nach Müller, Helmut M.: Schlaglichter der deutschen Geschichte. Bonn 1994
Die 25 Jahre deutscher Geschichte dieses Kapitels sind im wesentlichen geprägt durch Einflüsse und Einwirkungen, die ihren Verlauf von außen bestimmt haben. Dieser Zeitabschnitt wird von der Französichen Revolution eingeleitet. Sie brach auf, als sich in Frankreich die seit einem Jahrhundert gewachsene Spannung zwischen der in ihrer Leistungsfähigkeit erlahmten absolutistischen Monarchie und dem nach sozialer und politischer Emanzipation strebenden Bürgertum zur fundamentalen Staatskrise verdichtete; die wichtigsten Antriebskräfte waren dabei die Aufklärung und die politische Theorie des Liberalismus. In ihrem Verlauf sind zum ersten Mal in der Geschichte alle Merkmale einer Revolution, d.h. einer grundlegenden gesellschaftlichen und politischen Umgestaltung, nachweisbar, weshalb ihr weltgeschichtliche Bedeutung beigemessen wird. Zu einer der Französischen Revolution vergleichbaren Umwälzung ist es in Deutschland nicht gekommen, weil dafür die Voraussetzungen fehlten. Dennoch sind die Ereignisse der französischen Geschichte ab 1789 an Deutschland nicht spurlos vorübergegangen. Der militärische Zusammenstoß zwischen dem neuen Frankreich, das in den Revolutionen- und in den Napoleonischen Kriegen Sieg auf Sieg erringen konnte und sich schließlich unter Napoleon zum Herrn über halb Europa aufschwang, und dem alten Deutschland mit seinen aufgeklärt-absolutistischen Großmächten Preußen und Österreich und den noch in der ständisch gegliederten feudalen Verfassung verharrenden übrigen Ländern des Reiches führte in Deutschland - wie im gesamten Europa - zu einer völligen Umgestaltung der territorialen und politischen Verhältnisse. Der Kaiser und Teich von Napoleon diktierte Friede von Lunéville (1801) leitete mit dem Eingriff in die territoriale Integrität des Reiches durch die Abtretung des linken Rheinufers dessen Auflösung und zugleich die durch Napoleon bestimmte Neuordnung der staatlichen Gliederung Deutschlands ein. Diese nahm im Reichsdeputationshauptschluß von 1803 und den folgenden territorialen Flurbereinigungen Gestalt an: Die alte Zerstückelung des Reichsgebiets wurde weitgehend beseitigt, die gestärkten Mittelstaaten bildeten ein "Drittes Deutschland", das sich unter Napoleons Protektorat 1806 zum Rheinbund zusammenschloß. Diese Veränderungen waren Voraussetzungen für die Errichtung moderner Staaten und beschleunigten den Niedergang des alten Reiches: Die Säkularisation und das Ende der alten Reichskirche 1803 erschütterten dessen Verfassung ebenso wie der Austritt der Rheinbundstaaten aus dem Reichsverband 1806 und die Annahme des Titels eines Kaisers von Österreich durch Franz II. 1804. Als dieser 1806 schließlich die Reichskrone niederlegte und das Reich für aufgelöst erklärte, war das lediglich der Endpunkt einer langen Entwicklung. Die Kriege der europäischen Koalitionen gegen Napoleon führten 1806/7 zum Zusammenbruch Preußens, das im Frieden von Tilsit 1807 ebenso wie Österreich in Frieden von Schönbrunn 1809 zu einer von Napoleon abhängigen Macht zweiten Ranges herabsank. Während Deutschland politisch darniederlag, Napoleons Regimenter in Wien und Berlin paradierten, erlangten deutsche Dichter und Denker Weltruhm und begründeten die große Geistesepoche der Klassik. Die katastrophalen Niederlagen durch das französische Volksheer erwiesen, daß in Deutschland die veralteten Staats-, Heeres-, und Sozialverfassungen erneuert werden, daß freie und gleichberechtigte Bürger im Sinne der Französischen Revolution am Gemeinwesen beteiligt werden mußten, wenn die Rheinbundstaaten ihre staatliche Souveränität wahren wollten, wenn die Rheinbundstaaten ihre staatliche Souveränität wahren wollten, wenn Preußen sich von der französischen