Das ist der alte Märchenwald!
Es duftet die Lindenblüte!
Der wunderbare Morgenglanz
Bezaubert mein Gemüte.
Ich ging fürbaß, und wie ich ging,
Erklang es in der Höhe.
Das ist die Nachtigall, sie singt
Von Lieb' und Liebeswehe.
Sie singt von Lieb' und Liebesweh,
Von Tränen und von Lachen,
Sie jubelt so traurig, sie schluchzet so froh,
Vergessene Träume erwachen. -
Ich ging fürbaß, und wie ich ging,
Da sah ich vor mir liegen
Auf freiem Platz ein großes Schloß,
Die Giebel hoch aufstiegen.
Verschlossene Fenster, überall
Ein Schweigen und ein Trauern;
Es schien, als wohne der stille Tod
In diesen öden Mauern.
Dort vor dem Tor lag eine Sphinx,
Ein Zwitter von Schrecken und Lüsten,
Der Leib und die Tatzen wie ein Löw',
Ein Weib an Haupt und Brüsten.
Ein schönes Weib! Der weiße Blick,
Er sprach von wildem Begehren;
Die stummen Lippen wölbten sich
Und lächelten stilles Gewähren.
Die Nachtigall, sie sang so süß -
Ich konnt nicht widerstehen -
Und als ich küßte das holde Gesicht,
Da war's um mich geschehen.
Lebendig ward das Marmorbild,
Der Stein begann zu ächzen -
Sie trank meiner Küsse lodernde
Glut Mit Dürsten und mit Lechzen.
Sie trank mir fast den Odem aus -
Und endlich, wollustheischend,
Umschlang sie mich, meinen armen Leib
Mit den Löwentatzen zerfleischend.
Entzückende Marter und wonniges Weh!
Der Schmerz wie die Lust unermeßlich!
Derweilen des Mundes Kuß mich beglückt,
Verwunden die Tatzen mich gräßlich.
Die Nachtigall sang: »O schöne Sphinx!
O Liebe! was soll es bedeuten,
Daß du vermischest mit Todesqual
All deine Seligkeiten?
O schöne Sphinx! O löse mir
Das Rätsel, das wunderbare!
Ich hab darüber nachgedacht
Schon manche tausend Jahre.«
Das hätte ich alles sehr gut in guter Prosa sagen
können... Wenn man aber die alten Gedichte wieder
durchliest, um ihnen, behufs eines erneueten Ab-
drucks, einige Nachfeile zu erteilen, dann über-
schleicht einen unversehens die klingelnde Gewohn-
heit des Reims und Silbenfalls, und siehe! es sind
Verse, womit ich die dritte Auflage des »Buchs der
Lieder« eröffne. O Phöbus Apollo! sind diese Verse
schlecht, so wirst du mir gern verzeihen... Denn du
bist ein allwissender Gott, und du weißt sehr gut,
warum ich mich seit so vielen Jahren nicht mehr vor-
zugsweise mit Maß und Gleichklang der Wörter be-
schäftigen konnte... Du weißt, warum die Flamme, die
einst in brillanten Feuerwerkspielen die Welt
ergötzte, plötzlich zu weit ernsteren Bränden verwen-
det werden mußte... Du weißt, warum sie jetzt in
schweigender Glut mein Herz verzehrt... Du verstehst
mich, großer schöner Gott, der du ebenfalls die golde-
ne Leier zuweilen vertauschtest mit dem starken
Bogen und den tödlichen Pfeilen... Erinnerst du dich
auch noch des Marsyas, den du lebendig geschunden?
Es ist schon lange her, und ein ähnliches Beispiel tät
wieder not... Du lächelst, o mein ewiger Vater!
Geschrieben zu Paris, den 20. Februar 1839
Heinrich Heine
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