madame, Sie haben gewiß seinen
»Nalus« und sein »Konjugationssystem des Sanskrit«
gelesen - gab mir manche Auskunft über meine Ahn-
herren, und ich weiß jetzt genau, daß ich aus dem
Haupte Brahmas entsprossen bin und nicht aus seinen
Hühneraugen; ich vermute sogar, daß der ganze »Ma-
habharata« mit seinen 200000 Versen bloß ein alle-
gorischer Liebesbrief ist, den mein Urahnherr an
meine Urältermutter geschrieben - Oh! sie liebten
sich sehr, ihre Seelen küßten sich, sie küßten sich mit
den Augen, sie waren beide nur ein einziger Kuß -
Eine verzauberte Nachtigall sitzt auf einem roten
Korallenbaum im Stillen Ozean und singt ein Lied
von der Liebe meiner Ahnen, neugierig blicken die
Perlen aus ihren Muschelzellen, die wunderbaren
Wasserblumen schauern vor Wehmut, die klugen
Meerschnecken, mit ihren bunten Porzellantürmchen
auf dem Rücken, kommen herangekrochen, die Seero-
sen erröten verschämt, die gelben, spitzigen Meer-
sterne und die tausendfarbigen gläsernen Quabben
regen und recken sich, und alles wimmelt und
lauscht -
Doch, Madame, dieses Nachtigallenlied ist viel zu
groß, um es hierherzusetzen, es ist so groß wie die
Welt selbst, schon die Dedikation an Anangas, den
Gott der Liebe, ist so lang wie sämtliche Walter
Scottsche Romane, und darauf bezieht sich eine Stelle
im Aristophanes, welche zu deutsch heißt:
»Tiotio, tiotio, tiotinx,«
»Totototo, totototo, tototinx.«
Vossische Übers.
Nein, ich bin nicht geboren in Indien; das Licht der
Welt erblickte ich an den Ufern jenes schönen Stro-
mes, wo auf grünen Bergen die Torheit wächst und im
Herbste gepflückt, gekeltert, in Fässer gegossen und
ins Ausland geschickt wird - Wahrhaftig, gestern bei
Tische hörte ich jemanden eine Torheit sprechen, die
Anno 1811 in einer Weintraube gesessen, welche ich
damals selbst auf dem Johannisberge wachsen sah. -
Viel Torheit wird aber auch im Lande selbst konsu-
miert, und die Menschen dort sind wie überall: - sie
werden geboren, essen, trinken, schlafen, lachen,
weinen, verleumden, sind ängstlich besorgt um die
Fortpflanzung ihrer Gattung, suchen zu scheinen, was
sie nicht sind, und zu tun, was sie nicht können, las-
sen sich nicht eher rasieren, als bis sie einen Bart
haben, und haben oft einen Bart, ehe sie verständig
sind, und wenn sie verständig sind, berauschen sie
sich wieder mit weißer und roter Torheit.
Mon Dieu! wenn ich doch so viel Glauben in mir
hätte, daß ich Berge versetzen könnte - der Johannis-
berg wäre just derjenige Berg, den ich mir überall
nachkommen ließe. Aber da mein Glaube nicht so
stark ist, muß mir die Phantasie helfen, und sie ver-
setzt mich selbst nach dem schönen Rhein.
Oh, da ist ein schönes Land, voll Lieblichkeit und
Sonnenschein. Im blauen Strome spiegeln sich die
Bergesufer mit ihren Burgruinen und Waldungen und
altertümlichen Städten - Dort vor der Haustür sitzen
die Bürgersleute des Sommerabends und trinken aus
großen Kannen und schwatzen vertraulich: wie der
Wein, gottlob! gedeiht und wie die Gerichte durchaus
öffentlich sein müssen und wie die Maria Antoinette
so mir nichts, dir nichts guillotiniert worden und wie
die Tabaksregie den Tabak verteuert und wie alle
Menschen gleich sind und wie der Görres ein Haupt-
kerl ist.
Ich habe mich nie um dergleichen Gespräche be-
kümmert und saß lieber bei den Mädchen am
gewölbten Fenster und lachte über ihr Lachen und
ließ mich mit Blumen ins Gesicht schlagen und stellte
mich böse, bis sie mir ihre Geheimnisse oder irgend-
eine andre wichtige Geschichte erzählten. Die schöne
Gertrud war bis zum Tollwerden vergnügt, wenn ich
mich zu ihr setzte; es war ein Mädchen wie eine flam-
mende Rose, und als sie mir einst um den Hals fiel,
glaubte ich, sie würde verbrennen und verduften in
meinen Armen. Die schöne Katharine zerfloß in klin-
gender Sanftheit, wenn sie mit mir sprach, und ihre
Augen waren von einem so reinen innigen Blau, wie
ich es noch nie bei Menschen und Tieren und nur sel-
ten bei Blumen gefunden; man sah gern hinein und
konnte sich so recht viel Süßes dabei denken. Aber
die schöne Hedwig liebte mich; denn wenn ich zu ihr
trat, beugte sie das Haupt zur Erde, so daß die
schwarzen Locken über das errötende Gesicht herab-
fielen und die glänzenden Augen wie Sterne aus dun-
kelem Himmel hervorleuchteten. Ihre verschämten
Lippen sprachen kein Wort, und auch ich konnte ihr
nichts sagen. Ich hustete, und sie zitterte. Sie ließ
mich manchmal durch ihre Schwester bitten, nicht so
rasch die Felsen zu besteigen und nicht im Rheine zu
baden, wenn ich mich heiß gelaufen oder getrunken.
Ich behorchte mal ihr andächtiges Gebet vor dem Ma-
rienbildchen, das, mit Goldflittern geziert und von
einem brennenden Lämpchen umflittert, in einer
Nische der Hausflur stand; ich hörte deutlich, wie sie
die Muttergottes bat, ihm das Klettern, Trinken und
Baden zu verbieten. Ich hätte mich gewiß in das schö-
ne Mädchen verliebt, wenn sie gleichgültig gegen
mich gewesen wäre; und ich war gleichgültig gegen
sie, weil ich wußte, daß sie mich liebte - Madame,
wenn man von mir geliebt sein will, muß man mich
en canaille behandeln.
Die schöne Johanna war die Base der drei Schwe-
stern, und ich setzte mich gern zu ihr. Sie wußte die
schönsten Sagen, und wenn sie mit der weißen Hand
zum Fenster hinauszeigte, nach den Bergen, wo alles
passiert war, was sie erzählte, so wurde mir ordentlich
verzaubert zumute, die alten Ritter stiegen sichtbar
aus den Burgruinen und zerhackten sich die eisernen
Kleider, die Lorelei stand wieder auf der Bergesspitze
und sang hinab ihr süß verderbliches Lied, und der
Rhein rauschte so vernünftig, beruhigend und doch
zugleich neckend schauerlich - und die schöne Johan-
ne sah mich an so seltsam, so heimlich, so rätselhaft
traulich, als gehörte sie selbst zu den Märchen,
wovon sie eben erzählte. Sie war ein schlankes, blas-
ses Mädchen, sie war todkrank und sinnend, ihre
Augen waren klar wie die Wahrheit selbst, ihre Lip-
pen fromm gewölbt, in den Zügen ihres Antlitzes lag
eine große Geschichte, aber es war eine heilige Ge-
schichte - Etwa eine Liebeslegende? Ich weiß nicht,
und ich hatte auch nie den Mut, sie zu fragen. Wenn
ich sie lange ansah, wurde ich ruhig und heiter, es
ward mir, als sei stiller Sonntag in meinem Herzen
und die Engel darin hielten Gottesdienst.
In solchen guten Stunden erzählte ich ihr Geschich-
ten aus meiner Kindheit, und sie hörte immer ernst-
haft zu, und seltsam! wenn ich mich nicht mehr auf
die Namen besinnen konnte, so erinnerte sie mich
daran. Wenn ich sie alsdann mit Verwunderung frag-
te, woher sie die Namen wisse, so gab sie lächelnd
zur Antwort, sie habe sie von den Vögeln erfahren,
die an den Fliesen ihres Fensters nisteten - und sie
wollte mich gar glauben machen, dieses seien die
nämlichen Vögel, die ich einst als Knabe mit meinem
Taschengelde den hartherzigen Bauerjungen abge-
kauft habe und dann frei fortfliegen lassen. Ich glaube
aber, sie wußte alles, weil sie so blaß war und wirk-
lich bald starb. Sie wußte auch, wann sie sterben
würde, und wünschte, daß ich Andernacht den Tag
vorher verlassen möchte. Beim Abschied gab sie mir
beide Hände - es waren weiße, süße Hände und rein
wie eine Hostie -, und sie sprach: »Du bist sehr gut,
und wenn du böse wirst, so denke wieder an die klei-
ne, tote Veronika.«
Haben ihr die geschwätzigen Vögel auch diesen
Namen verraten? Ich hatte mir in erinnerungssüchti-
gen Stunden so oft den Kopf zerbrochen und konnte
mich nicht mehr auf den lieben Namen erinnern.
