Die Götter im Exil

aus Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden, hg. von Hans Kaufmann, 2. Auflage,
Berlin und Weimar: Aufbau, 1972. Bd. 7, S. 57

français

I | II | III | IV

Schon in meinen frühesten Schriften besprach ich
die Idee, welcher die nachfolgenden Mitteilungen ent-
sprossen. Ich rede nämlich hier wieder von der Um-
wandlung in Dämonen, welche die griechisch-römi-
schen Gottheiten erlitten haben, als das Christentum
zur Oberherrschaft in der Welt gelangte. Der Volks-
glaube schrieb jenen Göttern jetzt eine zwar wirkli-
che, aber vermaledeite Existenz zu, in dieser Ansicht
ganz übereinstimmend mit der Lehre der Kirche.
Letztere erklärte die alten Götter keineswegs, wie es
die Philosophen getan, für Schimären, für Ausgebur-
ten des Lugs und des Irrtums, sondern sie hielt sie
vielmehr für böse Geister, welche, durch den Sieg
Christi vom Lichtgipfel ihrer Macht gestürzt, jetzt auf
Erden, im Dunkel alter Tempeltrümmer oder Zauber-
wälder, ihr Wesen trieben und die schwachen Chri-
stenmenschen, die sich hierhin verirrt, durch ihre ver-
führerischen Teufelskünste, durch Wollust und
Schönheit, besonders durch Tänze und Gesang, zum
Abfall verlockten. Alles, was auf dieses Thema Bezug
hat, die Umgestaltung der alten Naturkulte in Satans-
dienst und des heidnischen Priestertums in Hexerei,
diese Verteuflung der Götter habe ich sowohl im
zweiten wie im dritten Teile des »Salon« unumwun-
den besprochen, und ich glaube mich jetzt um so
mehr jeder weitern Besprechung überheben zu
können, da seitdem viele andre Schriftsteller, sowohl
der Spur meiner Andeutungen folgend als auch ange-
regt durch die Winke, welche ich über die Wichtigkeit
des Gegenstandes erteilt, jenes Thema viel weitläufi-
ger, umfassender und gründlicher als ich behandelt
haben. Wenn sie bei dieser Gelegenheit nicht den
Namen des Autors erwähnt, der sich das Verdienst
der Initiative erworben, so war dieses gewiß eine Ver-
geßlichkeit von geringem Belang. Ich selbst will
einen solchen Anspruch nicht sehr hoch anschlagen.
In der Tat, es ist wahr, das Thema, das ich aufs Tapet
brachte, war keine Neuigkeit; aber es hat mit solchem
Vulgarisieren alter Ideen immer dieselbe Bewandtnis
wie mit dem Ei des Kolumbus. Jeder hat die Sache
gewußt, aber keiner hat sie gesagt. Ja, was ich sagte,
war keine Novität und befand sich längst gedruckt in
den ehrwürdigen Folianten und Quartanten der Kom-
pilatoren und Antiquare, in diesen Katakomben der
Gelehrsamkeit, wo zuweilen mit einer grauenhaften
Symmetrie, die noch weit schrecklicher ist als wüste
Willkür, die heterogensten Gedankenknochen aufge-
schichtet - Auch gestehe ich, daß ebenfalls moderne
Gelehrte das erwähnte Thema behandelt; aber sie
haben es sozusagen eingesargt in die hölzernen Mu-
mienkasten ihrer konfusen und abstrakten Wissen-
schaftssprache, die das große Publikum nicht entzif-
fern kann und für ägyptische Hieroglyphen halten
dürfte. Aus solchen Grüften und Beinhäusern habe ich
den Gedanken wieder zum wirklichen Leben herauf-
beschworen, durch die Zaubermacht des allgemein-
verständlichen Wortes, durch die Schwarzkunst eines
gesunden, klaren, volkstümlichen Stiles!
Doch ich kehre zurück zu meinem Thema, dessen
Grundidee, wie oben angedeutet, hier nicht weiter er-
örtert werden soll. Nur mit wenigen Worten will ich
den Leser darauf aufmerksam machen, wie die armen
alten Götter, von welchen oben die Rede, zur Zeit des
definitiven Sieges des Christentums, also im dritten
Jahrhundert, in Verlegenheiten gerieten, die mit älte-
ren traurigen Zuständen ihres Götterlebens die größte
Analogie boten. Sie befanden sich nämlich jetzt in die
selben betrübsamen Notwendigkeiten versetzt, worin
sie sich schon weiland befanden, in jener uralten Zeit,
in jener revolutionären Epoche, als die Titanen aus
dem Gewahrsam des Orkus heraufbrachen und, den
Pelion auf den Ossa türmend, den Olymp erkletterten.
