Glückseliges Albion! lustiges Alt-England!
warum verließ ich dich? - Um die Gesellschaft
von Gentlemen zu fliehen und unter Lumpenge-
sindel der einzige zu sein, der mit Bewußtsein
lebt und handelt?
»Die ehrlichen Leute« von W. Alexis
I
Gespräch auf der Themse
- - - Der gelbe Mann stand neben mir auf dem
Verdeck, als ich die grünen Ufer der Themse erblickte
und in allen Winkeln meiner Seele die Nachtigallen
erwachten. »Land der Freiheit«, rief ich, »ich grüße
dich! - Sei mir gegrüßt, Freiheit, junge Sonne der
verjüngten Welt! Jene ältere Sonnen, die Liebe und
der Glaube, sind welk und kalt geworden und können
nicht mehr leuchten und wärmen. Verlassen sind die
alten Myrtenwälder, die einst so überbevölkert waren,
und nur noch blöde Turteltauben nisten in den zärtli-
chen Büschen. Es sinken die alten Dome, die einst
von einem übermütig frommen Geschlechte, das
seinen Glauben in den Himmel hineinbauen wollte, so
riesenhoch aufgetürmt wurden; sie sind morsch und
verfallen, und ihre Götter glauben an sich selbst nicht
mehr. Diese Götter sind abgelebt, und unsere Zeit hat
nicht Phantasie genug, neue zu schaffen. Alle Kraft
der Menschenbrust wird jetzt zu Freiheitsliebe, und
die Freiheit ist vielleicht die Religion der neuen Zeit,
und es ist wieder eine Religion, die nicht den Reichen
gepredigt wurde, sondern den Armen, und sie hat
ebenfalls ihre Evangelisten, ihre Martyrer und ihre
Ischariots!«
»Junger Enthusiast«, sprach der gelbe Mann, »Sie
werden nicht finden, was Sie suchen. Sie mögen recht
haben, daß die Freiheit eine neue Religion ist, die sich
über die ganze Erde verbreitet. Aber wie einst jedes
Volk, indem es das Christentum annahm, solches
nach seinen Bedürfnissen und seinem eigenen Cha-
rakter modelte, so wird jedes Volk von der neuen Re-
ligion, von der Freiheit, nur dasjenige annehmen, was
seinen Lokalbedürfnissen und seinem Nationalcharak-
ter gemäß ist.
Die Engländer sind ein häusliches Volk, sie leben
ein begrenztes, umfriedetes Familienleben; im Kreise
seiner Angehörigen sucht der Engländer jenes Seelen-
behagen, das ihm schon durch seine angeborene ge-
sellschaftliche Unbeholfenheit außer dem Hause ver-
sagt ist. Der Engländer ist daher mit jener Freiheit
zufrieden, die seine persönlichsten Rechte verbürgt
und seinen Leib, sein Eigentum, seine Ehe, seinen
Glauben und sogar seine Grillen unbedingt schützt. In
seinem Hause ist niemand freier als ein Engländer,
um mich eines berühmten Ausdrucks zu bedienen, er
ist König und Bischof in seinen vier Pfählen, und
nicht unrichtig ist sein gewöhnlicher Wahlspruch:
›My house is my castle.‹
Ist nun bei den Engländern das meiste Bedürfnis
nach persönlicher Freiheit, so möchte wohl der Fran-
zose im Notfall diese entbehren können, wenn man
ihm nur jenen Teil der allgemeinen Freiheit, den wir
Gleichheit nennen, vollauf genießen lassen. Die Fran-
zosen sind kein häusliches Volk, sondern ein geselli-
ges, sie lieben kein schweigendes Beisammensitzen,
welches sie une conversation anglaise nennen, sie lau-
fen plaudernd vom Kaffeehaus nach dem Kasino, vom
Kasino nach den Salons, ihr leichtes Champagnerblut
und angeborenes Umgangstalent treibt sie zum Ge-
sellschaftsleben, und dessen erste und letzte Bedin-
gung, ja dessen Seele ist: die Gleichheit. Mit der Aus-
bildung der Gesellschaftlichkeit in Frankreich mußte
daher auch das Bedürfnis der Gleichheit entstehen,
und wenn auch der Grund der Revolution im Budget
zu suchen ist, so wurde ihr doch zuerst Wort und
Stimme verliehen von jenen geistreichen Roturiers,
die in den Salons von Paris mit der hohen Noblesse
scheinbar auf einem Fuße der Gleichheit lebten und
doch dann und wann, sei es auch nur durch ein kaum
bemerkbares, aber desto tiefer verletzendes Feudallä-
cheln, an die große, schmachvolle Ungleichheit erin-
nert wurden; - und wenn die canaille roturière sich
die Freiheit nahm, jene hohe Noblesse zu köpfen, so
geschah dieses vielleicht weniger, um ihre Güter, als
um ihre Ahnen zu erben und statt der bürgerlichen
Ungleichheit eine adlige Gleichheit einzuführen. Daß
dieses Streben nach Gleichheit das Hauptprinzip der
Revolution war, dürfen wir um so mehr glauben, da
die Franzosen sich bald glücklich und zufrieden fühl-
ten unter der Herrschaft ihres großen Kaisers, der,
ihre Unmündigkeit beachtend, all ihre Freiheit unter
seiner strengen Kuratel hielt und ihnen nur die Freude
einer völligen, ruhmvollen Gleichheit überließ.
Weit geduldiger als der Franzose erträgt daher der
Engländer den Anblick einer bevorrechteten Aristo-
kratie; er tröstet sich, daß er selbst Rechte besitzt, die
es jener unmöglich machen, ihn in seinen häuslichen
Komforts und in seinen Lebensansprüchen zu stören.
Auch trägt jene Aristokratie nicht jene Rechte zur
Schau wie auf dem Kontinente. In den Straßen und
öffentlichen Vergnügungssälen Londons sieht man
bunte Bänder nur auf den Hauben der Weiber und
goldne und silberne Abzeichen nur auf den Röcken
der Lakaien. Auch jene schöne, bunte Livree, die bei
uns einen bevorrechteten Wehrstand ankündigt, ist in
England nichts weniger als eine Ehrenauszeichnung;
wie ein Schauspieler sich nach der Vorstellung die
Schminke abwischt, so eilt auch der englische Offi-
zier, sich seines roten Rocks zu entledigen, sobald die
Dienststunde vorüber ist, und im schlichten Rock
eines Gentleman ist er wieder ein Gentleman. Nur auf
dem Theater zu St. James gelten jene Dekorationen
und Kostüme, die aus dem Kehricht des Mittelalters
aufbewahrt worden; da flattern die Ordensbänder, da
blinken die Sterne, da rauschen die seidenen Hosen
und Atlasschleppen, da knarren die goldnen Sporen
und altfranzösischen Redensarten, da bläht sich der
Ritter, da spreizt sich das Fräulein.
- Aber was kümmert einen freien Engländer die
Hofkomödie zu St. James! wird er doch nie davon be-
lästigt, und verwehrt es ihm ja niemand, wenn er in
seinem Hause ebenfalls Komödie spielt und seine
Hausoffizianten vor sich knien lädt und mit dem
Strumpfband der Köchin tändelt - honny soit qui mal
y pense.
Was die Deutschen betrifft, so bedürfen sie weder
der Freiheit noch der Gleichheit. Sie sind ein spekula-
tives Volk, Ideologen, Vor- und Nachdenker, Träu-
mer, die nur in der Vergangenheit und in der Zukunft
leben und keine Gegenwart haben. Engländer und
Franzosen haben eine Gegenwart, bei ihnen hat jeder
Tag seinen Kampf und Gegenkampf und seine Ge-
schichte. Der Deutsche hat nichts, wofür er kämpfen
sollte, und da er zu mutmaßen begann, daß es doch
Dinge geben könne, deren Besitz wünschenswert
wäre, so haben wohlweise seine Philosophen ihn ge-
lehrt, an der Existenz solcher Dinge zu zweifeln. Es
läßt sich nicht leugnen, daß auch die Deutschen die
Freiheit lieben. Aber anders wie andere Völker. Der
Engländer liebt die Freiheit wie sein rechtmäßiges
Weib, er besitzt sie, und wenn er sie auch nicht mit
absonderlicher Zärtlichkeit behandelt, so weiß er sie
doch im Notfall wie ein Mann zu verteidigen, und
wehe dem rotgeröckten Burschen, der sich in ihr heili-
ges Schlafgemach drängt - sei es als Galant oder als
Scherge. Der Franzose liebt die Freiheit wie seine er-
wählte Braut. Er glüht für sie, er flammt, er wirft sich
zu ihren Füßen mit den überspanntesten Beteuerun-
gen, er schlägt sich für sie auf Tod und Leben, er be-
geht für sie tausenderlei Torheiten. Der Deutsche liebt
die Freiheit wie seine alte Großmutter.«
Gar wunderlich sind doch die Menschen! Im Vater-
lande brummen wir, jede Dummheit, jede Verkehrt-
heit dort verdrießt uns, wie Knaben möchten wir täg-
lich davonlaufen in die weite Welt; sind wir endlich
wirklich in die weite Welt gekommen, so ist uns diese
wieder zu weit, und heimlich sehnen wir uns oft wie-
der nach den engen Dummheiten und Verkehrtheiten
der Heimat, und wir möchten wieder dort in der alten,
wohlbekannten Stube sitzen und uns, wenn es angin-
ge, ein Haus hinter den Ofen bauen und warm drin
hocken und den »Allgemeinen Anzeiger der Deut-
schen« lesen. So ging es auch mir auf der Reise nach
England. Kaum verlor ich den Anblick der deutschen
Küste, so erwachte in mir eine kuriose Nachliebe für
jene teutonischen Schlafmützen- und Perückenwälder,
die ich eben noch mit Unmut verlassen, und als ich
das Vaterland aus den Augen verloren hatte, fand ich
es im Herzen wieder.
