Die Götter im Exil

aus Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden, hg. von Hans Kaufmann, 2. Auflage,
Berlin und Weimar: Aufbau, 1972. Bd. 7, S. 57

français

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Er mag auch noch so sehr horchen,
so hört er doch nichts als ein unsäglich leises Zirpen und Knistern.
Nur dann und wann schießt schrillend eine Möwe über sein Haupt,
oder es taucht neben ihm aus der Flut ein Fisch hervor,
der ihn blöde anglotzt.
Es gähnt die Nacht, und frostiger weht die
Seeluft. Überall nur Wasser, Mondschein und Stille;
und schweigsam, wie seine Umgebung, ist der Schif-
fer, der endlich an der. Weißen Insel anlangt und mit
seinem Kahne stillhält. Auf dem Strande sieht er nie-
mand, aber er hört eine schrille, asthmatisch keu-
chende und greinende Stimme, worin er die des Hol-
länders erkennt; derselbe scheint ein Verzeichnis von
lauter Eigennamen abzulesen, in einer gewissen veri-
fizierenden, monotonen Weise; unter diesen Namen
sind dem Fischer manche bekannt und gehören Perso-
nen, die in demselben Jahr verstorben. Während dem
Ablesen dieses Namenverzeichnisses wird der Kahn
immer leichter, und lag er eben noch so schwer im
Sande des Ufers, so hebt er sich jetzt plötzlich leicht
empor, sobald die Ablesung zu Ende ist; und der
Schiffer, welcher daran merkt, daß seine Ladung rich-
tig in Empfang genommen ist, fährt wieder ruhig zu-
rück zu Weib und Kind, nach seinem lieben Hause
am Siel.
So geht es jedesmal mit dem Überschiffen der See-
len nach der Weißen Insel. Als einen besondern Um-
stand bemerkte einst der Schiffer, daß der unsichtbare
Kontrolleur im Ablesen des Namenverzeichnisses
plötzlich innehielt und ausrief: »Wo ist aber Pitter
Jansen? Das ist nicht Pitter Jansen.« Worauf ein fei-
nes, wimmerndes Stimmchen antwortete: »Ik bin Pit-
ter Jansens Mieke un häb mi op mines Manns Noame
inskreberen laten.« (Ich bin Pitter Jansens Mieke und
habe mich auf meines Mannes Namen einschreiben
lassen.)
Ich habe mich oben vermessen, trotz der pfiffigen
Vermummung die wichtige mythologische Person zu
erraten, die in obiger Tradition zum Vorschein
kommt. Dieses ist keine geringere als der Gott Mercu-
rius, der ehemalige Seelenführer, Hermes Psychopom-
pos. Ja, unter jener schäbigen Houppelande und in
jener nüchternen Krämergestalt verbirgt sich der bril-
lanteste jugendliche Heidengott, der kluge Sohn der
Maja. Auf jenem dreieckigen Hütchen steckt auch
nicht der geringste Federwisch, der an die Fittiche der
göttlichen Kopfbedeckung erinnern könnte, und die
plumpen Schuhe mit den stählernen Schnallen mah-
nen nicht im mindesten an beflügelte Sandalen; dieses
holländisch schwerfällige Blei ist so ganz verschieden
von dem beweglichen Quecksilber, dem der Gott
sogar seinen Namen verliehen: aber eben der Kontrast
verrät die Absicht, und der Gott wählte diese Maske,
um sich desto sicherer verstellt zu halten. Vielleicht
aber wählte er sie keineswegs aus willkürlicher
Laune: Merkur war, wie ihr wißt, zu gleicher Zeit der
Gott der Diebe und der Kaufleute, und es lag nahe,
daß er bei der Wahl einer Maske, die ihn verbergen,
und eines Gewerbes, das ihn ernähren könnte, auf
seine Antezedenzien und Talente Rücksicht nahm.
Letztere waren erprobt: er war der erfindungsreichste
der Olympier, er hatte die Schildkrötenlyra und das
Sonnengas erfunden, er bestahl Menschen und Götter,
und schon als Kind war er ein kleiner Calmonius, der
seiner Wiege entschlüpfte, um ein paar Rinder zu sti-
bitzen. Er hatte zu wählen zwischen den zwei Indu-
strien, die im wesentlichen nicht sehr verschieden, da
bei beiden die Aufgabe gestellt ist, das fremde Eigen-
tum so wohlfeil als möglich zu erlangen; aber der
pfiffige Gott bedachte, daß der Diebesstand in der öf-
fentlichen Meinung keine so hohe Achtung genießt
wie der Handelsstand, daß jener von der Polizei ver-
pönt, während dieser von den Gesetzen sogar privile-
giert ist, daß die Kaufleute jetzt auf der Leiter der
Ehre die höchste Staffel erklimmen, während die vom
Diebesstand manchmal eine minder angenehme Leiter
besteigen müssen, daß sie Freiheit und Leben aufs
Spiel setzen, während der Kaufmann nur seine Kapi-
talien oder nur die seiner Freunde einbüßen kann, und
der pfiffigste der Götter ward Kaufmann, und um es
vollständig zu sein, ward er sogar Holländer. Seine
lange Praxis als ehemaliger Psychopompos, als
Schattenführer, machte ihn besonders geeignet für die
Spedition der Seelen, deren Iransport nach der Wei-
ßen Insel, wie wir sahen, durch ihn betrieben wird.