Besetzung befreien wollte. So kam es in der napoleonischen Zeit vor allem in diesen Gebieten zu einer Reihe von inneren Reformen, wobei besonders die Rheinbundstaaten vom französischen Vorbild beeinflußt wurden: Die Vorrechte des Adels wurden vielfach eingeschränkt oder aufgehoben; die Bauernbefreiung wird begonnen, womit die feudalen Zwischengewalten beseitigt und allgemeine Freiheit und Gleichheit hergestellt wurden. In diesem Zusammenhang ist auch die Judenemanzipation zu erwähnen. Die obersten Staatsbehörden wurden neu organisiert; die Verwaltung wurde effektiver gestaltet, wobei die süddeutschen Staaten die alten Kernstaaten mit den neugewonnenen Gebieten durch den Aufbau einer modernen, zentralistisch organisierten Verwaltung zusammenzuschweißen suchten, während in Preußen durch die Provinzeneinteilung die Verwaltung Elemente einer Dezentralisation aufwies; überdies wurde hier vom Freiherrn vom Stein die Selbstverwaltung auf kommunaler Ebene eingeführt. Die Staatseinnahmen werden auf eine neue Grundlage gestellt, indem die Gleichheit der Besteuerung durchgesetzt oder angestrebt wurde. Die Reform der Heeresverfassungen, vor allem die allgemeine Volksbewaffnung durch Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, wurde in Angriff genommen, Die teilweise oder völlige Befreiung des Handwerks von den Fesseln des Zunftzwangs bereitete der Industrialisierung den Weg. Schließlich sollte durch Erneuerung des Bildungswesens die Gesellschaft zum Wohle des Staatsganzen aktiviert werden. - Hauptträger dieser Reformen war ein modernes, leistungsfähiges Beamtentum, das sich nach dem Ausleseprinzip von Prüfung und Leistung rekrutierte und dessen höchste Positionen ebenso wie die militärischen jetzt auch Bürgerlichen offenstanden. Die Neuerungen bereiteten den Übergang zum Verfassungsstaat des 19. Jahrhunderts vor. Alle diese Reformprogramme waren noch unvollendet. als in Winter 1812/13 die von einer nationalen und liberalen Bewegung getragenen Befreiungskriege ausbrachen, nachdem Napoleons Offensive gegen Rußland 1812 gescheitert war. Er werden 1813 von einer Koalition aus den Großmächten des Kontinents und Großbritannien geschlagen; das Rheinbundsystem brach zusammen, Napoleon mußte im April 1814 abdanken und in die Verbannung gehen; er konnte auch nach seiner Rückkehr im März 1815 seine alte Machtposition nicht wiedergewinnen und starb 1821 in der Verbannung. In den Pariser Friedensschlüssen 1814/15 wurde Frankreich auf die Grenzen von 1792 zurückgeworfen. Die territoriale Neuordnung des übrigen Europa wurde auf dem Wiener Kongreß 1814/15 geregelt: Das vorrevolutionäre Gleichgewicht der europäischen Mächte wurde wiederhergestellt; jedoch auch die im Zuge der Napoleonischen Herrschaft erfolgten Veränderungen blieben zum Teil erhalten: Die territorialen Verschiebungen, von denen fast sämtliche europäischen Staaten durch Napoleons Eroberungen betroffen waren, wurden größtenteils rückgängig gemacht. Andererseits wurde das alte deutsche Reich nicht wiederhergestellt; die deutschen Mittelstaaten behielten ihre Souveränität. Auch die inneren Reformen konnten nicht gänzlich ungeschehen gemacht werden. Im Zeichen der europäischen Gleichgewichtspolitik wurden die beiden deutschen Großmächte Preußen und Österreich wiederhergestellt. Durch die wiedergewonnenen Gebiete einerseits und die Gebietsabtretungen andererseits verlagerte sich der territoriale Schwerpunkt Österreichs nach Süden und Südosten; es verlor seine Stellung als zentraleuropäische Macht. Dagegen gewann Preußen im Westen Land hinzu. Diese auf dem Wiener Kongreß vorgenommenen Weichenstellungen sollten sich bei der Entscheidung der deutschen Frage als folgenreich erweisen, die hier für alle, die mit nationalen Hoffnungen in die Befreiungskriege gezogen waren, mit der Schaffung des Deutschen Bundes, eines losen Zusammenschlusses aller deutschen Fürsten, nicht befriedigend gelöst worden war. Der Ruf nach dem einigen deutschen Vaterland sollte sich verbinden mit der Forderung nach bürgerlichen Freiheitsrechten.