Daher mochte wohl meine Stimme etwas weich
klingen, als ich dem gelben Mann antwortete: »Lieber
Herr, scheltet mir nicht die Deutschen! Wenn sie auch
Träumer sind, so haben doch manche unter ihnen so
schöne Träume geträumet, daß ich sie kaum vertau-
schen möchte gegen die wachende Wirklichkeit unse-
rer Nachbaren. Da wir alle schlafen und träumen, so
können wir vielleicht die Freiheit entbehren; denn un-
sere Tyrannen schlafen ebenfalls und träumen bloß
ihre Tyrannei. Nur damals sind wir erwacht, als die
katholischen Römer unsere Traumfreiheit geraubt hat-
ten; da handelten wir und siegten und legten uns wie-
der hin und träumten. O Herr! spottet nicht unserer
Träumer, dann und wann, wie Somnambüle, sprechen
sie Wunderbares im Schlafe, und ihr Wort wird Saat
der Freiheit. Keiner kann absehen die Wendung der
Dinge. Der spleenige Brite, seines Weibes überdrüs-
sig, legt ihr vielleicht einst einen Strick um den Hals
und bringt sie zum Verkauf nach Smithfield. Der flat-
terhafte Franzose wird seiner geliebten Braut viel-
leicht treulos und verläßt sie und tänzelt singend nach
den Hofdamen (courtisanes) seines königlichen Pala-
stes (palais royal). Der Deutsche wird aber seine alte
Großmutter nie ganz vor die Türe stoßen, er wird ihr
immer ein Plätzchen am Herde gönnen, wo sie den
horchenden Kindern ihre Märchen erzählen kann -
Wenn einst, was Gott verhüte, in der ganzen Welt die
Freiheit verschwunden ist, so wird ein deutscher
Träumer sie in seinen Träumen wieder entdecken.«
Während nun das Dampfboot, und auf demselben
unser Gespräch, den Strom hinaufschwamm, war die
Sonne untergegangen, und ihre letzten Strahlen be-
leuchteten das Hospital zu Greenwich, ein imposantes
palastgleiches Gebäude, das eigentlich aus zwei Flü-
geln besteht, deren Zwischenraum leer ist, und einen
mit einem artigen Schlößlein gekrönten, waldgrünen
Berg den Vorbeifahrenden sehen läßt. Auf dem Was-
ser nahm jetzt das Gewühl der Schiffe immer zu, und
ich wunderte mich, wie geschickt diese großen Fahr-
zeuge sich einander ausweichen. Da grüßt im Begeg-
nen manch ernsthaft freundliches Gesicht, das man
nie gesehen hat und vielleicht auch nie wiedersehen
wird. Man fährt sich so nahe vorbei, daß man sich die
Hände reichen könnte zum Willkomm und Abschied
zu gleicher Zeit. Das Herz schwillt beim Anblick so
vieler schwellenden Segel und wird wunderbar aufge-
regt, wenn vom Ufer her das verworrene Summen und
die ferne Tanzmusik und der dumpfe Matrosenlärm
herandröhnt. Aber im weißen Schleier des Abendne-
bels verschwimmen allmählich die Konturen der Ge-
genstände, und sichtbar bleibt nur ein Wald von
Mastbäumen, die lang und kahl emporragen.
Der gelbe Mann stand noch immer neben mir und
schaute sinnend in die Höhe, als suche er im Ne-
belhimmel die bleichen Sterne. Noch immer in die
Höhe schauend, legte er die Hand auf meine Schulter,
und in einem Tone, als wenn geheime Gedanken un-
willkürlich zu Worten werden, sprach er: »Freiheit
und Gleichheit! man findet sie nicht hier unten und
nicht einmal dort oben. Dort jene Sterne sind nicht
gleich, einer ist größer und leuchtender als der andere,
keiner von ihnen wandelt frei, alle gehorchen sie vor-
geschriebenen, eisernen Gesetzen - Sklaverei ist im
Himmel wie auf Erden.«
»Das ist der Tower!« rief plötzlich einer unserer
Reisegefährten, indem er auf ein hohes Gebäude zeig-
te, das aus dem nebelbedeckten London, wie ein ge-
spenstisch dunkler Traum, hervorstieg.
II
London
Ich habe das Merkwürdigste gesehen, was die Welt
dem staunenden Geiste zeigen kann, ich habe es gese-
hen und staune noch immer - noch immer starrt in
meinem Gedächtnisse dieser steinerne Wald von Häu-
sern und dazwischen der drängende Strom lebendiger
Menschengesichter mit all ihren bunten Leidenschaf-
ten, mit all ihrer grauenhaften Hast der Liebe, des
Hungers und des Hasses - ich spreche von London.
Schickt einen Philosophen nach London, beileibe
keinen Poeten! Schickt einen Philosophen hin und
stellt ihn an eine Ecke von Cheapside, er wird hier
mehr lernen als aus allen Büchern der letzten Leipzi-
ger Messe; und wie die Menschenwogen ihn umrau-
schen, so wird auch ein Meer von neuen Gedanken
vor ihm aufsteigen, der ewige Geist, der darüber
schwebt, wird ihn anwehen, die verborgensten Ge-
heimnisse der gesellschaftlichen Ordnung werden sich
ihm plötzlich offenbaren, er wird den Pulsschlag der
Welt hörbar vernehmen und sichtbar sehen - denn
wenn London die rechte Hand der Welt ist, die tätige,
mächtige rechte Hand, so ist jene Straße, die von der
Börse nach Downing Street führt, als die Pulsader der
Welt zu betrachten.
Aber schickt keinen Poeten nach London! Dieser
bare Ernst aller Dinge, diese kolossale Einförmigkeit,
diese maschinenhafte Bewegung, diese Verdrießlich-
keit der Freude selbst, dieses übertriebene London er-
drückt die Phantasie und zerreißt das Herz. Und woll-
tet ihr gar einen deutschen Poeten hinschicken, einen
Träumer, der vor jeder einzelnen Erscheinung stehen-
bleibt, etwa vor einem zerlumpten Bettelweib oder
einem blanken Goldschmiedladen - oh! dann geht es
ihm erst recht schlimm, und er wird von allen Seiten
fortgeschoben oder gar mit einem milden »God
damn!« niedergestoßen. God damn! das verdammte
Stoßen! Ich merkte bald, dieses Volk hat viel zu tun.
Es lebt auf einem großen Fuße, es will, obgleich Fut-
ter und Kleider in seinem Lande teurer sind als bei
uns, dennoch besser gefüttert und besser gekleidet
sein als wir; wie zur Vornehmheit gehört, hat es auch
große Schulden, dennoch aus Großprahlerei wirft es
zuweilen seine Guineen zum Fenster hinaus, bezahlt
andere Völker, daß sie sich zu seinem Vergnügen her-
umboxen, gibt dabei ihren respektiven Königen noch
außerdem ein gutes Douceur - und deshalb hat John
Bull Tag und Nacht zu arbeiten, um Geld zu solchen
Ausgaben anzuschaffen, Tag und Nacht muß er sein
Gehirn anstrengen zur Erfindung neuer Maschinen,
und er sitzt und rechnet im Schweiße seines Ange-
sichts und rennt und läuft, ohne sich viel umzusehen,
vom Hafen nach der Börse, von der Börse nach dem
Strand, und da ist es sehr verzeihlich, wenn er an der
Ecke von Cheapside einen armen deutschen Poeten,
der, einen Bilderladen angaffend, ihm in dem Wege
steht, etwas unsanft auf die Seite stößt. »God damn!«
Das Bild aber, welches ich an der Ecke von Cheap-
side angaffte, war der Übergang der Franzosen über
die Beresina.
Als ich, aus dieser Betrachtung aufgerüttelt, wieder
auf die tosende Straße blickte, wo ein buntscheckiger
Knäul von Männern, Weibern, Kindern, Pferden,
Postkutschen, darunter auch ein Leichenzug, sich
brausend, schreiend, ächzend und knarrend dahin-
wälzte, da schien es mir, als sei ganz London so eine
Beresinabrücke, wo jeder in wahnsinniger Angst, um
sein bißchen Leben zu fristen, sich durchdrängen will,
wo der kecke Reuter den armen Fußgänger nieder-
stampft, wo derjenige, der zu Boden fällt, auf immer
verloren ist, wo die besten Kameraden fühllos einer
über die Leiche des andern dahineilen und Tausende,
die, sterbensmatt und blutend, sich vergebens an den
Planken der Brücke festklammern wollten, in die kalte
Eisgrube des Todes hinabstürzen.
Wieviel heiterer und wohnlicher ist es dagegen in
unserem lieben Deutschland! Wie traumhaft gemach,
wie sabbatlich ruhig bewegen sich hier die Dinge!