Die Weiße Insel wird zuweilen auch Brea oder Bri-
tinia genannt. Denkt man vielleicht an das weiße Al-
bion, an die Kalkfelsen der englischen Küste? Es
wäre eine humoristische Idee, wenn man England als
ein Totenland, als das plutonische Reich, als die
Hölle bezeichnen wollte. England mag in der Tat
manchem Fremden in solcher Gestalt erscheinen.
In einem Versuche über die Faustlegende habe ich
den Volksglauben in bezug auf das Reich des Pluto
und diesen selbst hinlänglich besprochen. Ich habe
dort gezeigt, wie das alte Schattenreich eine ausgebil-
dete Hölle und der alte finstre Beherrscher desselben
ganz diabolisiert wurde. Aber nur durch den Kanze-
leistil der Kirche klingen die Dinge so grell; trotz dem
christlichen Anathema blieb die Position des Pluto
wesentlich dieselbe. Er, der Gott der Unterwelt, und
sein Bruder Neptunus, der Gott des Meeres, diese bei-
den sind nicht emigriert wie andre Götter, und auch
nach dem Siege des Christentums blieben sie in ihren
Domänen, in ihrem Elemente. Mochte man hier oben
auf Erden das Tollste von ihm fabeln, der alte Pluto
saß unten warm bei seiner Proserpina. Weit weniger
Verunglimpfungen als sein Bruder Pluto hatte
Neptunus zu erdulden, und weder Glockengeläute
noch Orgelklänge konnten sein Ohr verletzen da
unten in seinem Ozean, wo er ruhig saß bei seiner
weißbusigen Frau Amphitrite und seinem feuchten
Hofstaat von Nereiden und Tritonen. Nur zuweilen,
wenn irgendein junger Seemann zum ersten Male die
Linie passierte, tauchte er empor aus seiner Flut, in
der Hand den Dreizack schwingend, das Haupt mit
Schilf bekränzt und der silberne Wellenbart herabwal-
lend bis zum Nabel. Er erteilte alsdann dem Neophy-
ten die schreckliche Seewassertaufe und hielt dabei
eine lange, salbungsreiche Rede, voll von derben
Seemannswitzen, die er nebst der gelben Lauge des
gekauten Tabaks mehr ausspuckte als sprach, zum Er-
götzen seiner beteerten Zuhörer. Ein Freund, welcher
mir ausführlich beschrieb, wie ein solches Wassermy-
sterium von den Seeleuten auf den Schiffen tragiert
wird, versicherte, daß eben jene Matrosen, welche am
tollsten über die drollige Fastnachtsfratze des Nep-
tuns lachten, dennoch keinen Augenblick an der Exi-
stenz eines solchen Meergottes zweifelten und manch-
mal in großen Gefahren zu ihm beteten.
Neptunus blieb also der Beherrscher des Wasser-
reichs, wie Pluto trotz seiner Diabolisierung der Fürst
der Unterwelt blieb. Ihnen ging es besser als ihrem
Bruder Jupiter, dem dritten Sohn des Saturn, welcher
nach dem Sturz seines Vaters die Herrschaft des Him-
mels erlangt hatte und sorglos als König der Welt im
Olymp mit seinem glänzenden Troß von lachen den
Göttern, Göttinnen und Ehrennymphen sein ambrosi-
sches Freudenregiment führte. Als die unselige Kata-
strophe hereinbrach, als das Regiment des Kreuzes,
des Leidens, proklamiert ward, emigrierte auch der
große Kronide, und er verschwand im Tumulte der
Völkerwanderung. Seine Spur ging verloren, und ich
habe vergebens alte Chroniken und alte Weiber be-
fragt, niemand wußte mir Auskunft zu geben über
sein Schicksal. Ich habe in derselben Absicht viele
Bibliotheken durchstöbert, wo ich mir die prachtvoll-
sten Codices, geschmückt mit Gold und Edelsteinen,
wahre Odalisken im Harem der Wissenschaft, zeigen
ließ, und ich sage den gelehrten Eunuchen für die
Unbrummigkeit und sogar Affabilität, womit sie mir
jene leuchtenden Schätze erschlossen, hier öffentlich
den üblichen Dank. Es scheint, als hätten sich keine
volkstümlichen Traditionen über einen mittelalterli-
chen Jupiter erhalten, und alles, was ich aufgegabelt,
besteht in einer Geschichte, welche mir einst mein
Freund Niels Andersen erzählte.
Ich habe soeben Niels Andersen genannt, und die
liebe drollige Figur steigt wieder lebendig in meiner
Erinnerung herauf. Ich will ihm hier einige Zeilen
widmen. Ich gebe gern meine Quellen an, und ich er-
örtere ihre Eigenschaften, damit der geneigte Leser
selbst beurteile, inwieweit sie sein Vertrauen
verdienen. Also einige Worte über meine Quelle.