Jetzt, da ich ihn wieder habe, will mir auch die frü-
heste Kindheit wieder im Gedächtnisse hervorblühen,
und ich bin wieder ein Kind und spiele mit andern
Kindern auf dem Schloßplatze zu Düsseldorf am
Rhein.
Kapitel VI
Ja, Madame, dort bin ich geboren, und ich bemerke
dieses ausdrücklich für den Fall, daß etwa, nach mei-
nem Tode, sieben Städte - Schilda, Krähwinkel,
Polkwitz, Bockum, Dülken, Göttingen und Schöp-
penstädt - sich um die Ehre streiten, meine Vaterstadt
zu sein. Düsseldorf ist eine Stadt am Rhein, es leben
da sechzehntausend Menschen, und viele hunderttau-
send Menschen liegen noch außerdem da begraben.
Und darunter sind manche, von denen meine Mutter
sagt, es wäre besser, sie lebten noch, z.B. mein Groß-
vater und mein Oheim, der alte Herr v. Geldern und
der junge Herr v. Geldern, die beide so berühmte
Doktoren waren und so viele Menschen vom Tode ku-
riert und doch selber sterben mußten. Und die fromme
Ursula, die mich als Kind auf den Armen getragen,
liegt auch dort begraben, und es wächst ein Rosen-
strauch auf ihrem Grab - Rosenduft liebte sie so sehr
im Leben, und ihr Herz war lauter Rosenduft und
Güte. Auch der alte kluge Kanonikus liegt dort begra-
ben. Gott, wie elend sah er aus, als ich ihn zuletzt
sah! Er bestand nur noch aus Geist und Pflastern und
studierte dennoch Tag und Nacht, als wenn er besorg-
te, die Würmer möchten einige Ideen zuwenig in sei-
nem Kopfe finden. Auch der kleine Wilhelm liegt
dort, und daran bin ich schuld. Wir waren Schulkame-
raden im Franziskanerkloster und spielten auf jener
Seite desselben, wo zwischen steinernen Mauern die
Düssel fließt, und ich sagte: »Wilhelm, hol doch das
Kätzchen, das eben hineingefallen« - und lustig stieg
er hinab auf das Brett, das über dem Bach lag, riß das
Kätzchen aus dem Wasser, fiel aber selbst hinein, und
als man ihn herauszog, war er naß und tot. Das Kätz-
chen hat noch lange Zeit gelebt.
Die Stadt Düsseldorf ist sehr schön, und wenn man
in der Ferne an sie denkt und zufällig dort geboren ist,
wird einem wunderlich zumute. Ich bin dort geboren,
und es ist mir, als müßte ich gleich nach Hause gehn.
Und wenn ich sage, nach Hause gehn, so meine ich
die Bolkerstraße und das Haus, worin ich geboren
bin. Dieses Haus wird einst sehr merkwürdig sein,
und der alten Frau, die es besitzt, habe ich sagen las-
sen, daß sie beileibe das Haus nicht verkaufen solle.
Für das ganze Haus bekäme sie jetzt doch kaum so-
viel, wie schon allein das Trinkgeld betragen wird,
das einst die grünverschleierten, vornehmen Englän-
derinnen dem Dienstmädchen geben, wenn es ihnen
die Stube zeigt, worin ich das Licht der Welt erblickt,
und den Hühnerwinkel, worin mich Vater gewöhnlich
einsperrte, wenn ich Trauben genascht, und auch die
braune Türe, worauf Mutter mich die Buchstaben mit
Kreide schreiben lehrte - ach Gott! Madame, wenn
ich ein berühmter Schriftsteller werde, so hat das mei-
ner armen Mutter genug Mühe gekostet.
Aber mein Ruhm schläft jetzt noch in den Marmor-
brüchen von Carrara, der Makulaturlorbeer, womit
man meine Stirne geschmückt, hat seinen Duft noch
nicht durch die ganze Welt verbreitet, und wenn jetzt
die grünverschleierten, vornehmen Engländerinnen
nach Düsseldorf kommen, so lassen sie das berühmte
Haus noch unbesichtigt und gehen direkt nach dem
Marktplatz und betrachten die dort in der Mitte ste-
hende schwarze, kolossale Reuterstatue. Diese soll
den Kurfürsten Jan Wilhelm vorstellen. Er trägt einen
schwarzen Harnisch, eine tiefherabhängende Allonge-
perücke - Als Knabe hörte ich die Sage, der Künstler,
der diese Statue gegossen, habe während des Gießens
mit Schrecken bemerkt, daß sein Metall nicht dazu
ausreiche, und da wären die Bürger der Stadt herbei-
gelaufen und hätten ihm ihre silbernen Löffel ge-
bracht, um den Guß zu vollenden - und nun stand ich
stundenlang vor dem Reuterbilde und zerbrach mir
den Kopf, wieviel silberne Löffel wohl darin stecken
mögen und wieviel Apfeltörtchen man wohl für all
das Silber bekommen könnte. Apfeltörtchen waren
nämlich damals meine Passion - jetzt ist es Liebe,
Wahrheit, Freiheit und Krebssuppe -, und eben un-
weit des Kurfürstenbildes, an der Theaterecke, stand
gewöhnlich der wunderlich gebackene säbelbeinige
Kerl mit der weißen Schürze und dem umgehängten
Korbe voll lieblich dampfender Apfeltörtchen, die er
mit einer unwiderstehlichen Diskantstimme anzuprei-
sen wußte: »Die Apfeltörtchen sind ganz frisch, eben
aus dem Ofen, riechen so delikat« - Wahrlich, wenn
in meinen späteren Jahren der Versucher mir beikom-
men wollte, so sprach er mit solcher lockenden Dis-
kantstimme, und bei Signora Giulietta wäre ich keine
volle zwölf Stunden geblieben, wenn sie nicht den
süßen, duftenden Apfeltörtchenton angeschlagen
hätte. Und wahrlich, nie würden Apfeltörtchen mich
so sehr angereizt haben, hätte der krumme Hermann
sie nicht so geheimnisvoll mit seiner weißen Schürze
bedeckt - und die Schürzen sind es, welche - doch
sie bringen mich ganz aus dem Kontext, ich sprach ja
von der Reuterstatue, die soviel silberne Löffel im
Leibe hat, und keine Suppe, und den Kurfürsten Jan
Wilhelm darstellt.
Es soll ein braver Herr gewesen sein und sehr
kunstliebend und selbst sehr geschickt. Er stiftete die
Gemäldegalerie in Düsseldorf, und auf dem dortigen
Observatorium zeigt man noch einen überaus künstli-
chen Einschachtelungsbecher von Holz, den er selbst
in seinen Freistunden - er hatte deren täglich vierund-
zwanzig - geschnitzelt hat.