Ruhig zieht die Wache auf, im ruhigen Sonnenschein
glänzen die Uniformen und Häuser, an den Fliesen
flattern die Schwalben, aus den Fenstern lächeln dicke
Justizrätinnen, auf den hallenden Straßen ist Platz
genug: die Hunde können sich gehörig anriechen, die
Menschen können bequem stehenbleiben und über
das Theater diskurieren und tief, tief grüßen, wenn ir-
gendein vornehmes Lümpchen oder Vizelümpchen,
mit bunten Bändchen auf dem abgeschabten Röck-
chen, oder ein gepudertes, vergoldetes Hofmarschälk-
chen gnädig wiedergrüßend vorbeitänzelt!
Ich hatte mir vorgenommen, über die Großartigkeit
Londons, wovon ich soviel gehört, nicht zu erstaunen.
Aber es ging mir wie dem armen Schulknaben, der
sich vornahm, die Prügel, die er empfangen sollte,
nicht zu fühlen. Die Sache bestand eigentlich in dem
Umstande, daß er die gewöhnlichen Hiebe mit dem
gewöhnlichen Stocke, wie gewöhnlich, auf dem
Rücken erwartete und statt dessen eine ungewöhnli-
che Tracht Schläge auf einem ungewöhnlichen Platze
mit einem dünnen Röhrchen empfing. Ich erwartete
große Paläste und sah nichts als lauter kleine Häuser.
Aber eben die Gleichförmigkeit derselben und ihre
unabsehbare Menge imponiert so gewaltig.
Diese Häuser von Ziegelsteinen bekommen durch
feuchte Luft und Kohlendampf gleiche Farbe, nämlich
bräunliches Olivengrün; sie sind alle von derselben
Bauart, gewöhnlich zwei oder drei Fenster breit, drei
hoch und oben mit kleinen roten Schornsteinen
geziert, die wie blutig ausgerissene Zähne aussehen,
dergestalt, daß die breiten, regelrechten Straßen, die
sie bilden, nur zwei unendlich lange kasernenartige
Häuser zu sein scheinen. Dieses hat wohl seinen
Grund in dem Umstande, daß jede englische Familie,
und bestände sie auch nur aus zwei Personen, den-
noch ein ganzes Haus, ihr eignes Kastell, bewohnen
will und reiche Spekulanten, solchem Bedürfnis ent-
gegenkommend, ganze Straßen bauen, worin sie die
Häuser einzeln wieder verhökern. In den Hauptstra-
ßen der City, demjenigen Teil Londons, wo der Sitz
des Handels und der Gewerke, wo noch altertümliche
Gebäude zwischen den neuen zerstreut sind und wo
auch die Vorderseiten der Häuser mit ellenlangen
Namen und Zahlen, gewöhnlich goldig und relief, bis
ans Dach bedeckt sind, da ist jene charakteristische
Einförmigkeit der Häuser nicht so auffallend, um so
weniger, da das Auge des Fremden unaufhörlich be-
schäftigt wird durch den wunderbaren Anblick neuer
und schöner Gegenstände, die an den Fenstern der
Kaufläden ausgestellt sind. Nicht bloß diese Gegen-
stände selbst machen den größten Effekt, weil der
Engländer alles, was er verfertigt, auch vollendet lie-
fert und jeder Luxusartikel, jede Astrallampe und
jeder Stiefel, jede Teekanne und jeder Weiberrock uns
so finished und einladend entgegenglänzt, sondern
auch die Kunst der Aufstellung, Farbenkontrast und
Mannigfaltigkeit gibt den englischen Kaufläden einen
eignen Reiz; selbst die alltäglichsten Lebensbedürf-
nisse erscheinen in einem überraschenden Zau-
berglanze, gewöhnliche Eßwaren locken uns durch
ihre neue Beleuchtung, sogar rohe Fische liegen so
wohlgefällig appretiert, daß uns der regenbogenfar-
bige Glanz ihrer Schuppen ergötzt, rohes Fleisch liegt
wie gemalt auf saubern, bunten Porzellantellerchen,
mit lachender Petersilie umkränzt, ja alles erscheint
uns wie gemalt und mahnt uns an die glänzenden und
doch so bescheidenen Bilder des Franz Mieris. Nur
die Menschen sind nicht so heiter wie auf diesen hol-
ländischen Gemälden, mit den ernsthaftesten Gesich-
tern verkaufen sie die lustigsten Spielsachen, und Zu-
schnitt und Farbe ihrer Kleidung ist gleichförmig wie
ihre Häuser.
Auf der entgegengesetzten Seite Londons, die man
das Westende nennt, the west end of the town, und wo
die vornehmere und minder beschäftigte Welt lebt, ist
jene Einförmigkeit noch vorherrschender; doch gibt es
hier ganze lange, gar breite Straßen, wo alle Häuser
groß wie Paläste, aber äußerlich nichts weniger als
ausgezeichnet sind, außer daß man hier, wie an allen
nicht ganz ordinären Wohnhäusern Londons, die Fen-
ster der ersten Etage mit eisengittrigen Balkonen ver-
ziert sieht und auch au rez de chaussee ein schwarzes
Gitterwerk findet, wodurch eine in die Erde gegrabene
Kellerwohnung geschützt wird. Auch findet man in
diesem Teile der Stadt große Squares: Reihen von
Häusern gleich den oben beschriebenen, die ein Vier-
eck bilden, in dessen Mitte ein von schwarzem Eisen-
gitter verschlossener Garten mit irgendeiner Statue
befindlich ist. Auf allen diesen Plätzen und Straßen
wird das Auge des Fremden nirgends beleidigt von
baufälligen Hütten des Elends. Überall starrt Reich-
tum und Vornehmheit, und hineingedrängt in abgele-
gene Gäßchen und dunkle, feuchte Gänge wohnt die
Armut mit ihren Lumpen und ihren Tränen.
Der Fremde, der die großen Straßen Londons
durchwandert und nicht just in die eigentlichen Pöbel-
quartiere gerät, sieht daher nichts oder sehr wenig von
dem vielen Elend, das in London vorhanden ist. Nur
hie und da, am Eingang eines dunklen Gäßchens,
steht schweigend ein zerfetztes Weib, mit einem
Säugling an der abgehärmten Brust, und bettelt mit
den Augen. Vielleicht, wenn diese Augen noch schön
sind, schaut man einmal hinein - und erschrickt ob
der Welt von Jammer, die man darin geschaut hat.
Die gewöhnlichen Bettler sind alte Leute, meistens
Mohren, die an den Straßenecken stehen und, was im
kotigen London sehr nützlich ist, einen Pfad für Fuß-
gänger kehren und dafür eine Kupfermünze verlan-
gen. Die Armut in Gesellschaft des Lasters und des
Verbrechens schleicht erst des Abends aus ihren
Schlupfwinkeln. Sie scheut das Tageslicht um so
ängstlicher, je grauenhafter ihr Elend kontrastiert mit
dem Übermute des Reichtums, der überall hervor-
prunkt; nur der Hunger treibt sie manchmal um Mit-
tagszeit aus dem dunkeln Gäßchen, und da steht sie
mit stummen, sprechenden Augen und starrt flehend
empor zu dem reichen Kaufmann, der geschäftig-geld-
klimpernd vorübereilt, oder zu dem müßigen Lord,
der, wie ein satter Gott, auf hohem Roß einherreitet
und auf das Menschengewühl unter ihm dann und
wann einen gleichgültig vornehmen Blick wirft, als
wären es winzige Ameisen oder doch nur ein Haufen
niedriger Geschöpfe, deren Lust und Schmerz mit sei-
nen Gefühlen nichts gemein hat - denn über dem
Menschengesindel, das am Erdboden festklebt,
schwebt Englands Nobility, wie Wesen höherer Art,
die das kleine England nur als ihr Absteigequartier,
Italien als ihren Sommergarten, Paris als ihren Gesell-
schaftssaal, ja die ganze Welt als ihr Eigentum be-
trachten. Ohne Sorgen und ohne Schranken schweben
sie dahin, und ihr Gold ist ein Talisman, der ihre toll-
sten Wünsche in Erfüllung zaubert.
Arme Armut! wie peinigend muß dein Hunger sein,
dort, wo andre im höhnenden Überflusse schwelgen!
Und hat man dir auch mit gleichgültiger Hand eine
Brotkruste in den Schoß geworfen, wie bitter müssen
die Tränen sein, womit du sie erweichst! Du vergiftest
dich mit deinen eignen Tränen. Wohl hast du recht,
wenn du dich zu dem Laster und dem Verbrechen ge-
sellst. Ausgestoßene Verbrecher tragen oft mehr
Menschlichkeit im Herzen als jene kühlen, untadel-
haften Staatsbürger der Tugend, in deren bleichen
Herzen die Kraft des Bösen erloschen ist, aber auch
die Kraft des Guten. Und gar das Laster ist nicht
immer Laster. Ich habe Weiber gesehen, auf deren
Wangen das rote Laster gemalt war, und in ihrem
Herzen wohnte himmlische Reinheit. Ich habe Weiber
gesehen - ich wollt', ich sähe sie wieder! -
III
Die Engländer
Unter den Bogengängen der Londoner Börse hat
jede Nation ihren angewiesenen Platz, und auf hoch-
gesteckten Täfelchen liest man die Namen: Russen,
Spanier, Schweden, Deutsche, Malteser, Juden, Han-
seaten, Türken usw. Vormals stand jeder Kaufmann
unter dem Täfelchen, worauf der Name seiner Nation
geschrieben. Jetzt aber würde man ihn vergebens dort
suchen; die Menschen sind fortgerückt; wo einst Spa-
nier standen, stehen jetzt Holländer; die Hanseaten
traten an die Stelle der Juden; wo man Türken sucht,
findet man jetzt Russen; die Italiener stehen, wo einst
die Franzosen gestanden; sogar die Deutschen sind
weitergekommen.
