Wir danken dem Autor für die Genehmigung,
diesen Aufsatz auf unseren Seiten spiegeln zu dürfen.
Das Original befindet sich hier.
Er lebte für einige Zeit auf der britischen Insel Helgoland und fühlte
sich müde, niedergeschlagen, abgekämpft. Jetzt mochte er nur noch den
schwebenden Wolken nachschauen, sich in die Wunderwelt alter Märchen
versenken, vielleicht selbst ein wenig poetischen Wortzauber treiben. Als
eine Ironie des Schicksals wollte ihm erscheinen, dass ausgerechnet er,
der sich so sehr nach beschaulicher Ruhe sehnte, in langen Jahren das
ganze Gegenteil getan hatte: «Ich musste politische Annalen herausgeben,
Zeitinteressen vortragen, revolutionäre Wünsche anzetteln, die
Leidenschaften aufstacheln, den armen deutschen Michel beständig an der
Nase zupfen, dass er aus seinem gesunden Riesenschlaf erwache.» Aber er
hatte dem schnarchenden Giganten nur ein schwaches Niesen entlocken
können, und als er ihm einmal - so fabulierte er kaustisch - aus lauter
Verzweiflung die Nachtmütze in Brand stecken wollte, sei sie so feucht
von Gedankenschweiss gewesen, dass sie nur gelinde rauchte. Der Spötter,
der diese Zeilen auf den 1. Juli 1830 datierte, hatte seine Leser aus
biedermeierlicher Bravheit und Vorsicht nicht aufschrecken können, sie
nicht in staatsbürgerliche Unruhe, geschweige denn Auflehnung
«hineinzuhetzen» vermocht. An der selbstgewählten Aufgabe, den
literarischen «Guerillakampf» gegen Staatsgewalten zu führen, nun
zweifelnd, resümierte er mit nie versiegender Ironie: «Ich werde mir
ebenfalls eine deutsche Nachtmütze anschaffen und über die Ohren
ziehen.» Wohin aber konnte ein Literat, der im «mündig» gewordenen
Europa für «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» gestritten hatte,
sein Haupt betten? Wo durfte ein Jünger der Aufklärung, Sympathisant der
Revolution und obendrein noch ein Jude den schönen Traum von der
allgemeinen Menschenverbrüderung ungestört träumen? In Deutschland, wo
die Polizei «sogar den Schlaf» kontrollierte, war das ganz unmöglich.
Vielleicht aber in England, der Wiege parlamentarischer und industrieller
Bürgerlichkeit, wo er vor kurzem noch das «glückselige Albion», das
«Land der Freiheit» gesucht hatte? «Nimmermehr!» so widerstrebte, auf
seine Individualität bedacht, der Poet in diesem Manne: «Nimmermehr in
diesem schnöden Lande, wo die Maschinen sich wie Menschen und die
Menschen wie Maschinen gebärden.» - Oder vielleicht in den Vereinigten
Staaten von Nordamerika, wo es weder Fürsten noch Adel gab und alle
Menschen «gleich» waren, mit Ausnahme jener Millionen, die «schwarze
oder braune Haut haben und wie die Hunde behandelt werden»? «Du
weisst», schrieb er an den fiktiven Leser und Freund, «wie ich über
dieses gottverfluchte Land denke, das ich einst liebte, als ich es nicht
kannte.» Dort, wo die herrschenden Biedermänner ein «grosses Wesen von
ihrem Christentum» machen, würden ihn die unsichtbaren Ketten noch
schmerzlicher drücken als zu Hause die sichtbaren: «Das Geld ist ihr
Gott, ihr einziger allmächtiger Gott.» - Und endlich Frankreich, das
Land der Grossen Revolution mitsamt den Gesetzestafeln der Menschen- und
Bürgerrechte, die die humane Aufgabe verkündigt hatten, den freien
Menschen und Bürger in einer freiheitlichen Gesellschaft und
Staatlichkeit zu verwirklichen? «In Frankreich selbst soll es jetzt
schlecht aussehen. Die dortigen Machthaber sind dieselben Toren, denen man
die Köpfe abgeschlagen. Was half's! sie sind dem Grabe wieder entstiegen,
und jetzt ist ihr Regiment noch törichter als früher.» Da war kein Ort,
nirgends ein Land, wo ein Freund des politischen und auch sozialen
Fortschritts seine Heimat finden mochte. «O Freiheit!» seufzte der
Dichter, «du bist ein böser Traum!» Je höher die Ideale und je
ungeduldiger das Streben nach ihrer baldigen Verwirklichung, desto tiefer
der Absturz in die Depression. Das musste hier Heinrich Heine erfahren.