Damals waren die Fürsten noch keine geplagte
Leute wie jetzt, und die Krone war ihnen am Kopfe
festgewachsen, und des Nachts zogen sie noch eine
Schlafmütze darüber und schliefen ruhig, und ruhig
zu ihren Füßen schliefen die Völker, und wenn diese
des Morgens erwachten, so sagten sie: »Guten Mor-
gen, Vater!« - und jene antworteten: »Guten Morgen,
liebe Kinder!«
Aber es wurde plötzlich anders; als wir eines Mor-
gens zu Düsseldorf erwachten und »Guten Morgen,
Vater!« sagen wollten, da war der Vater abgereist,
und in der ganzen Stadt war nichts als stumpfe Be-
klemmung, es war überall eine Art Begräbnisstim-
mung, und die Leute schlichen schweigend nach dem
Markte und lasen den langen papiernen Anschlag auf
der Türe des Rathauses. Es war ein trübes Wetter,
und der dünne Schneider Kilian stand dennoch in sei-
ner Nankingjacke, die er sonst nur im Hause trug, und
die blauwollnen Strümpfe hingen ihm herab, daß die
nackten Beinchen betrübt hervorguckten, und seine
schmalen Lippen bebten, während er das angeschla-
gene Plakat vor sich hin murmelte. Ein alter
pfälzischer Invalide las etwas lauter, und bei man-
chem Worte träufelte ihm eine klare Träne in den wei-
ßen, ehrlichen Schnauzbart. Ich stand neben ihm und
weinte mit und frug ihn, warum wir weinten. Und da
antwortete er: »Der Kurfürst läßt sich bedanken.«
Und dann las er wieder, und bei den Worten: »für die
bewährte Untertanstreue« »und entbinden euch eurer
Pflichten«, da weinte er noch stärker - Es ist wunder-
lich anzusehen, wenn so ein alter Mann mit verbliche-
ner Uniform und vernarbtem Soldatengesicht plötz-
lich so stark weint. Während wir lasen, wurde auch
das kurfürstliche Wappen vom Rathause herunterge-
nommen, alles gestaltete sich so beängstigend öde, es
war, als ob man eine Sonnenfinsternis erwarte, die
Herren Ratsherren gingen so abgedankt und langsam
umher, sogar der allgewaltige Gassenvogt sah aus, als
wenn er nichts mehr zu befehlen hätte, und stand da
so friedlich-gleichgültig, obgleich der tolle Alouisius
sich wieder auf ein Bein stellte und mit närrischer
Grimasse die Namen der französischen Generale her-
schnatterte, während der besoffene, krumme Gum-
pertz sich in der Gosse herumwälzte und »Ça ira, ça
ira!« sang.
Ich aber ging nach Hause und weinte und klagte:
»Der Kurfürst läßt sich bedanken.« Meine Mutter
hatte ihre liebe Not, ich wußte, was ich wußte, ich
ließ mir nichts ausreden, ich ging weinend zu Bette,
und in der Nacht träumte mir, die Welt habe ein
Ende - die schönen Blumengärten und grünen Wie-
sen wurden wie Teppiche vom Boden aufgenommen
und zusammengerollt, der Gassenvogt stieg auf eine
hohe Leiter und nahm die Sonne vom Himmel herab,
der Schneider Kilian stand dabei und sprach zu sich
selber: »Ich muß nach Hause gehn und mich hübsch
anziehn, denn ich bin tot und soll noch heute begra-
ben werden« - und es wurde immer dunkler, spärlich
schimmerten oben einige Sterne, und auch diese fielen
herab wie gelbe Blätter im Herbste, allmählich ver-
schwanden die Menschen, ich armes Kind irrte ängst-
lich umher, stand endlich vor der Weidenhecke eines
wüsten Bauerhofes und sah dort einen Mann, der mit
dem Spaten die Erde aufwühlte, und neben ihm ein
häßlich hämisches Weib, das etwas wie einen abge-
schnittenen Menschenkopf in der Schürze hielt, und
das war der Mond, und sie legte ihn ängstlich sorg-
sam in die offne Grube - und hinter mir stand der
pfälzische Invalide und schluchzte und buchstabierte:
»Der Kurfürst läßt sich bedanken.«
Als ich erwachte, schien die Sonne wieder wie ge-
wöhnlich durch das Fenster, auf der Straße ging die
Trommel, als ich in unsre Wohnstube trat und mei-
nem Vater, der im weißen Pudermantel saß, einen
guten Morgen bot, hörte ich, wie der leichtfüßige Fri-
seur ihm während des Frisierens haarklein erzählte,
daß heute auf dem Rathause dem neuen Großherzog
Joachim gehuldigt werde und daß dieser von der be-
sten Familie sei und die Schwester des Kaisers Napo-
leon zur Frau bekommen und auch wirklich viel An-
stand besitze und sein schönes schwarzes Haar in
Locken trage und nächstens seinen Einzug halten und
sicher allen Frauenzimmern gefallen müsse. Unterdes-
sen ging das Getrommel, draußen auf der Straße,
immer fort, und ich trat vor die Haustür und besah die
einmarschierenden französischen Truppen, das freudi-
ge Volk des Ruhmes, das singend und klingend die
Welt durchzog, die heiter-ernsten Grenadiergesichter,
die Bärenmützen, die dreifarbigen Kokarden, die blin-
kenden Bajonette, die Voltigeurs voll Lustigkeit und
Point d'honneur und den allmächtig großen, silberge-
stickten Tambourmajor, der seinen Stock mit dem
vergoldeten Knopf bis an die erste Etage werfen
konnte und seine Augen sogar bis zur zweiten Etage
- wo ebenfalls schöne Mädchen am Fenster saßen. Ich
freute mich, daß wir Einquartierung bekämen - meine
Mutter freute sich nicht -, und ich eilte nach dem
Marktplatz. Da sah es jetzt ganz anders aus, es war,
als ob die Welt neu angestrichen worden, ein neues
Wappen hing am Rathause, das Eisengeländer an des-
sen Balkon war mit gestickten Sammetdecken über-
hängt, französische Grenadiere standen Schildwache,
die alten Herren Ratsherren hatten neue Gesichter
angezogen und trugen ihre Sonntagsröcke und sahen
sich an auf französisch und sprachen »Bon jour«, aus
allen Fenstern guckten Damen, neugierige Bürgers-
leute und blanke Soldaten füllten den Platz, und ich
nebst andern Knaben, wir kletterten auf das große
Kurfürstenpferd und schauten davon herab auf das
bunte Marktgewimmel.
Nachbars-Pitter und der lange Kurz hätten bei die-
ser Gelegenheit beinah den Hals gebrochen, und das
wäre gut gewesen; denn der eine entlief nachher sei-
nen Eltern, ging unter die Soldaten, desertierte und
wurde in Mainz totgeschossen, der andre aber machte
späterhin geographische Untersuchungen in fremden
Taschen, wurde deshalb wirkendes Mitglied einer öf-
fentlichen Spinnanstalt, zerriß die eisernen Bande, die
ihn an diese und an das Vaterland fesselten, kam
glücklich über das Wasser und starb in London durch
eine allzu enge Krawatte, die sich von selbst zugezo-
gen, als ihm ein königlicher Beamter das Brett unter
den Beinen wegriß.
Der lange Kurz sagte uns, daß heute keine Schule
sei, wegen der Huldigung. Wir mußten lange warten,
bis diese losgelassen wurde. Endlich füllte sich der
Balkon des Rathauses mit bunten Herren, Fahnen und
Trompeten, und der Herr Bürgermeister, in seinem
berühmten roten Rock, hielt eine Rede, die sich etwas
in die Länge zog, wie Gummielastikum oder wie eine
gestrickte Schlafmütze, in die man einen Stein gewor-
fen - nur nicht den Stein der Weisen -, und manche
Redensarten konnte ich ganz deutlich vernehmen, z.B.
daß man uns glücklich machen wolle - und beim letz-
ten Worte wurden die Trompeten geblasen und die
Fahnen geschwenkt und die Trommel gerührt und
»Vivat« gerufen - und während ich selber »Vivat«
rief, hielt ich mich fest an den alten Kurfürsten. Und
das tat not, denn mir wurde ordentlich schwindlig, ich
glaubte schon, die Leute ständen auf den Köpfen, weil
sich die Welt herumgedreht, das Kurfürstenhaupt mit
der Allongeperücke nickte und flüsterte: »Halt fest an
mir!«, und erst durch das Kanonieren, das jetzt auf
dem Walle losging, ernüchterte ich mich und stieg
vom Kurfürstenpferd langsam wieder herab.