Wie auf der Londoner Börse, so auch in der übri-
gen Welt sind die alten Täfelchen stehengeblieben,
während die Menschen darunter weggeschoben wor-
den und andere an ihre Stelle gekommen sind, deren
neue Köpfe sehr schlecht passen zu der alten Auf-
schrift. Die alten stereotypen Charakteristiken der
Völker, wie wir solche in gelehrten Kompendien und
Bierschenken finden, können uns nichts mehr nutzen
und nur zu trostlosen Irrtümern verleiten. Wie wir
unter unsern Augen in den letzten Jahrzehnten den
Charakter unserer westlichen Nachbaren sich allmäh-
lich umgestalten sahen, so können wir, seit Aufhe-
bung der Kontinentalsperre, eine ähnliche Umwand-
lung jenseit des Kanales wahrnehmen. Steife,
schweigsame Engländer wallfahren scharweis nach
Frankreich, um dort sprechen und sich bewegen zu
lernen, und bei ihrer Rückkehr sieht man mit Erstau-
nen, daß ihnen die Zunge gelöst ist, daß sie nicht
mehr wie sonst zwei linke Hände haben und nicht
mehr mit Beefsteak und Plumpudding zufrieden sind.
Ich selbst habe einen solchen Engländer gesehen, der
in Tavistock- Tavern etwas Zucker zu seinem Blu-
menkohl verlangt hat, eine Ketzerei gegen die strenge
anglikanische Küche, worüber der Kellner fast rück-
lings fiel, indem gewiß seit der römischen Invasion
der Blumenkohl in England nie anders als in Wasser
abgekocht und ohne süße Zutat verzehrt worden. Es
war derselbe Engländer, der, obgleich ich ihn vorher
nie gesehen, sich zu mir setzte und einen so zuvor-
kommend französischen Diskurs anfing, daß ich nicht
umhinkonnte, ihm zu gestehen, wie sehr es mich
freue, einmal einen Engländer zu finden, der nicht
gegen den Fremden zurückhaltend sei, worauf er,
ohne Lächeln, ebenso freimütig entgegnete, daß er mit
mir spräche, um sich in der französischen Sprache zu
üben.
Es ist auffallend, wie die Franzosen täglich nach-
denklicher, tiefer und ernster werden, in ebendem
Maße, wie die Engländer dahin streben, sich ein lege-
res, oberflächliches und heiteres Wesen anzueignen;
wie im Leben selbst, so auch in der Literatur. Die
Londoner Pressen sind vollauf beschäftigt mit fa-
shionablen Schriften, mit Romanen, die sich in der
glänzenden Sphäre des Highlife bewegen oder dassel-
be abspiegeln, wie z.B. »Almalks«, »Vivian Grey«,
»Tremaine«, »The Guards«, »Flirtation«, welcher
letztere Roman die beste Bezeichnung wäre für die
ganze Gattung, für jene Koketterie mit ausländischen
Manieren und Redensarten, jene plumpe Feinheit,
schwerfällige Leichtigkeit, saure Süßelei, gezierte Ro-
heit, kurz, für das ganze unerquickliche Treiben jener
hölzernen Schmetterlinge, die in den Sälen
Westlondons herumflattern.
Dagegen welche Literatur bietet uns jetzt die fran-
zösische Presse, jene echte Repräsentantin des Gei-
stes und Willens der Franzosen! Wie ihr großer Kai-
ser die Muße seiner Gefangenschaft dazu anwandte,
sein Leben zu diktieren, uns die geheimsten Rat-
schlüsse seiner göttlichen Seele zu offenbaren und
den Felsen von St. Helena in einen Lehrstuhl der Ge-
schichte zu verwandeln, von dessen Höhe die Zeitge-
nossen gerichtet und die spätesten Enkel belehrt wer-
den, so haben auch die Franzosen selbst angefangen,
die Tage ihres Mißgeschicks, die Zeit ihrer politi-
schen Untätigkeit so rühmlich als möglich zu benut-
zen; auch sie schreiben die Geschichte ihrer Taten;
jene Hände, die so lange das Schwert geführt, werden
wieder ein Schrecken ihrer Feinde, indem sie zur
Feder greifen; die ganze Nation ist gleichsam beschäf-
tigt mit der Herausgabe ihrer Memoiren, und folgt sie
meinem Rate, so veranstaltet sie noch eine ganz be-
sondere Ausgabe ad usum Delphini, mit hübsch kolo-
rierten Abbildungen von der Einnahme der Bastille,
dem Tuileriensturm und dergleichen mehr.
Habe ich aber oben angedeutet, wie heutzutage die
Engländer leicht und frivol zu werden suchen und in
jene Affenhaut hineinkriechen, die jetzt die Franzosen
von sich abstreifen, so muß ich nachträglich bemer-
ken, daß ein solches Streben mehr aus der Nobility
und Gentry, der vornehmen Welt, als aus dem Bürger-
stande hervorgeht. Im Gegenteil, der gewerbtreibende
Teil der Nation, besonders die Kaufleute in den Fa-
brikstädten und fast alle Schotten tragen das äußere
Gepräge des Pietismus, ja ich möchte sagen Puritanis-
mus, so daß dieser gottselige Teil des Volkes mit den
weltlichgesinnten Vornehmen auf dieselbe Weise
kontrastiert wie die Kavaliere und Stutzköpfe, die
Walter Scott in seinen Romanen so wahrhaft schil-
dert. Man erzeigt dem schottischen Barden zu viele
Ehre, wenn man glaubt, sein Genius habe die äußere
Erscheinung und innere Denkweise dieser beiden Par-
teien der Geschichte nachgeschaffen und es sei ein
Zeichen seiner Dichtergröße, daß er, vorurteilsfrei wie
ein richtender Gott, beiden ihr Recht antut und beide
mit gleicher Liebe behandelt. Wirft man nur einen
Blick in die Betstuben von Liverpool oder Manche-
ster und dann in die fashionablen saloons von West-
london, so sieht man deutlich, daß Walter Scott bloß
seine eigene Zeit abgeschrieben und ganz heutige Ge-
stalten in alte Trachten gekleidet hat. Bedenkt man
gar, daß er von der einen Seite selbst als Schotte,
durch Erziehung und Nationalgeist, eine puritanische
Denkweise eingesogen hat, auf der andern Seite als
Tory, der sich gar ein Sprößling der Stuarts dünkt,
von ganzer Seele recht königlich und adeltümlich ge-
sinnt sein muß und daher seine Gefühle und
Gedanken beide Richtungen mit gleicher Liebe um-
fassen und zugleich durch deren Gegensatz neutrali-
siert werden, so erklärt sich sehr leicht seine Unpar-
teilichkeit bei der Schilderung der Aristokraten und
Demokraten aus Cromwells Zeit, eine Unparteilich-
keit, die uns zu dem Irrtume verleitete, als dürften wir
in seiner Geschichte Napoleons eine ebenso treue fair-
play-Schilderung der französischen Revolutionshel-
den von ihm erwarten.
Wer England aufmerksam betrachtet, findet jetzt
täglich Gelegenheit, jene beiden Tendenzen, die frivo-
le und puritanische, in ihrer widerwärtigsten Blüte
und, wie sich von selbst versteht, in ihrem Zweikampf
zu beobachten. Eine solche Gelegenheit gab ganz be-
sonders der famöse Prozeß des Herrn Wakefield,
eines lustigen Kavaliers, der gleichsam aus dem Steg-
reif die Tochter des reichen Herrn Turner, eines Liver-
pooler Kaufmanns, entführt und zu Gretna Green, wo
ein Schmied wohnt, der die stärksten Fesseln schmie-
det, geheiratet hatte. Die ganze kopfhängerische Sipp-
schaft, das ganze Volk der Auserlesenen Gottes schrie
Zeter über solche Verruchtheit, in den Betstuben Li-
verpools erflehte man die Strafe des Himmels über
Wakefield und seinen brüderlichen Helfer, die der
Abgrund der Erde verschlingen sollte wie die Rotte
des Korah, Dathan und Abiram, und um der heiligen
Rache noch sicherer zu sein, wurde zu gleicher Zeit in
den Gerichtssälen Londons der Zorn der Kings-
Bench, des Großkanzlers und selbst des Oberhauses
auf die Entweiher des heiligsten Sakramentes herab-
plädiert - während man in den fashionablen saloons
über den kühnen Mädchenräuber gar tolerant zu
scherzen und zu lachen wußte. Am ergötzlichsten
zeigte sich mir dieser Kontrast beider Denkweisen,
als ich einst in der Großen Oper neben zwei dicken
Manchesternen Damen saß, die diesen Versamm-
lungsort der vornehmen Welt zum ersten Male in
ihrem Leben besuchten und den Abscheu ihres Her-
zens nicht stark genug kundgeben konnten, als das
Ballett begann und die hochgeschürzten schönen Tän-
zerinnen ihre üppiggraziösen Bewegungen zeigten,
ihre lieben, langen, lasterhaften Beine ausstreckten
und plötzlich bacchantisch den entgegenhüpfenden
Tänzern in die Arme stürzten; die warme Musik, die
Urkleider von fleischfarbigem Trikot, die Natural-
sprünge, alles vereinigte sich, den armen Damen
Angstschweiß auszupressen, ihre Busen erröteten vor
Unwillen, »Shocking! for shame, for shame!« ächzten
sie beständig, und sie waren so sehr von Schrecken
gelähmt, daß sie nicht einmal das Perspektiv vom
Auge fortnehmen konnten und bis zum letzten Augen-
blicke, bis der Vorhang fiel, in dieser Situation sitzen
blieben.