Sie mußten damals schmählich flüchten, die armen
Götter, und unter allerlei Vermummungen verbargen
sie sich bei uns auf Erden. Die meisten begaben sich
nach Ägypten, wo sie zu größerer Sicherheit Tierge-
stalt annahmen, wie männiglich bekannt. In derselben
Weise mußten die armen Heidengötter wieder die
Flucht ergreifen und unter allerlei Vermummungen in
abgelegenen Verstecken ein Unterkommen suchen, als
der wahre Herr der Welt sein Kreuzbanner auf die
Himmelsburg pflanzte und die ikonoklastischen Zelo-
ten, die schwarze Bande der Mönche, alle Tempel
brachen und die verjagten Götter mit Feuer und Fluch
verfolgten. Viele dieser armen Emigranten, die ganz
ohne Obdach und Ambrosia waren, mußten jetzt zu
einem bürgerlichen Handwerk greifen, um wenigstens
das liebe Brot zu erwerben. Unter solchen Umständen
mußte mancher, dessen heilige Haine konfisziert
waren, bei uns in Deutschland als Holzhacker taglöh-
nern und Bier trinken statt Nektar. Apollo scheint sich
in dieser Not dazu bequemt zu haben, bei Viehzüch-
tern Dienste zu nehmen, und wie er einst die Kühe des
Admetos weidete, so lebte er jetzt als Hirt in Nieder-
österreich, wo er aber, verdächtig geworden durch
sein schönes Singen, von einem gelehrten Mönch als
ein alter zäuberischer Heidengott erkannt, den geistli-
chen Gerichten überliefert wurde. Auf der Folter ge-
stand er, daß er der Gott Apollo sei. Vor seiner Hin-
richtung bat er auch, man möchte ihm nur noch ein-
mal erlauben, auf der Zither zu spielen und ein Lied
zu singen. Er spielte aber so herzrührend und sang so
bezaubernd und war dabei so schön von Angesicht
und Leibesgestalt, daß alle Frauen weinten, ja viele
durch solche Rührung später erkrankten. Nach einiger
Zeit wollte man ihn aus seiner Gruft wieder hervorzie-
hen, um ihm einen Pfahl durch den Leib zu stoßen, in
der Meinung, er müsse ein Vampir gewesen sein und
die erkrankten Frauen würden durch solches probate
Hausmittel genesen; aber man fand das Grab leer.
Über die Schicksale des alten Kriegsgottes Mars,
seit dem Siege der Christen, weiß ich nicht viel zu
vermelden. Ich bin nicht abgeneigt zu glauben, daß er
in der Feudalzeit das Faustrecht benutzt haben mag.
Der lange Schimmelpennig, Neffe des Scharfrichters
von Münster, begegnet ihm zu Bologna, wo sie eine
Unterredung hatten, die ich an einem andern Orte mit-
teilen werde. Einige Zeit vorher diente er unter
Frondsberg in der Eigenschaft eines Landsknechtes
und war zugegen bei der Erstürmung von Rom, wo
ihm gewiß bitter zumute war, als er seine alte Lieb-
lingsstadt und die Tempel, worin er selbst verehrt
worden, sowie auch die Tempel seiner Verwandten so
schmählich verwüsten sah.
Besser als dem Mars und dem Apollo war es, nach
der großen Retirade, dem Gotte Bacchus ergangen,
und die Legende erzählt folgendes:
In Tirol gibt es sehr große Seen, die von Waldun-
gen umgeben, deren himmelhohe Bäume sich pracht-
voll in der blauen Flut abspiegeln. Baum und Wasser
rauschen so geheimnisvoll, daß einem wunderlich zu
Sinne wird, wenn man dort einsam wandelt. An dem
Ufer eines solchen Sees stand die Hütte eines jungen
Fischers, der sich mit dem Fischfang ernährte und
auch wohl das Geschäft eines Fährmanns besorgte,
wenn irgendein Reisender über den See gesetzt zu
werden begehrte. Er hatte eine große Barke, die, an
alten Baumstämmen angebunden, unfern von seiner
Wohnung lag. In dieser letztern lebte er ganz allein.