Als ich nach Hause ging, sah ich wieder, wie der
tolle Alouisius auf einem Beine tanzte, während er die
Namen der französischen Generale schnarrte, und wie
sich der krumme Gumpertz besoffen in der Gosse her-
umwälzte und »Ça ira, ça ira« brüllte, und zu meiner
Mutter sagte ich: »Man will uns glücklich machen,
und deshalb ist heute keine Schule.«
Kapitel VII
Den andern Tag war die Welt wieder ganz in Ord-
nung, und es war wieder Schule, nach wie vor, und es
wurde wieder auswendig gelernt, nach wie vor - die
römischen Könige, die Jahreszahlen, die Nomina auf
-im, die verba irregularia, Griechisch, Hebräisch,
Geographie, deutsche Sprache, Kopfrechnen - Gott!
der Kopf schwindelt mir noch davon -, alles mußte
auswendig gelernt werden. Und manches davon kam
mir in der Folge zustatten. Denn hätte ich nicht die
römischen Könige auswendig gewußt, so wäre es mir
ja späterhin ganz gleichgültig gewesen, ob Niebuhr
bewiesen oder nicht bewiesen hat, daß sie niemals
wirklich existiert haben. Und wußte ich nicht jene
Jahrszahlen, wie hätte ich mich späterhin zurechtfin-
den wollen in dem großen Berlin, wo ein Haus dem
andern gleicht, wie ein Tropfen Wasser oder wie ein
Grenadier dem andern, und wo man seine Bekannten
nicht zu finden vermag, wenn man nicht ihre Haus-
nummer im Kopfe hat; ich dachte mir damals bei
jedem Bekannten zugleich eine historische Begeben-
heit, deren Jahrszahl mit seiner Hausnummer überein-
stimmte, so daß ich mich dieser leicht erinnern konn-
te, wenn ich jener gedachte, und daher kam mir auch
immer eine historische Begebenheit in den Sinn,
sobald ich einen Bekannten erblickte. So z.B. wenn
mir mein Schneider begegnete, dachte ich gleich an
die Schlacht bei Marathon, begegnete mir der wohlge-
putzte Bankier Christian Gumpel, so dachte ich gleich
an die Zerstörung Jerusalems, erblickte ich einen stark
verschuldeten portugiesischen Freund, so dachte ich
gleich an die Flucht Mahomets, sah ich den Universi-
tätsrichter, einen Mann, dessen strenge Rechtlichkeit
bekannt ist, so dachte ich gleich an den Tod Hamans,
sobald ich Wadzeck sah, dachte ich gleich an die
Kleopatra - Ach, lieber Himmel, das arme Vieh ist
jetzt tot, die Tränensäckchen sind vertrocknet, und
man kann mit Hamlet sagen: »Nehmt alles in allem,
es war ein altes Weib, wir werden noch oft seinesglei-
chen haben!« Wie gesagt, die Jahrszahlen sind durch-
aus nötig, ich kenne Menschen, die gar nichts als ein
paar Jahrszahlen im Kopfe hatten und damit in Berlin
die rechten Häuser zu finden wußten und jetzt schon
ordentliche Professoren sind. Ich aber hatte in der
Schule meine Not mit den vielen Zahlen! Mit dem ei-
gentlichen Rechnen ging es noch schlechter. Am be-
sten begriff ich das Subtrahieren, und da gibt es eine
sehr praktische Hauptregel: »Vier von drei geht nicht,
da muß ich eins borgen« - ich rate aber jedem, in sol-
chen Fällen immer einige Groschen mehr zu borgen;
denn man kann nicht wissen -
Was aber das Lateinische betrifft, so haben Sie gar
keine Idee davon, Madame, wie das verwickelt ist.
Den Römern würde gewiß nicht Zeit genug übrigge-
blieben sein, die Welt zu erobern, wenn sie das Latein
erst hätten lernen sollen. Diese glücklichen Leute wu-
ßten schon in der Wiege, welche Nomina den Akku-
sativ auf -im haben. Ich hingegen mußte sie im
Schweiße meines Angesichts auswendig lernen; aber
es ist doch immer gut, daß ich sie weiß. Denn hätte
ich z.B. den 20. Juli 1825, als ich öffentlich in der
Aula zu Göttingen lateinisch disputierte - Madame,
es war der Mühe wert, zuzuhören -, hätte ich da
sinapem statt sinapim gesagt, so würden es vielleicht
die anwesenden Füchse gemerkt haben, und das wäre
für mich eine ewige Schande gewesen. Vis, buris,
sitis, tussis, cucumis, amussis, cannabis, sinapis -
diese Wörter, die soviel Aufsehen in der Welt ge-
macht haben, bewirken dieses, indem sie sich zu einer
bestimmten Klasse schlugen und dennoch eine Aus-
nahme blieben; deshalb achte ich sie sehr, und daß ich
sie bei der Hand habe, wenn ich sie etwa plötzlich
brauchen sollte, das gibt mir in manchen trüben Stun-
den des Lebens viel innere Beruhigung und Trost.
Aber, Madame, die verba irregularia - sie unterschei-
den sich von den verbis regularibus dadurch, daß man
bei ihnen noch mehr Prügel bekömmt -, sie sind gar
entsetzlich schwer. In den dumpfen Bogengängen des
Franziskanerklosters, unfern der Schulstube, hing
damals ein großer, gekreuzigter Christus von grauem
Holze, ein wüstes Bild, das noch jetzt zuweilen des
Nachts durch meine Träume schreitet und mich trau-
rig ansieht mit starren, blutigen Augen - vor diesem
Bilde stand ich oft und betete: »O du armer, ebenfalls
gequälter Gott, wenn es dir nur irgend möglich ist, so
sieh doch zu, daß ich die verba irregularia im Kopfe
behalte.«
Vom Griechischen will ich gar nicht sprechen; ich
ärgere mich sonst zuviel. Die Mönche im Mittelalter
hatten so ganz unrecht nicht, wenn sie behaupteten,
daß das Griechische eine Erfindung des Teufels sei.
Gott kennt die Leiden, die ich dabei ausgestanden.
Mit dem Hebräischen ging es besser, denn ich hatte
immer eine große Vorliebe für die Juden, obgleich
sie, bis auf diese Stunde, meinen guten Namen kreuzi-
gen; aber ich konnte es doch im Hebräischen nicht so
weit bringen wie meine Taschenuhr, die viel intimen
Umgang mit Pfänderverleihern hatte und dadurch
manche jüdische Sitte annahm - z.B. des Sonnabends
ging sie nicht - und die heilige Sprache lernte und sie
auch späterhin grammatisch trieb; wie ich denn oft in
schlaflosen Nächten mit Erstaunen hörte, daß sie be-
ständig vor sich hin pickerte: katal, katalta, katalti -
kittel, kittalta, kittalti -- pokat, pokadeti - pikat -
pik - pik --
Indessen von der deutschen Sprache begriff ich viel
mehr, und die ist doch nicht so gar kinderleicht. Denn
wir armen Deutschen, die wir schon mit Einquartie-
rungen, Militärpflichten, Kopfsteuern und tausender-
lei Abgaben genug geplagt sind, wir haben uns noch
obendrein den Adelung aufgesackt und quälen uns
einander mit dem Akkusativ und Dativ. Viel deutsche
Sprache lernte ich vom alten Rektor Schallmeyer,
einem braven geistlichen Herrn, der sich meiner von
Kind auf annahm. Aber ich lernte auch etwas der Art
von dem Professor Schramm, einem Manne, der ein
Buch über den ewigen Frieden geschrieben hat und in
dessen Klasse sich meine Mitbuben am meisten rauf-
ten.
Während ich in einem Zuge fortschrieb und allerlei
dabei dachte, habe ich mich unversehens in die alten
Schulgeschichten hineingeschwatzt, und ich ergreife
diese Gelegenheit, um Ihnen zu zeigen, Madame, wie
es nicht meine Schuld war, wenn ich von der Geogra-
phie so wenig lernte, daß ich mich späterhin nicht in
der Welt zurechtzufinden wußte. Damals hatten näm-
lich die Franzosen alle Grenzen verrückt, alle Tage
wurden die Länder neu illuminiert, die sonst blau ge-
wesen, wurden jetzt plötzlich grün, manche wurden
sogar blutrot, die bestimmten Lehrbuchseelen wurden
so sehr vertauscht und vermischt, daß kein Teufel sie
mehr erkennen konnte, die Landesprodukte änderten
sich ebenfalls, Zichorien und Runkelrüben wuchsen
jetzt, wo sonst nur Hasen und hinterherlaufende Land-
junker zu sehen waren, auch die Charaktere der Völ-
ker änderten sich, die Deutschen wurden gelenkig, die
Franzosen machten keine Komplimente mehr, die
Engländer warfen das Geld nicht mehr zum Fenster
hinaus, und die Venezianer waren nicht schlau genug,
unter den Fürsten gab es viel Avancement, die alten
Könige bekamen neue Uniformen, neue Königtümer
wurden gebacken und hatten Absatz wie frische Sem-
mel, manche Potentaten hingegen wurden von Haus
und Hof gejagt und mußten auf andre Art ihr Brot zu
verdienen suchen, und einige legten sich daher früh
auf ein Handwerk und machten z.B. Siegellack oder -
Madame, diese Periode hat endlich ein Ende, der
Atem wollte mir ausgehen -, kurz und gut, in solchen
Zeiten kann man es in der Geographie nicht weit brin-
gen.