Trotz diesen entgegengesetzten Geistes- und
Lebensrichtungen findet man doch wieder im engli-
schen Volke eine Einheit der Gesinnung, die eben
darin besteht, daß es sich als ein Volk fühlt; die neue-
ren Stutzköpfe und Kavaliere mögen sich immerhin
wechselseitig hassen und verachten, dennoch hören
sie nicht auf, Engländer zu sein; als solche sind sie
einig und zusammengehörig, wie Pflanzen, die aus
demselben Boden hervorgeblüht und mit diesem
Boden wunderbar verwebt sind. Daher die geheime
Übereinstimmung des ganzen Lebens und Webens in
England, das uns beim ersten Anblick nur ein Schau-
platz der Verwirrung und Widersprüche dünken will.
Überreichtum und Misere, Orthodoxie und Unglau-
ben, Freiheit und Knechtschaft, Grausamkeit und
Milde, Ehrlichkeit und Gaunerei, diese Gegensätze in
ihren tollsten Extremen, darüber der graue Nebelhim-
mel, von allen Seiten summende Maschinen, Zahlen,
Gaslichter, Schornsteine, Zeitungen, Porterkrüge, ge-
schlossene Mäuler, alles dieses hängt so zusammen,
daß wir uns keins ohne das andere denken können,
und was vereinzelt unser Erstaunen oder Lachen erre-
gen würde, erscheint uns als ganz gewöhnlich und
ernsthaft in seiner Vereinigung.
Ich glaube aber, so wird es uns überall gehen,
sogar in solchen Ländern, wovon wir noch seltsamere
Begriffe hegen und wo wir noch reichere Ausbeute
des Lachens und Staunens erwarten. Unsere Reiselust,
unsere Begierde, fremde Länder zu sehen, besonders
wie wir solche im Knabenalter empfinden, entsteht
überhaupt durch jene irrige Erwartung außerordentli-
cher Kontraste, durch jene geistige Maskeradelust, wo
wir Menschen und Denkweise unserer Heimat in jene
fremde Länder hineindenken und solchermaßen unsere
besten Bekannten in die fremden Kostüme und Sitten
vermummen. Denken wir z.B. an die Hottentotten, so
sind es die Damen unserer Vaterstadt, die schwarz an-
gestrichen und mit gehöriger Hinterfülle in unserer
Vorstellung umhertanzen, während unsere jungen
Schöngeister als Buschklepper auf die Palmbäume
hinaufklettern; denken wir an die Bewohner der Nord-
polländer, so sehen wir dort ebenfalls die wohlbe-
kannten Gesichter, unsere Muhme fährt in ihrem Hun-
deschlitten über die Eishahn, der dürre Herr Konrek-
tor liegt auf der Bärenhaut und säuft ruhig seinen
Morgentran, die Frau Akziseeinnehmerin, die Frau
Inspektorin und die Frau Infibulationsrätin hocken
beisammen und kauen Talglichter usw. Sind wir aber
in jene Länder wirklich gekommen, so sehen wir bald,
daß dort die Menschen mit Sitten und Kostüm gleich-
sam verwachsen sind, daß die Gesichter zu den Ge-
danken und die Kleider zu den Bedürfnissen passen,
ja daß Pflanzen, Tiere, Menschen und Land ein zu-
sammenstimmendes Ganze bilden.
IV
The Life of Napoleon Buonaparte
by Walter Scott
Armer Walter Scott! Wärest du reich gewesen, du
hättest jenes Buch nicht geschrieben und wärest kein
armer Walter Scott geworden! Aber die Curatores der
Constableschen Masse kamen zusammen und rechne-
ten und rechneten, und nach langem Subtrahieren und
Dividieren schüttelten sie die Köpfe - und dem armen
Walter Scott blieb nichts übrig als Lorbeeren und
Schulden. Da geschah das Außerordentliche: der Sän-
ger großer Taten wollte sich auch einmal im Herois-
mus versuchen, er entschloß sich zu einer cessio bo-
norum, der Lorbeer des großen Unbekannten wurde
taxiert, um große bekannte Schulden zu decken - und
so entstand in hungriger Geschwindigkeit, in bankrot-
ter Begeisterung das »Leben Napoleons«, ein Buch,
das von den Bedürfnissen des neugierigen Publikums
im allgemeinen und des englischen Ministeriums ins-
besondere gut bezahlt werden sollte.
Lobt ihn, den braven Bürger! lobt ihn, ihr sämtli-
chen Philister des ganzen Erdballs! lob ihn, du liebe
Krämertugend, die alles aufopfert, um die Wechsel
am Verfalltage einzulösen - nur mir mutet nicht zu,
daß auch ich ihn lobe.
Seltsam! der tote Kaiser ist im Grabe noch das
Verderben der Briten, und durch ihn hat jetzt Britan-
niens größter Dichter seinen Lorbeer verloren!
Es war Britanniens größter Dichter, man mag
sagen und einwenden, was man will. Zwar die Kriti-
ker seiner Romane mäkelten an seiner Größe und
warfen ihm vor, er dehne sich zu sehr ins Breite, er
gehe zu sehr ins Detail, er schaffe seine großen Ge-
stalten nur durch Zusammensetzung einer Menge von
kleinen Zügen, er bedürfe unzählig vieler Umständ-
lichkeiten, um die starken Effekte hervorzubringen -
Aber die Wahrheit zu sagen, er glich hierin einem
Millionär, der sein ganzes Vermögen in lauter Schei-
demünze liegen hat und immer drei bis vier Wagen
mit Säcken voll Groschen und Pfenningen herbeifah-
ren muß, wenn er eine große Summe zu bezahlen hat,
und der dennoch, sobald man sich über solche Unart
und das mühsame Schleppen und Zählen beklagen
will, ganz richtig entgegnen kann: gleichviel wie, so
gäbe er doch immer die verlangte Summe, er gäbe sie
doch, und er sei im Grunde ebenso zahlfähig und auch
wohl ebenso reich wie etwa ein anderer, der nur blan-
ke Goldbarren liegen hat, ja er habe sogar den Vorteil
des erleichterten Verkehrs, indem jener sich auf dem
großen Gemüsemarkte mit seinen großen Goldbarren
die dort keinen Kurs haben, nicht zu helfen weiß,
während jedes Kramweib mit beiden Händen zugreift,
wenn ihr gute Groschen und Pfenninge geboten
werden. Mit diesem populären Reichtume des briti-
schen Dichters hat es jetzt ein Ende, und er, dessen
Münze so kurant war, daß die Herzogin und die
Schneidersfrau sie mit gleichem Interesse annahmen,
er ist jetzt ein armer Walter Scott geworden. Sein
Schicksal mahnt an die Sage von den Bergelfen, die
neckisch wohltätig den armen Leuten Geld schenken,
das hübsch blank und gedeihlich bleibt, solange sie es
gut anwenden, das sich aber unter ihren Händen in
eitel Staub verwandelt, sobald sie es zu nichtswürdi-
gen Zwecken mißbrauchen. Sack nach Sack öffnen
wir Walter Scotts neue Zufuhr, und siehe da! statt der
blitzenden, lachenden Gröschlein finden wir nichts als
Staub und wieder Staub. Ihn bestraften die Bergelfen
des Parnassus, die Musen, die, wie alle edelsinnigen
Weiber, leidenschaftliche Napoleonistinnen sind und
daher doppelt empört waren über den Mißbrauch der
verliehenen Geistesschätze.