Niels Andersen, geboren zu Drontheim in Norwe-
gen, war einer der größten Walfischjäger, die ich ken-
nenlernte. Ich bin ihm sehr verpflichtet. Ihm verdanke
ich alle meine Kenntnisse in bezug auf den Walfisch-
fang. Er machte mich bekannt mit allen Finten, die
das kluge Tier anwendet, um dem Jäger zu entrinnen;
er vertraute mir die Kriegslisten, womit man seine
Finten vereitelt. Er lehrte mich die Handgriffe beim
Schwingen der Harpune, zeigte mir, wie man mit dem
Knie des rechten Beines sich gegen den Vorderrand
des Kahnes stemmen muß, wenn man die Harpune
nach dem Walfisch wirft, und wie man mit dem lin-
ken Bein einen gesalzenen Fußtritt dem Matrosen ver-
setzt, der das Seil, das an der Harpune befestigt ist,
nicht schnell genug nachschießen ließ. Ihm verdanke
ich alles, und wenn ich kein großer Walfischjäger ge-
worden, so liegt die Schuld weder an Niels Andersen
noch an mir, sondern an meinem bösen Schicksal, das
mir nicht vergönnte, auf meinen Lebensfahrten ir-
gendeinen Walfisch anzutreffen, mit welchem ich
einen würdigen Kampf bestehen konnte. Ich begegne-
te nur gewöhnlichen Stockfischen und lausigen Herin-
gen. Was hilft die beste Harpune gegen einen Hering?
Jetzt muß ich allen Jagdhoffnungen entsagen, meiner
gesteiften Beine wegen. Als ich Niels Andersen zu
Ritzebüttel bei Kuxhaven kennenlernte, war er
ebenfalls nicht mehr gut auf den Füßen, da am Sene-
gal ein junger Haifisch, der vielleicht sein rechtes
Bein für ein Zuckerstängelchen ansah, ihm dasselbe
abbiß und der arme Niels seitdem auf einem Stelzfuß
herumhumpeln mußte. Sein größtes Vergnügen war
damals, auf einer hohen Tonne zu sitzen und auf dem
Bauche derselben mit seinem hölzernen Beine zu
trommeln. Ich half ihm oft die Tonne erklettern, aber
ich wollte ihm manchmal nicht wieder hinunterhelfen,
ehe er mir eine seiner wunderlichen Fischersagen er-
zählte.
Wie Muhamet Eben Mansur seine Lieder immer
mit einem Lob des Pferdes anfing, so begann Niels
Andersen alle seine Geschichten mit einer Apologie
des Walfisches. Auch die Legende, die wir ihm hier
nacherzählen, ermangelt nicht einer solchen Lob-
spende. Der Walfisch, sagte Niels Andersen, sei nicht
bloß das größte, sondern auch das schönste Tier. Aus
den zwei Naslöchern auf seinem Kopfe sprängen zwei
kolossale Wasserstrahlen, die ihm das Ansehen eines
wunderbaren Springbrunnens gäben und gar beson-
ders des Nachts im Mondschein einen magischen Ef-
fekt hervorbrächten. Dabei sei er gutmütig, friedliebig
und habe viel Sinn für stilles Familienleben. Es ge-
währe einen rührenden Anblick, wenn Vater Walfisch
mit den Seinen auf einer ungeheuern Eisscholle sich
hingelagert und jung und alt sich um ihn her in
Liebesspielen und harmlosen Neckereien überböten.
Manchmal springen sie alle auf einmal ins Wasser,
um zwischen den großen Eisblöcken Blindekuh zu
spielen. Die Sittenreinheit und die Keuschheit der
Walfische wird weit mehr gefördert durch das Eis-
wasser, worin sie beständig mit den Flossen herum-
schwänzeln, als durch moralische Prinzipien. Es sei
auch leider nicht zu leugnen, daß sie keinen religiösen
Sinn haben, daß sie ganz ohne Religion sind -
»Ich glaube, das ist ein Irrtum« - unterbrach ich
meinen Freund - , »ich habe jüngst den Bericht eines
holländischen Missionärs gelesen, worin dieser die
Herrlichkeit der Schöpfung beschreibt, die sich in den
hohen Polargegenden offenbare, wenn des Morgens
die Sonne aufgegangen und das Tageslicht die aben-
teuerlichen, riesenhaften Eismassen bestrahlt. Diese,
sagte er, welche alsdann an diamantne Märchen-
schlösser erinnern, geben von Gottes Allmacht ein so
imposantes Zeugnis, daß nicht bloß der Mensch, son-
dern sogar die rohe Fischkreatur, von solchem An-
blick ergriffen, den Schöpfer anbete - mit seinen ei-
genen Augen, versichert der Domine, habe er mehre
Walfische gesehen, die, an einer Eiswand gelehnt,
dort aufrecht standen und sich mit dem Oberteil auf
und nieder bewegten, wie Betende.«

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