Einst, zur Zeit der herbstlichen Tagesgleiche, gegen
Mitternacht, hörte er an sein Fenster klopfen, und als
er vor die Türe trat, sah er drei Mönche, die ihre
Köpfe in den Kutten tief vermummt hielten und sehr
eilig zu sein schienen. Einer von ihnen bat ihn hastig,
ihnen seinen Kahn zu leihen, und versprach, densel-
ben in wenigen Stunden an dieselbe Stelle zurückzu-
bringen. Die Mönche waren ihrer drei, und der Fi-
scher, welcher unter solchen Umständen nicht lange
zögern konnte, band den Kahn los, und während jene
einstiegen und über den See fortfuhren, ging er nach
seiner Hütte zurück und legte sich aufs Ohr. Jung wie
er war, schlief er bald ein, aber nach einigen Stunden
ward er von den zurückkehrenden Mönchen aufge-
weckt; als er zu ihnen hinaustrat, drückte ihm einer
von ihnen ein Silberstück als Fährgeld in die Hand,
und alle drei eilten rasch von dannen. Der Fischer
ging, nach seinem Kahn zu schauen, den er fest ange-
bunden fand. Dann schüttelte er sich, doch nicht
wegen der Nachtluft. Es war ihm nämlich sonderbar
fröstelnd durch die Glieder gefahren, und es hatte ihm
fast das Herz erkältet, als der Mönch, der ihm das
Fährgeld gereicht, seine Hand berührte; die Finger des
Mönches waren eiskalt. Diesen Umstand konnte der
Fischer einige Tage lang gar nicht vergessen. Doch
die Jugend schlägt sich endlich alles Unheimliche aus
dem Sinn, und der Fischer dachte nicht mehr an jenes
Ereignis, als im folgenden Jahre, gleichfalls um die
Zeit der Tagesgleiche, gegen Mitternacht, an das Fen-
ster der Fischerhütte geklopft wurde und wieder mit
großer Hast die drei vermummten Mönche erschienen,
welche wieder den Kahn verlangten. Der Fischer
überließ ihnen denselben diesmal mit weniger Be-
sorgnis, und als sie nach einigen Stunden zurückkehr-
ten und ihm einer der Mönche eilig das Fahrgeld in
die Hand drückte, fühlte er wieder mit Schaudern die
eiskalten Finger. Dasselbe Ereignis wiederholte sich
jedes Jahr um dieselbe Zeit in derselben Weise, und
endlich, als der siebente Jahrestag herannahte, ergriff
den Fischer eine große Begier, das Geheimnis, das
sich unter jenen drei Kutten verbarg, um jeden Preis
zu erfahren. Er legte eine Menge Netzwerke in den
Kahn, daß dieselben ein Versteck bildeten, wo er hin-
einschlüpfen konnte, während die Mönche das Fahr-
zeug besteigen würden. Die erwarteten dunklen Kun-
den kamen wirklich um die bestimmte Zeit, und es ge-
lang dem Fischer, sich unversehens unter die Netze zu
verstecken und an der Überfahrt teilzunehmen. Zu sei-
ner Verwunderung dauerte diese nur kurze Zeit,
während er sonst mehr als eine Stunde brauchte, ehe
er ans entgegengesetzte Ufer gelangen konnte, und
noch größer war sein Erstaunen, als er hier, wo die
Gegend ihm so gut bekannt war, jetzt einen weiten
offnen Waldesplatz sah, den er früher noch nie er-
blickt und der mit Bäumen umgeben war, die einer
ihm ganz fremden Vegetation angehörten. Die Bäume
waren behängt mit unzähligen Lampen, auch Vasen
mit loderndem Waldharz standen auf hohen Posta-
menten, und dabei schien der Mond so hell, daß der
Fischer die dort versammelte Menschenmenge so
genau betrachten konnte wie am hellen Tage. Es
waren viele hundert Personen, junge Männer und
junge Frauen, meistens bildschön, obgleich ihre Ge-
sichter alle so weiß wie Marmor waren, und dieser
Umstand, verbunden mit der Kleidung, die in weißen,
sehr weit aufgeschürzten Tuniken mit Purpursaum be-
stand, gab ihnen das Aussehn von wandelnden Statu-
en. Die Frauen trugen auf den Häuptern Kränze von
natürlichem oder auch aus Gold und Silberdraht ver-
fertigtem Weinlaub, und das Haar war zum Teil auf
dem Scheitel in eine Krone geflochten, zum Teil auch
ringelte dasselbe aus dieser Krone wildlockig hinab in
den Nacken. Die jungen Männer trugen ebenfalls auf
den Häuptern Kränze von Weinlaub. Männer und
Weiber aber, in den Händen goldne Stäbe schwin-
gend, die mit Weinlaub umrankt, kamen jubelnd
herangeflogen, um die drei Ankömmlinge zu begrü-
ßen. Einer derselben warf jetzt seine Kutte von sich,