Wert und Tendenz des Scottschen Werks sind in
allen Zeitschriften Europas beleuchtet worden. Nicht
bloß die erbitterten Franzosen, sondern auch die be-
stürzten Landsleute des Verfassers haben das Ver-
dammungsurteil ausgesprochen. In diesen allgemei-
nen Weltunwillen mußten auch die Deutschen ein-
stimmen; mit schwerverhaltenem Feuereifer sprach
das Stuttgarter »Literaturblatt«, mit kalter Ruhe äu-
ßerten sich die Berliner »Jahrbücher für
wissenschaftliche Kritik«, und der Rezensent, der jene
kalte Ruhe um so wohlfeiler erschwang, je weniger
teuer ihm der Held des Buches sein muß, charakteri-
siert dasselbe mit den trefflichen Worten:
»In dieser Erzählung ist weder Gehalt noch Farbe,
weder Anordnung noch Lebendigkeit zu finden. Ver-
worren in oberflächlicher, nicht in tiefer Verwirrung,
ohne Hervortreten des Eigentümlichen, unsicher und
wandelbar, zieht der gewaltige Stoff träge vorüber;
kein Vorgang erscheint in seiner bestimmten Eigen-
heit, nirgends werden die springenden Punkte sicht-
bar, kein Ereignis wird deutlich, keines tritt in seiner
Notwendigkeit hervor, die Verbindung ist nur äußer-
lich, Gehalte und Bedeutung kaum geahnet. In solcher
Darstellung muß alles Licht der Geschichte erlöschen,
und sie selbst wird zum nicht wunderbaren, sondern
gemeinen Märchen. Die Überlegungen und Betrach-
tungen, welche sich öfters dem Vortrag einschieben,
sind von einer entsprechenden Art. Solch dünnlicher
philosophischer Bereitung ist unsre Lesewelt längst
entwachsen. Der dürftige Zuschnitt einer am einzel-
nen haftenden Moral reicht nirgend aus --«
Dergleichen und noch schlimmere Dinge, die der
scharfsinnige Berliner Rezensent, Varnhagen von
Ense, ausspricht, würde ich dem Walter Scott gern
verzeihen. Wir sind alle Menschen, und der beste von
uns kann einmal ein schlechtes Buch schreiben. Man
sagt alsdann, es sei unter aller Kritik, und die Sache
ist abgemacht. Verwunderlich bleibt es zwar, daß wir
in diesem neuen Werke nicht einmal Scotts schönen
Stil wiederfinden. In die farblose, wochentägliche
Rede werden vergebens hie und da etliche rote, blaue
und grüne Worte eingestreut, vergebens sollen glän-
zende Läppchen aus den Poeten die prosaische Blöße
bedecken, vergebens wird die ganze Arche Noäh ge-
plündert, um bestialische Vergleichungen zu liefern,
vergebens wird sogar das Wort Gottes zitiert, um die
dummen Gedanken zu überschilden. Noch verwunder-
licher ist es, daß es dem Walter Scott nicht einmal ge-
lang, sein angeborenes Talent der Gestaltenzeichnung
auszuüben und den äußern Napoleon aufzufassen.
Walter Scott lernte nichts aus jenen schönen Bildern,
die den Kaiser in der Umgebung seiner Generale und
Staatsleute darstellen, während doch jeder, der sie un-
befangen betrachtet, tief betroffen wird von der tragi-
schen Ruhe und antiken Gemessenheit jener Gesichts-
züge, die gegen die modern aufgeregten, pittoresken
Tagsgesichter so schauerlich erhaben kontrastieren
und etwas Herabgestiegen-Göttliches beurkunden.
Konnte aber der schottische Dichter nicht die Gestalt,
so konnte er noch viel weniger den Charakter des Kai-
sers begreifen, und gern verzeih ich ihm auch die Lä-
sterung eines Gottes, den er nicht kennt. Ich muß ihm
ebenfalls verzeihen, daß er seinen Wellington für
einen Gott hält und bei der Apotheose desselben so
sehr in Andacht gerät, daß er, der doch so stark in
Viehbildern ist, nicht weiß, womit er ihn vergleichen
soll.
Bin ich aber tolerant gegen Walter Scott und ver-
zeihe ich ihm die Gehaltlosigkeit, Irrtümer, Lästerun-
gen und Dummheiten seines Buches, verzeih ich ihm
sogar die Langeweile, die es mir verursacht - so darf
ich ihm doch nimmermehr die Tendenz desselben ver-
zeihen. Diese ist nichts Geringeres als die Exkulpati-
on des englischen Ministeriums in betreff des Verbre-
chens von St. Helena. »In diesem Gerichtshandel zwi-
schen dem englischen Ministerium und der öffentli-
chen Meinung«, wie der Berliner Rez. sich ausdrückt,
»macht Walter Scott den Sachwalter«, er verbindet
Advokatenkniffe mit seinem poetischen Talente, um
den Tatbestand und die Geschichte zu verdrehen, und
seine Klienten, die zugleich seine Patrone sind, dürf-
ten ihm wohl, außer seinen Sporteln, noch extra ein
Douceur in die Hand drücken.
Die Engländer haben den Kaiser bloß ermordet,
aber Walter Scott hat ihn verkauft. Es ist ein rechtes
Schottenstück, ein echt schottisches Nationalstück-
chen, und man sieht, daß schottischer Geiz noch
immer der alte, schmutzige Geiz ist und sich nicht
sonderlich verändert hat seit den Tagen von Naseby,
wo die Schotten ihren eigenen König, der sich ihrem
Schutze anvertraut, für die Summe von 400.000 Pfd.
Sterl. an seine englischen Henker verkauft haben.
Jener König ist derselbe Karl Stuart, den jetzt
Caledonias Barden so herrlich besingen - der Englän-
der mordet, aber der Schotte verkauft und besingt.
Das englische Ministerium hat seinem Advokaten
zu obigem Behufe das Archiv des Foreign Office ge-
öffnet, und dieser hat, im neunten Bande seines
Werks, die Aktenstücke, die ein günstiges Licht auf
seine Partei und einen nachteiligen Schatten auf deren
Gegner werfen konnten, gewissenhaft benutzt. Des-
halb gewinnt dieser neunte Band, bei all seiner ästhe-
tischen Wertlosigkeit, worin er den vorgehenden Bän-
den nichts nachgibt, dennoch ein gewisses Interesse:
man erwartet bedeutende Aktenstücke, und da man
deren keine findet, so ist das ein Beweis, daß deren
keine vorhanden waren, die zugunsten der englischen
Minister sprechen - und dieser negative Inhalt des
Buches ist ein wichtiges Resultat.
Alle Ausbeute, die das englische Archiv liefert, be-
schränkt sich auf einige glaubwürdige Kommunika-
tionen des edeln Sir Hudson Lowe und dessen Myrmi-
donen und einige Aussagen des General Gourgaud,
der, wenn solche wirklich von ihm gemacht worden,
als ein schamloser Verräter seines kaiserlichen Herrn
und Wohltäters ebenfalls Glauben verdient. Ich will
das Faktum dieser Aussagen nicht untersuchen, es
scheint sogar wahr zu sein, da es der Baron Stürmer,
einer von den drei Statisten der großen Tragödie, kon-
statiert hat; aber ich sehe nicht ein, was im günstig-
sten Falle dadurch bewiesen wird, außer daß Sir Hud-
son Lowe nicht der einzige Lump auf St. Helena war.
Mit Hülfsmitteln solcher Art und erbärmlichen Sug-
gestionen behandelt Walter Scott die Gefangen-
schaftsgeschichte Napoleons und bemüht sich, uns zu
überzeugen, daß der Exkaiser - so nennt ihn der Ex-
dichter - nichts Klügeres tun konnte, als sich den
Engländern zu übergeben, obgleich er seine Abfüh-
rung nach St. Helena vorauswissen mußte, daß er dort
ganz scharmant behandelt worden, indem er vollauf
zu essen und zu trinken hatte, und daß er endlich,
frisch und gesund und als ein guter Christ, an einem
Magenkrebse gestorben.
Walter Scott, indem er solchermaßen den Kaiser
voraussehen läßt, wie weit sich die Generosität der
Engländer erstrecken würde, nämlich bis St. Helena,
befreit ihn von dem gewöhnlichen Vorwurf, die tragi-
sche Erhabenheit seines Unglücks habe ihn selbst so
gewaltig begeistert, daß er zivilisierte Engländer für
persische Barbaren und die Beefsteakküche von St.
James für den Herd eines großen Königs ansah - und
eine heroische Dummheit beging. Auch macht Walter
Scott den Kaiser zu dem größten Dichter, der jemals
auf dieser Welt gelebt hat, indem er uns ganz
ernsthaft insinuiert, daß alle jene denkwürdigen
Schriften, die seine Leiden auf St. Helena berichten,
sämtlich von ihm selbst diktiert worden.
Ich kann nicht umhin, hier die Bemerkung zu ma-
chen, daß dieser Teil des Walter Scottschen Buches
sowie Überhaupt die Schriften selbst, wovon er hier
spricht, absonderlich die Memoiren von O'Meara,
auch die Erzählung des Kapitän Maitland, mich zu-
weilen an die possenhafteste Geschichte von der Welt
erinnert, so daß der schmerzlichste Unmut meiner
Seele plötzlich in muntre Lachlust Übergehen will.
Diese Geschichte ist aber keine andere als »Die
Schicksale des Lemuel Gulliver«, ein Buch, worüber
ich einst als Knabe soviel gelacht und worin gar er-
götzlich zu lesen ist, wie die kleinen Liliputaner nicht
wissen, was sie mit dem großen Gefangenen anfangen
sollen, wie sie tausendweise an ihm herumklettern
und ihn mit unzähligen dünnen Härchen festbinden,
wie sie mit großen Anstalten ihm ein eigenes großes
Haus errichten, wie sie Über die Menge Lebensmittel
klagen, die sie ihm täglich verabreichen müssen, wie
sie ihn im Staatsrat anschwärzen und beständig jam-
mern, daß er dem Lande zuviel koste, wie sie ihn gern
umbringen möchten, ihn aber noch im Tode fürchten,
da sein Leichnam eine Pest hervorbringen könne, wie
sie sich endlich zur glorreichsten Großmut entschlie-
ßen und ihm seinen Titel lassen und nur seine Augen
ausstechen wollen etc. Wahrlich, überall ist Liliput,
wo ein großer Mensch unter kleine Menschen gerät,
die unermüdlich und auf die kleinlichste Weise ihn
abquälen und die wieder durch ihn genug Qual und
Not ausstehen; aber hätte der Dechant Swift in unse-
rer Zeit sein Buch geschrieben, so würde man in des-
sen scharfgeschliffenem Spiegel nur die Gefangen-
schaftsgeschichte des Kaisers erblicken und bis auf
die Farbe des Rocks und des Gesichts die Zwerge er-
kennen, die ihn gequält haben.