Die 35 Jahre vom Wiener Kongreß bis zum Scheitern der Revolution von 1848/29 werden im allgemeinen das Zeitalter der Restauration und Revolution genannt. Damit sind die beiden entgegengesetzten miteinander ringenden Hauptströmungen der Zeit bezeichnet, die Geschichte dieser Jahre ganz wesentlich bestimmt haben. Auch sonst ist diese Zeit eine Epoche der Gegensätze, eine Zeit des Umbruchs auf zahlreichen Gebieten, in der Altes noch Bestand hat, aber Neues daneben sich immer stärker ausbildet. Es ist die Zeit der Idylle, und es ist auch die Zeit der Verdächtigungen und Verfolgungen, der Verhaftungen und Verurteilungen. Es ist die Zeit des behaglich-privaten Lebens im kleinbürgerlichen Milieu des "Biedermeier", und es ist zugleich die Zeit, in der immer mehr Menschen politisches Bewußtsein entwickeln und von dem Herrschenden die Teilhabe an der Macht fordern. Es ist noch die Zeit der Postkutschen und doch schon die der Eisenbahnen mit der ersten Bauphase eines sich schnell ausweitenden Schienennetzes: Die kommende industrielle Revolution kündigt sich bereits an. Am Beginn dieser Epoche steht das Werk des Wiener Kongresses, steht die wiederhergestellte (restaurierte) europäische Ordnung nach Beseitigung der durch die Französische Revolution und die napoleonische Herrschaft verursachten Veränderungen. Es ist, soweit es Mittel- und Osteuropa betrifft, vornehmlich ein Werk der Monarchen- des russischen Zaren, des österreichischen Kaisers und des preußischen Königs- und ihrer Berater mit dem österrischen Außenminister Fürst Metternich an der Spitze. In der von ihnen beschlossenen "Heiligen Allianz" verpflichteten sich die drei Herrscher feierlich, diese Ordnung zu garantieren und streng darüber zu wachen, daß künftig keine der mit der Französischen Revolution freigesetzten Kräfte erneut die Völker in Unruhe versetzen und die erreichte Friedensordnung in Frage stellen könne. Nicht wiederhergestellt wurde das alte, 1806 aufgelöste "Heilige Römische Reich deutscher Nation". Statt dessen entstand auf deutschem Boden aus den noch existierenden oder wiederhergestellten 35 deutschen souveränen Fürstenstaaten und den letzten vier freien Reichsstädten ein loser Staatenbund. der lediglich durch die ständig in Frankfurt am Main tagende Gesandtenkonferenz zusammengehalten wurde. Das aber ist nicht das von den Dichtern der Freiheitskriege besungene deutsche Vaterland, für das die Freiwilligen von 1813 in den Kampf gegen Napoleon gezogen waren. Enttäuschung und Verbitterung bewegt die heimkehrenden Soldaten, vor allem die in die Hörsäle zurückgekehrten Studenten. Mit der Gründung der alle bisherigen Landsmannschaften einbeziehenden Burschenschaft geben die Studenten zu erkennen, daß die dieses künstliche Gebilde nicht akzeptieren, daß sie vielmehr mit ihrem Bund das kommende, das wirkliche geeinte deutsche Vaterland vorwegnehmen wollen. Die nationale Bewegung, gepaart mit der liberalen in der Forderung nach einer Verfassung, die Freiheitsrechte des einzelnen und die Mitwirkung des Volkes am politischen Geschehen festschreibt, breitet sich rasch aus. Sie ist auch durch Verbote und Verfolgungen nicht mehr aufzuhalten. Diese nationale Bewegung ist keine auf Deutschland beschränkte Erscheinung, sie erfaßt gleichzeitig nahezu ganz Kontinentaleuropa. Überall erheben sich jetzt die unterdrückten Völker zum Freiheitskampf, Polen und Ungarn, Griechen und Italiener, Tschechen und Kroaten. Die deutschen Freiheitskämpfer solidarisieren sich mit diesen Völkern. der Polizeistaat bringt den Ruf nach