Da hat man es doch besser in der Naturgeschichte,
da können nicht so viele Veränderungen vorgehen,
und da gibt es bestimmte Kupferstiche von Affen,
Känguruhs, Zebras, Nashornen usw. Weil mir solche
Bilder im Gedächtnisse blieben, geschah es in der
Folge sehr oft, daß mir manche Menschen beim ersten
Anblick gleich wie alte Bekannte vorkamen.
Auch in der Mythologie ging es gut. Ich hatte
meine liebe Freude an dem Göttergesindel, das so lu-
stig nackt die Welt regierte. Ich glaube nicht, daß
jemals ein Schulknabe im alten Rom die Hauptartikel
seines Katechismus, z.B. die Liebschaften der Venus,
besser auswendig gelernt hat als ich. Aufrichtig ge-
standen, da wir doch einmal die alten Götter auswen-
dig lernen mußten, so hätten wir sie auch behalten
sollen, und wir haben vielleicht nicht viel Vorteil bei
unserer neurömischen Dreigötterei oder gar bei unse-
rem jüdischen Eingötzentum. Vielleicht war jene My-
thologie im Grunde nicht so unmoralisch, wie man sie
verschrien hat, es ist z.B. ein sehr anständiger Gedan-
ke des Homers, daß er jener vielbeliebten Venus einen
Gemahl zur Seite gab.
Am allerbesten aber erging es mir in der französi-
schen Klasse des Abbé d'Aulnoi, eines emigrierten
Franzosen, der eine Menge Grammatiken geschrieben
und eine rote Perücke trug und gar pfiffig umher-
sprang, wenn er seine Art poétique und seine Histoire
allemande vortrug - Er war im ganzen Gymnasium
der einzige, welcher deutsche Geschichte lehrte. In-
dessen, auch das Französische hat seine Schwierigkei-
ten, und zur Erlernung desselben gehört viel Einquar-
tierung, viel Getrommel, viel apprendre par cœur, und
vor allem darf man keine Bete allemande sein. Da gab
es manches saure Wort, ich erinnere mich noch so
gut, als wäre es erst gestern geschehen, daß ich durch
la religion viel Unannehmlichkeiten erfahren. Wohl
sechsmal erging an mich die Frage: »Henri, wie heißt
der Glaube auf französisch?« Und sechsmal und
immer weinerlicher antwortete ich: »Das heißt le cre-
dit.« Und beim siebenten Male, kirschbraun im Ge-
sichte, rief der wütende Examinator: »Er heißt la reli-
gion« - und es regnete Prügel, und alle Kameraden
lachten. Madame! seit der Zeit kann ich das Wort reli-
gion nicht erwähnen hören, ohne daß mein Rücken
blaß vor Schrecken und meine Wange rot vor Scham
wird. Und ehrlich gestanden, le credit hat mir im
Leben mehr genützt als la religion - In diesem Au-
genblick fällt mir ein, daß ich dem Löwenwirt in Bo-
logna noch fünf Taler schuldig bin - Und wahrhaftig,
ich mache mich anheischig, dem Löwenwirt noch fünf
Taler extra schuldig zu sein, wenn ich nur das un-
glückselige Wort la religion in diesem Leben nimmer-
mehr zu hören brauche.
Parbleu, Madame! ich habe es im Französischen
weit gebracht! Ich verstehe nicht nur Patois, sondern
sogar adeliges Bonnenfranzösisch. Noch unlängst, in
einer noblen Gesellschaft, verstand ich fast die Hälfte
von dem Diskurs zweier deutschen Komtessen,
wovon jede über vierundsechzig Jahr und ebenso
viele Ahnen zählte. Ja, im »Café Royal« zu Berlin
hörte ich einmal den Monsieur Hans Michel Martens
französisch parlieren und verstand jedes Wort, ob-
schon kein Verstand darin war. Man muß den Geist
der Sprache kennen, und diesen lernt man am besten
durch Trommeln. Parbleu! wieviel verdanke ich nicht
dem französischen Tambour, der so lange bei uns in
Quartier lag und wie ein Teufel aussah und doch von
Herzen so engelgut war und so ganz vorzüglich trom-
melte.
Es war eine kleine, bewegliche Figur mit einem
fürchterlichen schwarzen Schnurrbarte, worunter sich
die roten Lippen trotzig hervorbäumten, während die
feurigen Augen hin und her schossen.
Ich kleiner Junge hing an ihm wie eine Klette und
half ihm seine Knöpfe spiegelblank putzen und seine
Weste mit Kreide weißen - denn Monsieur Le Grand
wollte gerne gefallen -, und ich folgte ihm auch auf
die Wache, nach dem Appell, nach der Parade - da
war nichts als Waffenglanz und Lustigkeit -, les jours
de fête sont passés! Monsieur Le Grand wußte nur
wenig gebrochenes Deutsch, nur die Hauptausdrücke
- Brot, Kuß, Ehre -, doch konnte er sich auf der
Trommel sehr gut verständlich machen, z.B. wenn ich
nicht wußte, was das Wort »liberté« bedeute, so trom-
melte er den Marseiller Marsch - und ich verstand
ihn. Wußte ich nicht die Bedeutung des Wortes
»égalité«, so trommelte er den Marsch »Ça ira, ça
ira --- les aristocrates à la lanterne!« - und ich ver-
stand ihn. Wußte ich nicht, was »bêtise« sei, so trom-
melte er den Dessauer Marsch, den wir Deutschen,
wie auch Goethe berichtet, in der Champagne
getrommelt - und ich verstand ihn. Er wollte mir mal
das Wort »l'Allemagne« erklären, und er trommelte
jene allzu einfache Urmelodie, die man oft an Markt-
tagen bei tanzenden Hunden hört, nämlich Dum -
Dum - Dum - ich ärgerte mich, aber ich verstand ihn
doch.
Auf ähnliche Weise lehrte er mich auch die neuere
Geschichte. Ich verstand zwar nicht die Worte, die er
sprach, aber da er während des Sprechens beständig
trommelte, so wußte ich doch, was er sagen wollte.
Im Grunde ist das die beste Lehrmethode. Die Ge-
schichte von der Bestürmung der Bastille, der Tuileri-
en usw. begreift man erst recht, wenn man weiß, wie
bei solchen Gelegenheiten getrommelt wurde. In unse-
ren Schulkompendien liest man bloß: »Ihre Exz. die
Baronen und Grafen und hochdero Gemahlinnen wur-
den geköpft - Ihre Altessen die Herzöge und Prinzen
und höchstdero Gemahlinnen wurden geköpft - Ihre
Majestät der König und allerhöchstdero Gemahlin
wurden geköpft -«, aber wenn man den roten Guillo-
tinenmarsch trommeln hört, so begreift man dieses
erst recht, und man erfährt das Warum und das Wie.
Madame, das ist ein gar wunderlicher Marsch! Er
durchschauerte mir Mark und Bein, als ich ihn zuerst
hörte, und ich war froh, daß ich ihn vergaß - Man
vergißt so etwas, wenn man älter wird, ein junger
Mann hat jetzt soviel anderes Wissen im Kopf zu
behalten - Whist, Boston, genealogische Tabellen,
Bundestagsbeschlüsse, Dramaturgie, Liturgie, Vor-
schneiden - und wirklich, trotz allem Stirnreiben
konnte ich mich lange Zeit nicht mehr auf jene gewal-
tige Melodie besinnen. Aber denken Sie sich, Ma-
dame, unlängst sitze ich an der Tafel mit einer ganzen
Menagerie von Grafen, Prinzen, Prinzessinnen, Kam-
merherren, Hofmarschallinnen, Hofschenken, Ober-
hofmeisterinnen, Hofsilberbewahrern, Hofjägermei-
sterinnen, und wie diese vornehmen Domestiken noch
außerdem heißen mögen, und ihre Unterdomestiken
liefen hinter ihren Stühlen und schoben ihnen die ge-
füllten Teller vors Maul - ich aber, der übergangen
und übersehen wurde, saß müßig, ohne die mindeste
Kinnbackenbeschäftigung, und ich knetete Brotkügel-
chen und trommelte vor Langerweile mit den Fingern,
und zu meinem Entsetzen trommelte ich plötzlich den
roten, längst vergessenen Guillotinenmarsch.