Nur der Schluß des Märchens von St. Helena ist
anders, der Kaiser stirbt an einem Magenkrebs, und
Walter Scott versichert uns, das sei die alleinige Ursa-
che seines Todes. Darin will ich ihm auch nicht wi-
dersprechen. Die Sache ist nicht unmöglich. Es ist
möglich, daß ein Mann, der auf der Folterbank ge-
spannt liegt, plötzlich ganz natürlich an einem
Schlagfluß stirbt. Aber die böse Welt wird sagen, die
Folterknechte haben ihn hingerichtet. Die böse Welt
hat sich nun einmal vorgenommen, die Sache ganz
anders zu betrachten wie der gute Walter Scott. Wenn
dieser gute Mann, der sonst so bibelfest ist und gern
das Evangelium zitiert, in jenem Aufruhr der Elemen-
te, in jenem Orkane, der beim Tode Napoleons aus-
brach, nichts anders sieht als ein Ereignis, daß auch
beim Tode Cromwells stattfand, so hat doch die Welt
darüber ihre eigenen Gedanken. Sie betrachtet den
Tod Napoleons als die entsetzlichste Untat losbre-
chendes Schmerzgefühl wird Anbetung, vergebens
macht Walter Scott den Advocatum Diaboli, die Hei-
ligsprechung des toten Kaisers strömt aus allen edeln
Herzen, alle edeln Herzen des europäischen Vaterlan-
des verachten seine kleinen Henker und den großen
Barden, der sich zu ihrem Komplizen gesungen, die
Musen werden bessere Sänger zur Feier ihres Lieb-
lings begeistern, und wenn einst Menschen verstum-
men, so sprechen die Steine, und der Martyrfelsen St.
Helena ragt schauerlich aus den Meereswellen und er-
zählt den Jahrtausenden seine ungeheure Geschichte.
V
Old Bailey
Schon der Name Old Bailey erfüllt die Seele mit
Grauen. Man denkt sich gleich ein großes, schwarzes,
mißmütiges Gebäude, einen Palast des Elends und
des Verbrechens. Der linke Flügel, der das eigentliche
Newgate bildet, dient als Kriminalgefängnis, und da
sieht man nur eine hohe Wand von wetterschwarzen
Quadern, worin zwei Nischen mit ebenso schwarzen
allegorischen Figuren, und wenn ich nicht irre, stellt
eine von ihnen die Gerechtigkeit vor, indem, wie ge-
wöhnlich, die Hand mit der Waage abgebrochen ist
und nichts als ein blindes Weibsbild mit einem
Schwerte übrigblieb. Ungefähr gegen die Mitte des
Gebäudes ist der Altar dieser Göttin, nämlich das
Fenster, wo das Galgengerüst zu stehen kommt, und
endlich rechts befindet sich der Kriminalgerichtshof,
worin die vierteljährlichen Sessionen gehalten wer-
den. Hier ist ein Tor, das gleich den Pforten der Dan-
teschen Hölle die Inschrift tragen sollte:
Per me si va nella citta dolente,
Per me si va nell' eterno dolore,
Per me si va tra la perduta gente.
Durch dieses Tor gelangt man auf einen kleinen
Hof, wo der Abschaum des Pöbels versammelt ist, um
die Verbrecher durchpassieren zu sehen; auch stehen
hier Freunde und Feinde derselben, Verwandte, Bet-
telkinder, Blödsinnige, besonders alte Weiber, die den
Rechtsfall des Tages abhandeln, und vielleicht mit
mehr Einsicht als Richter und Jury, trotz all ihrer
kurzweiligen Feierlichkeit und langweiligen Jurispru-
denz. Hab ich doch draußen vor der Gerichtstüre eine
alte Frau gesehen, die im Kreise ihrer Gevatterinnen
den armen schwarzen William besser verteidigte als
drinnen im Saale dessen grundgelehrter Advokat -
wie sie die letzte Träne mit der zerlumpten Schürze
aus den roten Augen wegwischte, schien auch
Williams ganze Schuld vertilge zu sein.
Im Gerichtssaale selbst, der nicht besonders groß,
ist unten, vor der sogenannten Bar (Schranken),
wenig Platz für das Publikum; dafür gibt es aber
oben, an beiden Seiten, sehr geräumige Galerien mit
erhöheten Bänken, wo die Zuschauer Kopf über Kopf
gestapelt stehen.
Als ich Old Bailey besuchte, fand auch ich Platz
auf einer solchen Galerie, die mir von einer alten
Pförtnerin gegen Gratifikation eines Schillings er-
schlossen wurde. Ich kam in dem Augenblick, wo die
Jury sich erhob, um zu urteilen, ob der schwarze Wil-
liam des angeklagten Verbrechens schuldig oder nicht
schuldig sei.
Auch hier, wie in den andern Gerichtshöfen Lon-
dons, sitzen die Richter in blauschwarzer Toga, die
hellviolett gefüttert ist, und ihr Haupt bedeckt die
weißgepuderte Perücke, womit oft die schwarzen Au-
genbraunen und schwarzen Backenbärte gar drollig
kontrastieren. Sie sitzen an einem langen grünen Ti-
sche, auf erhabenen Stühlen, am obersten Ende des
Saales, wo an der Wand mit goldenen Buchstaben
eine Bibelstelle, die vor ungerechtem Richterspruch
warnt, eingegraben steht. An beiden Seiten sind
Bänke für die Männer der Jury und Plätze zum Stehen
für Kläger und Zeugen. Den Richtern gerade gegen-
über ist der Platz der Angeklagten; diese sitzen nicht
auf einem Armesünderbänkchen, wie bei den öffentli-
chen Gerichten in Frankreich und Rheinland, sondern
aufrecht stehen sie hinter einem wunderlichen Brette,
das oben wie ein schmalgebogenes Tor ausgeschnit-
ten ist. Es soll dabei ein künstlicher Spiegel ange-
bracht sein, wodurch der Richter imstande ist, jede
Miene der Angeklagten deutlich zu beobachten. Auch
liegen einige grüne Kräuter vor letzteren, um ihre
Nerven zu stärken, und das mag zuweilen nötig sein,
wo man angeklagt steht auf Leib und Leben. Auch auf
dem Tische der Richter sah ich dergleichen grüne
Kräuter und sogar eine Rose liegen. Ich weiß nicht,
wie es kommt, der Anblick dieser Rose hat mich tief
bewegt. Die rote blühende Rose, die Blume der Liebe
und des Frühlings, lag auf dem schrecklichen Richter-
tische von Old Bailey! Es war im Saale so schwül
und dumpfig. Es schaute alles so unheimlich mür-
risch, so wahnsinnig ernst. Die Menschen sahen aus,
als kröchen ihnen graue Spinnen über die blöden Ge-
sichter. Hörbar klirrten die eisernen Waagschalen
über dem Haupte des armen schwarzen Williams.
Auch auf der Galerie bildete sich eine Jury. Eine
dicke Dame, aus deren rotaufgedunsenem Gesicht die
kleinen Äuglein wie Glühwürmchen hervorglimmten,
machte die Bemerkung, daß der schwarze William ein
sehr hübscher Bursche sei. Indessen ihre Nachbarin,
eine zarte, piepsende Seele in einem Körper von
schlechtem Postpapier, behauptete, er trüge das
schwarze Haar zu lang und zottig und blitze mit den
Augen wie Herr Kean im »Othello« - »Dagegen«,
fuhr sie fort, »ist doch der Thomson ein ganz anderer
Mensch, mit hellem Haar und glatt gekämmt nach der
Mode, und er ist ein sehr geschickter Mensch, er bläst
ein bißchen die Flöte, er malt ein bißchen, er spricht
ein bißchen Französisch« - »und stiehlt ein bißchen«,
fügte die dicke Dame hinzu. »Ei was, stehlen«, ver-
setzte die dünne Nachbarin, »das ist doch nicht so
barbarisch wie Fälschung; denn ein Dieb, es sei denn,
er habe ein Schaf gestohlen, wird nach Botany Bay
transportiert, während der Bösewicht, der eine Hand-
schrift verfälscht hat, ohne Gnad' und Barmherzigkeit
gehenkt wird.« - »Ohne Gnad' und Barmherzigkeit!«
seufzte neben mir ein magerer Mann in einem ver-
wirrten schwarzen Rock. »Hängen! kein Mensch hat
das Recht, einen andern umbringen zu lassen, am al-
lerwenigsten sollten Christen ein Todesurteil fällen,
da sie doch daran denken sollten, daß der Stifter ihrer
Religion, unser Herr und Heiland, unschuldig verur-
teilt und hingerichtet worden!« - »Ei was«, rief wie-
der die dünne Dame und lächelte mit ihren dünnen
Lippen, »wenn so ein Fälscher nicht gehenkt würde,
wäre ja kein reicher Mann seines Vermögens sicher,
z.B. der dicke Jude in Lombard Street, Saint Swithins
Lane, oder unser Freund Herr Scott, dessen
Handschrift so täuschend nachgemacht worden. Und
Herr Scott hat doch sein Vermögen so sauer erwor-
ben, und man sagt sogar, er sei dadurch reich gewor-
den, daß er für Geld die Krankheiten anderer auf sich
nahm, ja die Kinder laufen ihm jetzt noch auf der
Straße nach und rufen: ›Ich gebe dir ein Sixpence,
wenn du mir mein Zahnweh abnimmst, wir geben dir
einen Schilling, wenn du Gottfriedchens Buckel neh-
men willst‹« - »Kurios!« fiel ihr die dicke Dame in
die Rede, »es ist doch kurios, daß der schwarze Wil-
liam und der Thomson früherhin die besten Spießge-
sellen gewesen sind und zusammen gewohnt und ge-
gessen und getrunken haben und jetzt Edward Thom-
son seinen alten Freund der Fälschung anklagt!