Einheit und Freiheit nicht zum Schweigen. Im Februar 1848 springt der Funke der Revolution von Frankreich auf Deutschland über und führt im März in fast allen deutschen Staaten, auch in Berlin und Wien, zu spontanen Erhebungen des Volkes, vor denen die alten Gewalten überall zurückweichen. Es kommt zur Einrichtung liberaler Ministerien und zu Zugeständnissen an die Revolutionäre, deren Führer noch weitgehend der bürgerlichen Oberschicht angehören. Metternich, der verhaßte Exponent der Restaurationspolitik, muß zurücktreten. Alle Staaten stimmen schließlich der Durchführung allgemeiner und gleicher Wahlen und dem Zusammentritt einer Nationalversammlung in Frankfurt am Main zu. Mit Böllerschüssen und Glockengeläut wird der Einzug der gewählten Volksvertreter in die Paulskirche gefeiert, eine neue Zeit scheint für die Deutschen angebrochen zu sein. Aber während noch die Abgeordneten dieses "Honoratioren"-Parlaments in der Paulskirche über die Verfassung des neuen Deutschland beraten und sich lange und leidenschaftlich über die Form und die Ausmaße des künftigen Reiches streiten, wird schnell erkennbar, daß die Fürsten der Einzelstaaten nicht gewillt sind, Macht an die Nationalversammlung und die sogenannte Reichsregierung in Frankfurt abzugeben. Vor allem die beiden Großmächte Österreich und Preußen gewinnen nach dem ersten Schock im März 1848 rasch ihr Machtbewußtsein zurück und betreiben wieder Politik, ohne die Nationalversammlung in Frankfurt miteinzubeziehen. Als schließlich der preußische König die ihm von den Parlamentariern angetragene Krone des "Kaisers der Deutschen" brüsk zurückweist, ist die Nationalversammlung am Ende. Die National-Konservativen und die Liberal-Gemäßigten resignieren, ja, sie nehmen jetzt sogar aus Furcht vor der Radikalisierung der Revolution Verbindung zu den alten Mächten auf. Die linksdemokratischen Abgeordneten allein bemühen sich, mit der Verlegung des Rumpfparlamentes nach Stuttgart die Verfasssungsarbeit neu zu beleben und die Revolution doch noch zu vollenden, indem sie die Abschaffung der Monarchien fordern. Die von ihnen geförderten Aufstände radikaler Kräfte in Baden, in der Pfalz und in Sachsen aber werden mit Hilfe preußischer Truppen rasch niedergeschlagen. Die Reaktion hat gesiegt, die Aufbruchstimmung der Frühjahrsmonate des Jahres 1848 ist verflogen. Der Versuch, ein neues Deutschland, eine parlamentarische Monarchie zu errichten und die bisher souveränen Einzelstaaten zu bewegen, in diesem neuen Reich sich mit der ihnen in der Verfassung zugewiesenen Rolle im "Staatenhaus" zufrieden zu geben, ist gescheitert. Aber dennoch wird der alte Zustand vor der Revolution nirgends wiederherstellt. Auch in Preußen und in Österreich werden jetzt Verfassungen eingeführt, die allerdings die Monarchen "von oben" und ohne Mitwirkung der Völker erlassen. Die Epoche ist damit beendet, aber am Horizont kündigen sich bereits neue Verwicklungen an. Mit der Industrialisierung, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten die Ausmaße einer industriellen Revolution mit vielen negativen Begleiterscheinungen annehmen wird, tritt nun zunehmend die soziale Frage in den Vordergrund. Neben den Kräften des Nationalismus und des Liberalismus, die geschichtliche Entwicklung vom Beginn des Jahrhunderts an wesentlich geprägt haben, tritt nun der Sozialismus und meldet seine Ansprüche an. Er wird sogleich internationale Dimensionen annehmen. Das am Vorabend der Revolution von 1848 von Marx und Engels verkündete "Kommunistische Manifest" hat den Kampfruf des Sozialismus zuerst ausgesprochen: "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" In der 48er Revolution noch kaum beachtet, wird dieser Ruf bis weit in das 20. Jahrhundert hinein nicht mehr verstummen und die Welt in Atem halten.