»Und was geschah?« Madame, diese Leute lassen
sich im Essen nicht stören und wissen nicht, daß an-
dere Leute, wenn sie nichts zu essen haben, plötzlich
anfangen zu trommeln, und zwar gar kuriose Mär-
sche, die man längst vergessen glaubte.
Ist nun das Trommeln ein angeborenes Talent oder
hab ich es frühzeitig ausgebildet, genug, es liegt mir
in den Gliedern, in Händen und Füßen, und äußert
sich oft unwillkürlich. Unwillkürlich. Zu Berlin saß
ich einst im Kollegium des Geheimerats Schmalz,
eines Mannes, der den Staat gerettet durch sein Buch
über die Schwarzmäntel- und Rotmäntelgefahr - Sie
erinnern sich, Madame, aus dem Pausanias, daß einst
durch das Geschrei eines Esels ein ebenso gefährli-
ches Komplott entdeckt wurde, auch wissen Sie aus
dem Livius oder aus Beckers »Weltgeschichte«, daß
die Gänse das Kapitol gerettet, und aus dem Sallust
wissen Sie ganz genau, daß durch eine geschwätzige
Putain, die Frau Fulvia, jene fürchterliche Verschwö-
rung des Catilina an den Tag kam - Doch um wieder
auf besagten Hammel zu kommen, im Kollegium des
Herrn Geheimerats Schmalz hörte ich das Völker-
recht, und es war ein langweiliger Sommernachmit-
tag, und ich saß auf der Bank und hörte immer weni-
ger - der Kopf war mir eingeschlafen -, doch plötz-
lich ward ich aufgeweckt durch das Geräusch meiner
eigenen Füße, die wach geblieben waren und wahr-
scheinlich zugehört hatten, daß just das Gegenteil
vom Völkerrecht vorgetragen und auf
Konstitutionsgesinnung geschimpft wurde, und meine
Füße, die mit ihren kleinen Hühneraugen das Treiben
der Welt besser durchschauen als der Geheimerat mit
seinen großen Junoaugen, diese armen, stummen
Füße, unfähig, durch Worte ihre unmaßgebliche Mei-
nung auszusprechen, wollten sich durch Trommeln
verständlich machen und trommelten so stark, daß ich
dadurch schier ins Malheur kam.
Verdammte, unbesonnene Füße! sie spielten mir
einen ähnlichen Streich, als ich einmal in Göttingen
bei Professor Saalfeld hospitierte und dieser mit sei-
ner steifen Beweglichkeit auf dem Katheder hin und
her sprang und sich echauffierte, um auf den Kaiser
Napoleon recht ordentlich schimpfen zu können -
nein, arme Füße, ich kann es euch nicht verdenken,
daß ihr damals getrommelt, ja ich würde es euch nicht
mal verdacht haben, wenn ihr in eurer stummen Nai-
vetät euch noch fußtrittdeutlicher ausgesprochen hät-
tet. Wie darf ich, der Schüler Le Grands, den Kaiser
schmähen hören? Den Kaiser! den Kaiser! den großen
Kaiser!
Denke ich an den großen Kaiser, so wird es in mei-
nem Gedächtnisse wieder recht sommergrün und gol-
dig, eine lange Lindenallee taucht blühend empor, auf
den laubigen Zweigen sitzen singende Nachtigallen,
der Wasserfall rauscht, auf runden Beeten stehen Blu-
men und bewegen traumhaft ihre schönen Häupter -
ich stand mit ihnen im wunderlichen Verkehr, die ge-
schminkten Tulpen grüßten mich bettelstolz herablas-
send, die nervenkranken Lilien nickten wehmütig
zärtlich, die trunkenroten Rosen lachten mir schon
von weitem entgegen, die Nachtviolen seufzten - mit
den Myrten und Lorbeeren hatte ich damals noch
keine Bekanntschaft, denn sie lockten nicht durch
schimmernde Blüte, aber mit den Reseden, womit ich
jetzt so schlecht stehe, war ich ganz besonders intim
- Ich spreche vom Hofgarten zu Düsseldorf, wo ich
oft auf dem Rasen lag und andächtig zuhörte, wenn
mir Monsieur Le Grand von den Kriegstaten des gro-
ßen Kaisers erzählte und dabei die Märsche schlug,
die während jener Taten getrommelt wurden, so daß
ich alles lebendig sah und hörte. Ich sah den Zug über
den Simplon - der Kaiser voran und hinterdreinklim-
mend die braven Grenadiere, während aufgescheuch-
tes Gevögel sein Krächzen erhebt und die Gletscher in
der Ferne donnern - ich sah den Kaiser, die Fahne im
Arm, auf der Brücke von Lodi - ich sah den Kaiser
im grauen Mantel bei Marengo - ich sah den Kaiser
zu Roß in der Schlacht bei den Pyramiden - nichts als
Pulverdampf und Mamelucken - ich sah den Kaiser
in der Schlacht bei Austerlitz - hui! wie pfiffen die
Kugeln über die glatte Eishahn! - ich sah, ich hörte
die Schlacht bei Jena - dum, dum, dum - ich sah, ich
hörte die Schlacht bei Eylau, Wagram - - - - - nein,
kaum konnt ich es aushalten! Monsieur Le Grand
trommelte, daß fast mein eignes Trommelfell dadurch
zerrissen wurde.
Kapitel VIII
Aber wie ward mir erst, als ich ihn selber sah, mit
hochbegnadigten, eignen Augen ihn selber, Hosianna!
den Kaiser.
Es war eben in der Allee des Hofgartens zu Düssel-
dorf. Als ich mich durch das gaffende Volk drängte,
dachte ich an die Taten und Schlachten, die mir Mon-
sieur Le Grand vorgetrommelt hatte, mein Herz
schlug den Generalmarsch - und dennoch dachte ich
zu gleicher Zeit an die Polizeiverordnung, daß man
bei fünf Taler Strafe nicht mitten durch die Allee rei-
ten dürfe. Und der Kaiser mit seinem Gefolge ritt mit-
ten durch die Allee, die schauernden Bäume beugten
sich vorwärts, wo er vorbeikam, die Sonnenstrahlen
zitterten furchtsam neugierig durch das grüne Laub,
und am blauen Himmel oben schwamm sichtbar ein
goldner Stern. Der Kaiser trug seine scheinlose grüne
Uniform und das kleine welthistorische Hütchen. Er
ritt ein weißes Rößlein, und das ging so ruhig stolz,
so sicher, so ausgezeichnet - wär ich damals Kron-
prinz von Preußen gewesen, ich hätte dieses Rößlein
beneidet. Nachlässig, fast hängend, saß der Kaiser,
die eine Hand hielt hoch den Zaum, die andere klopfte
gutmütig den Hals des Pferdchens - Es war eine son-
nig-marmorne Hand, eine mächtige Hand, eine von
den beiden Händen, die das vielköpfige Ungeheuer
der Anarchie gebändigt und den Völkerzweikampf ge-
ordnet hatten - und sie klopfte gutmütig den Hals des
Pferdes. Auch das Gesicht hatte jene Farbe, die wir
bei marmornen Griechen- und Römerköpfen finden,
die Züge desselben waren ebenfalls edel gemessen,
wie die der Antiken, und auf diesem Gesichte stand
geschrieben: Du sollst keine Götter haben außer mir.
Ein Lächeln, das jedes Herz erwärmte und beruhigte,
schwebte um die Lippen - und doch wußte man,
diese Lippen brauchten nur zu pfeifen - et la Prusse
n'existait plus -, diese Lippen brauchten nur zu pfei-
fen - und die ganze Klerisei hatte ausgeklingelt -,
diese Lippen brauchten nur zu pfeifen - und das
ganze Heilige Römische Reich tanzte. Und diese Lip-
pen lächelten, und auch das Auge lächelte - Es war
ein Auge, klar wie der Himmel, es konnte lesen im
Herzen der Menschen, es sah rasch auf einmal alle
Dinge dieser Welt, während wir anderen sie nur nach-
einander und nur ihre gefärbten Schatten sehen. Die
Stirne war nicht so klar, es nisteten darauf die Geister
zukünftiger Schlachten, und es zuckte bisweilen über
dieser Stirn, und das waren die schaffenden Gedan-
ken, die großen Siebenmeilenstiefelgedanken, womit
der Geist des Kaisers unsichtbar über die Welt hin-
schritt - und ich glaube, jeder dieser Gedanken hätte
einem deutschen Schriftsteller, zeit seines Lebens,
vollauf Stoff zum Schreiben gegeben.