und zum Vorschein kam ein impertinenter Geselle
von gewöhnlichem Mannesalter, der ein widerwärtig
lüsternes, ja unzüchtiges Gesicht hatte, mit spitzen
Bocksohren begabt war und eine lächerlich übertrie-
bene Geschlechtlichkeit, eine höchst anstößige Hyper-
bel, zur Schau trug. Der andre Mönch warf ebenfalls
seine Kutte von sich, und man sah einen nicht minder
nackten Dickwanst, auf dessen kahlen Glatzkopf die
mutwilligen Weiber einen Rosenkranz pflanzten. Bei-
der Mönche Antlitz war schneeweiß, wie das der übri-
gen Versammlung. Schneeweiß war auch das Gesicht
des dritten Mönchs, der schier lachend die Kapuze
vom Haupte streifte. Als er den Gürtelstrick seiner
Kutte losband und das fromme schmutzige Gewand
nebst Kreuz und Rosenkranz mit Ekel von sich warf,
erblickte man in einer von Diamanten glänzenden Tu-
nika eine wunderschöne Jünglingsgestalt vom edel-
sten Ebenmaß, nur daß die runden Hüften und die
schmächtige Taille etwas Weibisches hatten. Auch
die zärtlich gewölbten Lippen und die
verschwimmend weichen Züge verliehen dem Jüng-
ling ein etwas weibisches Aussehen; doch sein Ge-
sicht trug gleichwohl einen gewissen kühnen, fast
übermütig heroischen Ausdruck. Die Weiber liebko-
sten ihn mit wilder Begeisterung, setzten ihm einen
Efeukranz aufs Haupt und warfen auf seine Schulter
ein prachtvolles Leopardenfell. In demselben Augen-
blick kam, bespannt mit zwei Löwen, ein goldner
zweirädriger Siegeswagen herangerollt, auf den sich
der junge Mensch mit Herrscherwürde, aber doch hei-
tern Blickes hinaufschwang. Er leitete an purpurnen
Zügeln das wilde Gespann. An der rechten Seite sei-
nes Wagens schritt der eine seiner entkutteten Gefähr-
ten, dessen geile Gebärden und obenerwähnte unan-
ständige Übertriebenheit das Publikum ergötzte, wäh-
rend sein Genosse, der kahlköpfige Dickwanst, den
die lustigen Frauen auf einen Esel gehoben hatten, an
der linken Seite des Wagens einherritt, in der Hand
einen goldnen Pokal haltend, der ihm beständig mit
Wein gefüllt wurde. Langsam bewegte sich der
Wagen, und hinter ihm wirbelte die tanzende Ausge-
lassenheit der weinlaubgekrönten Männer und Wei-
ber. Dem Wagen voran ging die Hofkapelle des Tri-
umphators: der hübsche bausbäckige Junge mit der
Doppelflöte im Maule; dann die hochgeschürzte Tam-
burinschlägerin, die mit den Knöcheln der umgekehr-
ten Hand auf das klirrende Fell lostrommelte; dann
die ebenso holdselige Schöne mit dem Triangel; dann
die Hornisten, bocksfüßige Gesellen mit schönen,
aber lasziven Gesichtern, welche auf wunderlich ge-
schwungenen Tierhörnern oder Seemuscheln ihre Fan-
faren bliesen; dann die Lautenspieler -
Doch, lieber Leser, ich vergesse, daß du ein sehr
gebildeter und wohlunterrichteter Leser bist, der
schon lange gemerkt hat, daß hier von einem Baccha-
nale die Rede ist, von einem Feste des Dionysus. Du
hast oft genug auf alten Basreliefen oder Kupfersti-
chen archäologischer Werke die Triumphzüge gese-
hen, die jenen Gott verherrlichen, und wahrlich, bei
deinem klassisch gebildeten Sinn würdest du nimmer-
mehr erschrecken, wenn dir einmal plötzlich in der
mitternächtlichen Abgeschiedenheit eines Waldes der
schöne Spuk eines solchen Bacchuszuges nebst dem
dazugehörigen betrunkenen Personale leiblich vor
Augen träte - Höchstens würdest du einen leisen lü-
sternen Schauer, ein ästhetisches Grüseln empfinden
beim Anblick dieser bleichen Versammlung, dieser
anmutigen Phantome, die den Sarkophagen ihrer
Grabmäler oder den Verstecken ihrer Tempelruinen
entstiegen sind, um den alten fröhlichen Gottesdienst
noch einmal zu begehen, um noch einmal mit Spiel
und Reigen die Siegesfahrt des göttlichen Befreiers,
des Heilandes der Sinnenlust, zu feiern, um noch ein-
mal den Freudentanz des Heidentums, den Cancan der
antiken Welt, zu tanzen, ganz ohne hypokritische
Verhüllung, ganz ohne Dazwischenkunft der Serge-
ants de ville einer spiritualistischen Moral, ganz mit
dem ungebundenen Wahnsinn der alten Tage, jauch-
zend, tobend, jubelnd: »Evoe Bacche!«

I | II | III | IV