Warum ist aber die Schwester von Thomson nicht
hier, da sie doch sonst ihrem süßen William überall
nachgelaufen?« Ein junges schönes Frauenzimmer,
über dessen holdem Gesichte eine dunkle Betrübnis
verbreitet lag, wie ein schwarzer Flor über einem blü-
henden Rosenstrauch, flüsterte jetzt eine ganz lange,
verweinte Geschichte, wovon ich nur soviel verstand,
daß ihre Freundin, die schöne Mary, von ihrem Bru-
der gar bitterlich geschlagen worden und todkrank zu
Bette liege. »Nennt sie doch nicht die schöne Mary!«
brummte verdrießlich die dicke Dame, »viel zu
mager, sie ist viel zu mager, als daß man sie schön
nennen könnte, und wenn gar ihr William gehenkt
wird -«
In diesem Augenblick erschienen die Männer der
Jury und erklärten, daß der Angeklagte der Fälschung
schuldig sei. Als man hierauf den schwarzen William
aus dem Saale fortführte, warf er einen langen, langen
Blick auf Edward Thomson.
Nach einer Sage des Morgenlandes war Satan einst
ein Engel und lebte im Himmel mit den andern En-
geln, bis er diese zum Abfall verleiten wollte und des-
halb von der Gottheit hinuntergestoßen wurde in die
ewige Nacht der Hölle. Während er aber vom Himmel
hinabsank, schaute er immer noch in die Höhe, immer
nach dem Engel, der ihn angeklagt hatte, je tiefer er
sank, desto entsetzlicher und immer entsetzlicher
wurde sein Blick - Und es muß ein schlimmer Blick
gewesen sein; denn jener Engel, den er traf, wurde
bleich, niemals trat wieder Röte in seine Wangen, und
er heißt seitdem der Engel des Todes.
Bleich wie der Engel des Todes wurde Edward
Thomson.
VI
Das neue Ministerium
In Bedlam habe ich vorigen Sommer einen Philoso-
phen kennengelernt, der mir, mit heimlichen Augen
und flüsternder Stimme, viele wichtige Aufschlüsse
über den Ursprung des Übels gegeben hat. Wie man-
cher andere seiner Kollegen meinte auch er, daß man
hierbei etwas Historisches annehmen müsse. Was
mich betrifft, ich neigte mich ebenfalls zu einer sol-
chen Annahme und erklärte das Grundübel der Welt
aus dem Umstand, daß der liebe Gott zuwenig Geld
erschaffen habe.
»Du hast gut reden«, antwortete der Philosoph,
»der liebe Gott war sehr knapp bei Kassa, als er die
Welt erschuf. Er mußte das Geld dazu vom Teufel
borgen und ihm die ganze Schöpfung als Hypothek
verschreiben. Da ihm nun der liebe Gott von Gott und
Rechts wegen die Welt noch schuldig ist, so darf er
ihm auch aus Delikatesse nicht verwehren, sich darin
herumzutreiben und Verwirrung und Unheil zu stif-
ten. Der Teufel aber ist seinerseits wieder sehr stark
dabei interessiert, daß die Welt nicht ganz zugrunde
und folglich seine Hypothek verlorengehe; er hütet
sich daher, es allzu toll zu machen, und der liebe
Gott, der auch nicht dumm ist und wohl weiß, daß er
im Eigennutz des Teufels seine geheime Garantie hat,
geht oft so weit, daß er ihm die ganze Herrschaft der
Welt anvertraut, d.h. dem Teufel den Auftrag gibt, ein
Ministerium zu bilden. Dann geschieht, was sich von
selbst versteht, Samiel erhält das Kommando der höl-
lischen Heerscharen, Beelzebub wird Kanzler, Vitzli-
putzli wird Staatssekretär, die alte Großmutter be-
kommt die Kolonien usw. Diese Verbündeten wirt-
schaften dann in ihrer Weise, und indem sie, trotz des
bösen Willens ihrer Herzen, aus Eigennutz gezwun-
gen sind, das Heil der Welt zu befördern, entschädi-
gen sie sich für diesen Zwang dadurch, daß sie zu den
guten Zwecken immer die niederträchtigsten Mittel
anwenden. Sie trieben es jüngsthin so arg, daß Gott
im Himmel solche Greuel nicht länger ansehen konnte
und einem guten Engel den Auftrag gab, ein neues
Ministerium zu bilden. Dieser sammelte nun um sich
her alle guten Geister. Freudige Wärme durchdrang
wieder die Welt, es wurde Licht, und die bösen Gei-
ster entwichen. Aber sie legten doch nicht ruhig die
Klauen in den Schoß; heimlich wirken sie gegen alles
Gute, sie vergiften die neuen Heilquellen, sie zer-
knicken hämisch jede Rosenknospe des neuen Früh-
lings, mit ihren Amendements zerstören sie den Baum
des Lebens, chaotisches Verderben droht alles zu ver-
schlingen, und der liebe Gott wird am Ende wieder
dem Teufel die Herrschaft der Welt übergeben
müssen, damit sie, sei es auch durch die schlechtesten
Mittel, wenigstens erhalten werde. Siehst du, das ist
die schlimme Nachwirkung einer Schuld.«
Diese Mitteilung meines Freundes in Bedlam er-
klärte vielleicht den jetzigen englischen Minister-
wechsel. Erliegen müssen die Freunde Cannings, die
ich die guten Geister Englands nenne, weil ihre Geg-
ner dessen Teufel sind; diese, den dummen Teufel
Wellington an ihrer Spitze, erheben jetzt ihr Siegesge-
schrei. Schelte mir keiner den armen George, er mußte
den Umständen nachgeben. Man kann nicht leugnen,
daß nach Cannings Tode die Whigs nicht imstande
waren, die Ruhe in England zu erhalten, da die Maß-
regeln, die sie deshalb zu ergreifen hatten, beständig
von den Tories vereitelt wurden. Der König, dem die
Erhaltung der öffentlichen Ruhe, d.h. die Sicherheit
seiner Krone, als das Wichtigste erscheint, mußte
daher den Tories selbst wieder die Verwaltung des
Staates überlassen - Und, oh! sie werden jetzt wieder,
nach wie vor, alle Früchte des Volksfleißes in ihren
eigenen Säckel hineinverwalten, sie werden als regie-
rende Kornjuden die Preise ihres Getreides in die
Höhe treiben, John Bull wird vor Hunger mager wer-
den, er wird endlich für einen Bissen Brot sich leibei-
gen selbst den hohen Herren verkaufen, sie werden
ihn vor den Pflug spannen und peitschen, er wird
nicht einmal brummen dürfen, denn auf der einen
Seite droht ihm der Herzog von Wellington mit dem
Schwerte, und auf der andern Seite schlägt ihn der
Erzbischof von Canterbury mit der Bibel auf den
Kopf - und es wird Ruhe im Lande sein.
Die Quelle jener Übel ist die Schuld, the national
debt oder, wie Cobbett sagt, the king's debt. Cobbett
bemerkt nämlich mit Recht: Während man allen Insti-
tuten den Namen des Königs voransetzt, z.B. the
king's army, the king's navy, the king's courts, the
king's prisons etc., wird doch die Schuld, die eigent-
lich aus jenen Instituten hervorging, niemals the
king's debt genannt, und sie ist das einzige, wobei
man der Nation die Ehre erzeigt, etwas nach ihr zu
benennen.
Der Übel größtes ist die Schuld. Sie bewirkt zwar,
daß der englische Staat sich erhält und daß sogar des-
sen ärgste Teufel ihn nicht zugrunde richten; aber sie
bewirkt auch, daß ganz England eine große Tretmühle
geworden, wo das Volk Tag und Nacht arbeiten muß,
um seine Gläubiger zu füttern, daß England vor lauter
Zahlungssorgen alt und grau und aller heiteren Ju-
gendgefühle entwöhnt wird, daß England, wie bei
stark verschuldeten Menschen zu geschehen pflegt,
zur stumpfsten Resignation niedergedrückt ist und
sich nicht zu helfen weiß - obgleich 900.000 Flinten
und ebensoviel Säbel und Bajonette im Tower zu
London aufbewahrt liegen.
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