Der Kaiser ritt ruhig mitten durch die Allee, kein
Polizeidiener widersetzte sich ihm, hinter ihm, stolz
auf schnauben den Rossen und belastet mit Gold und
Geschmeide, ritt sein Gefolge, die Trommeln wirbel-
ten, die Trompeten erklangen, neben mir drehte sich
der tolle Alouisius und schnarrte die Namen seiner
Generale, unferne brüllte der besoffene Gumpertz,
und das Volk rief tausendstimmig: »Es lebe der Kai-
ser!«
Kapitel IX
Der Kaiser ist tot. Auf einer öden Insel des Indi-
schen Meeres ist sein einsames Grab, und er, dem die
Erde zu eng war, liegt ruhig unter dem kleinen Hügel,
wo fünf Trauerweiden gramvoll ihre grünen Haare
herabhängen lassen und ein frommes Bächlein weh-
mütig klagend vorbeirieselt. Es steht keine Inschrift
auf seinem Leichensteine; aber Klio, mit dem gerech-
ten Griffel, schrieb unsichtbare Worte darauf, die wie
Geistertöne durch die Jahrtausende klingen werden.
Britannia! dir gehört das Meer. Doch das Meer hat
nicht Wasser genug, um von dir abzuwaschen die
Schande, die der große Tote dir sterbend vermacht
hat. Nicht dein windiger Sir Hudson, nein, du selbst
warst der sizilianische Häscher, den die verschwore-
nen Könige gedungen, um an dem Manne des Volkes
heimlich abzurächen, was das Volk einst öffentlich an
einem der Ihrigen verübt hatte - Und er war dein Gast
und hatte sich gesetzt an deinen Herd -
Bis in die spätesten Zeiten werden die Knaben
Frankreichs singen und sagen von der schrecklichen
Gastfreundschaft des »Bellerophon«, und wenn diese
Spott- und Tränenlieder den Kanal hinüberklingen, so
erröten die Wangen aller ehrsamen Briten. Einst aber
wird dieses Lied hinüberklingen, und es gibt kein Bri-
tannien mehr, zu Boden geworfen ist das Volk des
Stolzes, Westminsters Grabmäler liegen zertrümmert,
vergessen ist der königliche Staub, den sie verschlos-
sen - Und Sankt Helena ist das heilige Grab, wohin
die Völker des Orients und Okzidents wallfahrten in
buntbewimpelten Schiffen und ihr Herz stärken durch
große Erinnerung an die Taten des weltlichen Hei-
lands, der gelitten unter Hudson Lowe, wie es ge-
schrieben steht in den Evangelien Las Cases, O'Meara
und Antommarchi.
Seltsam! die drei größten Widersacher des Kaisers
hat schon ein schreckliches Schicksal getroffen: Lon-
donderry hat sich die Kehle abgeschnitten, Ludwig
XVIII. ist auf seinem Throne verfault, und Professor
Saalfeld ist noch immer Professor in Göttingen.
Kapitel X
Es war ein klarer, fröstelnder Herbsttag, als ein
junger Mensch von studentischem Ansehen durch die
Allee des Düsseldorfer Hofgartens langsam wanderte,
manchmal, wie aus kindischer Lust, das raschelnde
Laub, das den Boden bedeckte, mit den Füßen auf-
warf, manchmal aber auch wehmütig hinaufblickte
nach den dürren Bäumen, woran nur noch wenige
Goldblätter hingen. Wenn er so hinaufsah, dachte er
an die Worte des Glaukos:
»Gleich wie Blätter im Walde, so sind die Geschlechter der Menschen;
Blätter verweht zur Erde der Wind nun, andere treibt dann
Wieder der knospende Wald, wenn neu auflebet der Frühling;
So der Menschen Geschlecht, dies wächst, und jenes verschwindet.«
In frühern Tagen hatte der junge Mensch mit ganz
andern Gedanken an ebendieselben Bäume hinaufge-
sehen, und er war damals ein Knabe und suchte Vo-
gelnester oder Sommerkäfer, die ihn gar sehr ergötz-
ten, wenn sie lustig dahinsummten und sich der hüb-
schen Welt erfreuten und zufrieden waren mit einem
saftig-grünen Blättchen, mit einem Tröpfchen Tau,
mit einem warmen Sonnenstrahl und mit dem süßen
Kräuterduft. Damals war des Knaben Herz ebenso
vergnügt wie die flatternden Tierchen. Jetzt aber war
sein Herz älter geworden, die kleinen Sonnenstrahlen
waren darin erloschen, alle Blumen waren darin abge-
storben, sogar der schöne Traum der Liebe war darin
verblichen, im armen Herzen war nichts als Mut und
Gram, und damit ich das Schmerzlichste sage - es
war mein Herz.
Denselben Tag war ich zur alten Vaterstadt zurück-
gekehrt, aber ich wollte nicht darin übernachten und
sehnte mich nach Godesberg, um zu den Füßen mei-
ner Freundin mich niederzusetzen und von der kleinen
Veronika zu erzählen. Ich hatte die lieben Gräber be-
sucht. Von allen lebenden Freunden und Verwandten
hatte ich nur einen Ohm und eine Muhme wiederge-
funden. Fand ich auch sonst noch bekannte Gestalten
auf der Straße, so kannte mich doch niemand mehr,
und die Stadt selbst sah mich an mit fremden Augen,
viele Häuser waren unterdessen neu angestrichen wor-
den, aus den Fenstern guckten fremde Gesichter, um
die alten Schornsteine flatterten abgelebte Spatzen,
alles sah so tot und doch so frisch aus, wie Salat, der
auf einem Kirchhofe wächst; wo man sonst franzö-
sisch sprach, ward jetzt preußisch gesprochen, sogar
ein kleines preußisches Höfchen hatte sich
unterdessen dort angesiedelt, und die Leute trugen
Hoftitel, die ehemalige Friseurin meiner Mutter war
Hoffriseurin geworden, und es gab jetzt dort Hof-
schneider, Hofschuster, Hofwanzenvertilgerinnen,
Hofschnapsladen, die ganze Stadt schien ein Hoflaza-
rett für Hofgeisteskranke. Nur der alte Kurfürst er-
kannte mich, er stand noch auf dem alten Platz; aber
er schien magerer geworden zu sein. Eben weil er
immer mitten auf dem Markte stand, hatte er alle Mi-
sere der Zeit mit angesehen, und von solchem Anblick
wird man nicht fett. Ich war wie im Traume und dach-
te an das Märchen von den verzauberten Städten, und
ich eilte zum Tor hinaus, damit ich nicht zu früh er-
wachte. Im Hofgarten vermißte ich manchen Baum,
und mancher war verkrüppelt, und die vier großen
Pappeln, die mir sonst wie grüne Riesen erschienen,
waren klein geworden. Einige hübsche Mädchen gin-
gen spazieren, bunt geputzt, wie wandelnde Tulpen.
Und diese Tulpen hatte ich gekannt, als sie noch klei-
ne Zwiebelchen waren; denn ach! es waren ja Nach-
barskinder, womit ich einst »Prinzessin im Turme«
gespielt hatte. Aber die schönen Jungfrauen, die ich
einst als blühende Rosen gekannt, sah ich jetzt als
verwelkte Rosen, und in manche hohe Stirne, deren
Stolz mir einst das Herz entzückte, hatte Saturn mit
seiner Sense tiefe Runzeln eingeschnitten. Jetzt erst,
aber ach! viel zu spät, entdeckte ich, was der Blick
bedeuten sollte, den sie einst dem schon jünglinghaf-
ten Knaben zugeworfen; ich hatte unterdessen in der
Fremde manche Parallelstellen in schönen Augen be-
merkt. Tief bewegte mich das demütige Hutabnehmen
eines Mannes, den ich einst reich und vornehm gese-
hen und der seitdem zum Bettler herabgesunken war;
wie man denn überall sieht, daß die Menschen, wenn
sie einmal im Sinken sind, wie nach dem Newton-
schen Gesetze, immer entsetzlich schneller und
schneller ins Elend herabfallen. Wer mir aber gar
nicht verändert schien, das war der kleine Baron, der
lustig wie sonst durch den Hofgarten tänzelte, mit der
einen Hand den linken Rockschoß in der Höhe hal-
tend, mit der andern Hand sein dünnes Rohrstöckchen
hin und her schwingend; es war noch immer dasselbe
freundliche Gesichtchen, dessen Rosenröte sich nach
der Nase hin konzentriert, es war noch immer das alte
Kegelhütchen, es war noch immer das alte Zöpfchen,
nur daß aus diesem jetzt einige weiße Härchen statt
der ehemaligen schwarzen Härchen hervorkamen.
Aber so vergnügt er auch aussah, so wußte ich den-
noch, daß der arme Baron unterdessen viel Kummer
ausgestanden hatte, sein Gesichtchen wollte es mir
verbergen, aber die weißen Härchen seines Zöpfchens
haben es mir hinter seinem Rücken verraten. Und das
Zöpfchen selber hätte es gerne wieder abgeleugnet
und wackelte gar wehmütig lustig.
Ich war nicht müde, aber ich bekam doch Lust,
mich noch einmal auf die hölzerne Bank zu setzen, in
die ich einst den Namen meines Mädchens einge-
schnitten. Ich konnte ihn kaum wiederfinden, es
waren so viele neue Namen darüber hingeschnitzelt.
Ach! einst war ich auf dieser Bank eingeschlafen und
träumte von Glück und Liebe. »Träume sind Schäu-
me.« Auch die alten Kinderspiele kamen mir wieder
in den Sinn, auch die alten, hübschen Märchen; aber
ein neues falsches Spiel und ein neues häßliches Mär-
chen klang immer hindurch, und es war die Geschich-
te von zwei armen Seelen, die einander untreu wurden
und es nachher in der Treulosigkeit so weit brachten,
daß sie sogar dem lieben Gotte die Treue brachen. Es
ist eine böse Geschichte, und wenn man just nichts
Besseres zu tun weiß, kann man darüber weinen. O
Gott! einst war die Welt so hübsch, und die Vögel
sangen dein ewiges Lob, und die kleine Veronika sah
mich an mit stillen Augen, und wir saßen vor der mar-
mornen Statue auf dem Schloßplatz - auf der einen
Seite liegt das alte, verwüstete Schloß, worin es spukt
und nachts eine schwarzseidene Dame ohne Kopf mit
langer, rauschender Schleppe herumwandelt; auf der
andern Seite ist ein hohes weißes Gebäude, in dessen
oberen Gemächern die bunten Gemälde mit goldnen
Rahmen wunderbar glänzten und in dessen
Untergeschosse so viele tausend mächtige Bücher
standen, die ich und die kleine Veronika oft mit Neu-
gier betrachteten, wenn uns die fromme Ursula an die
großen Fenster hinanhob - Späterhin, als ich ein gro-
ßer Knabe geworden, erkletterte ich dort täglich die
höchsten Leitersprossen und holte die höchsten Bü-
cher herab und las darin so lange, bis ich mich vor
nichts mehr, am wenigsten vor Damen ohne Kopf,
fürchtete, und ich wurde so gescheut, daß ich alle alte
Spiele und Märchen und Bilder und die kleine Vero-
nika und sogar ihren Namen vergaß.
Während ich aber, auf der alten Bank des Hofgar-
tens sitzend, in die Vergangenheit zurückträumte,
hörte ich hinter mir verworrene Menschenstimmen,
welche das Schicksal der armen Franzosen beklagten,
die, im russischen Kriege als Gefangene nach Sibirien
geschleppt, dort mehre lange Jahre, obgleich schon
Frieden war, zurückgehalten worden und jetzt erst
heimkehrten. Als ich aufsah, erblickte ich wirklich
diese Waisenkinder des Ruhmes; durch die Risse
ihrer zerlumpten Uniformen lauschte das nackte
Elend, in ihren verwitterten Gesichtern lagen tiefe,
klagende Augen, und obgleich verstümmelt, ermattet
und meistens hinkend, blieben sie doch noch immer in
einer Art militärischen Schrittes, und seltsam genug!
ein Tambour mit einer Trommel schwankte voran;
und mit innerem Grauen ergriff mich die Erinnerung
an die Sage von den Soldaten, die des Tags in der
Schlacht gefallen und des Nachts wieder vom
Schlachtfelde aufstehen und mit dem Tambour an der
Spitze nach ihrer Vaterstadt marschieren und wovon
das alte Volkslied singt:
Er schlug die Trommel auf und nieder,
Sie sind vorm Nachtquartier schon wieder,
Ins Gäßlein hell hinaus,
Trallerie, Trallerei, Trallera,
Sie ziehn vor Schätzels Haus.
Da stehen morgens die Gebeine
In Reih und Glied, wie Leichensteine,
Die Trommel geht voran,
Trallerie, Trallerei, Trallera,
Daß sie ihn sehen kann.
Wahrlich, der arme französische Tambour schien
halb verwest aus dem Grabe gestiegen zu sein, es war
nur ein kleiner Schatten in einer schmutzig zerfetzten
grauen Kapotte, ein verstorben gelbes Gesicht, mit
einem großen Schnurrbarte, der wehmütig herabhing
über die verblichenen Lippen, die Augen waren wie
verbrannter Zunder, worin nur noch wenige Fünkchen
glimmen, und dennoch, an einem einzigen dieser
Fünkchen erkannte ich Monsieur Le Grand.
Er erkannte auch mich und zog mich nieder auf den
Rasen, und da saßen wir wieder wie sonst, als er mir
auf der Trommel die französische Sprache und die
neuere Geschichte dozierte. Es war noch immer die
wohlbekannte, alte Trommel, und ich konnte mich
nicht genug wundern, wie er sie vor russischer Hab-
sucht geschützt hatte. Er trommelte jetzt wieder wie
sonst, jedoch ohne dabei zu sprechen. Waren aber die
Lippen unheimlich zusammengekniffen, so sprachen
desto mehr seine Augen, die sieghaft aufleuchteten,
indem er die alten Märsche trommelte. Die Pappeln
neben uns erzitterten, als er wieder den roten Guilloti-
nenmarsch erdröhnen ließ. Auch die alten Freiheits-
kämpfe, die alten Schlachten, die Taten des Kaisers,
trommelte er wie sonst, und es schien, als sei die
Trommel selber ein lebendiges Wesen, das sich freu-
te, seine innere Lust aussprechen zu können. Ich hörte
wieder den Kanonendonner, das Pfeifen der Kugeln,
den Lärm der Schlacht, ich sah wieder den Todesmut
der Garde, ich sah wieder die flatternden Fahnen, ich
sah wieder den Kaiser zu Roß - aber allmählich
schlich sich ein trüber Ton in jene freudigsten Wirbel,
aus der Trommel drangen Laute, worin das wildeste
Jauchzen und das entsetzlichste Trauern unheimlich
gemischt waren, es schien ein Siegesmarsch und zu-
gleich ein Totenmarsch, die Augen Le Grands öffne-
ten sich geisterhaft weit, und ich sah darin nichts als
ein weites, weißes Eisfeld, bedeckt mit Leichen - es
war die Schlacht bei der Moskwa.
Ich hätte nie gedacht, daß die alte, harte Trommel
so schmerzliche Laute von sich geben könnte, wie
jetzt Monsieur Le Grand daraus hervorzulocken
wußte. Es waren getrommelte Tränen, und sie tönten
immer leiser, und wie ein trübes Echo brachen tiefe
Seufzer aus der Brust Le Grands. Und dieser wurde
immer matter und gespenstischer, seine dürren Hände
zitterten vor Frost, er saß wie im Traume und bewegte
mit seinen Trommelstöcken nur die Luft und horchte
wie auf ferne Stimmen, und endlich schaute er mich
an, mit einem tiefen, abgrundtiefen, flehenden Blick -
ich verstand ihn -, und dann sank sein Haupt herab
auf die Trommel.
Monsieur Le Grand hat in diesem Leben nie mehr
getrommelt. Auch seine Trommel hat nie mehr einen
Ton von sich gegeben, sie sollte keinem Feinde der
Freiheit zu einem servilen Zapfenstreich dienen, ich
hatte den letzten, flehenden Blick Le Grands sehr gut
verstanden und zog sogleich den Degen aus meinem
Stock und zerstach die Trommel.
Kapitel I-X | Kapitel
XI-XX
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