Geboren am 13. Dezember 1797 als Sohn israelitischer Eltern in
Düsseldorf, aufgewachsen unter den Nachwehen der Französischen
Revolution und der rheinbündischen Schirmherrschaft des Kaisers Napoleon,
hatte er seit 1815 - seit nunmehr fünfzehn Jahren - als Lehrling und
Kaufmann, Student und Literat Gedicht auf Gedicht, Buch auf Buch
hervorgebracht. Er hatte auf diese Weise sich selbst, aber auch den Weg
und das Ziel der Menschheit zu verstehen gesucht. Ein Schüler Hegels und
also nach objektiver Entwicklung fragend, begriff er die Revolution von
1789 gemäss den Worten seines philosophischen Lehrmeisters als den
«herrlichen Sonnenaufgang» eines Zeitalters, in dem «der Mensch sich
auf den Kopf, d. i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach
diesem erbaut». Und ein jeder konnte es in seinen «Reisebildern»
nachlesen: Er selbst hatte sich dort in der Schilderung seiner
«Harzreise» einen «Ritter von dem Heiligen Geist» genannt, womit er
nichts anderes als Hegels «Weltgeist» meinte, dessen notwendiger
Endzweck die «Freiheit» und «Gleichheit» aller Menschen sei. Welch
freigeistiges Bekenntnis - in welch geistwidrigen, mit Maulkorb und
Polizeikontrollen versehenen Staatsverhältnissen! Nach einem
Vierteljahrhundert der Revolution und der durch sie auch im Gegenlager
erzwungenen Reformen hatten England und die verbündeten Fürsten Europas
das postrevolutionäre Kaisertum Napoleons überwunden. Das
vielbeschworene Rad der Geschichte war tatsächlich zurückgedreht. Auf
dem Kontinent herrschte die Heilige Allianz unter dem Vorrang des
Zarentums, und in Deutschland stand Metternichs Name für die
Wiederherstellung des geschichtlich vergreisten, von den Fürsten
beherrschten Regierungssystems. «Restauration» war das Wort, mit dem
sich die neu-alten Staatsgewalten selbst titulierten. Sie stellten
Aufklärung, Revolution, Napoleon und jeden ihrer Anhänger vor die
Messlatte der konservativen Evolutionstheorie: verteufelten dies alles als
irre Vernunfttümelei, als Attentate gegen das «organische Wachstum»,
die «historische Kontinuität» der Herrschenden und ihrer Staatsvölker.
Wer da nicht im dumpfen Traditionsglauben verharrte, sich auch nicht mit
dem heiteren Selbstgenügen und Alltagsoptimismus des bürgerlichen
Biedermeier beschied, lebte in schwieriger Zeit. Doch Heine hatte die
Gitter, die aus Bürokraten und Zensoren, Polizisten und Demagogenriechern
gebaut waren, um die Deutschen von den Diskontinuitäten des
Weltfortschritts abzusperren, geistig längst überwunden. Seine
Weltkenntnis war durch Leben und Reisen in Deutschland, Polen, Italien und
England geprüft. Seine Denk- und Ausdrucksfähigkeit war durch die
schwere Kunst des Schreibens geschärft. Und bei alledem hatten ihm drei
Zeitgenossen der älteren Generation - Napoleon, Hegel und Goethe - als
epochale Orientierungsgestalten gegolten. In dem toten, noch immer
verfemten Kaiser der Franzosen bewunderte Heine einen genialen
«Geschäftsführer des Weltgeistes». An Hegel, der ebendieses
Napoleonbild lehrte, achtete er die rationale Bewusstheit eines «Lebens
für die Idee» der Menschheitsbefreiung. Bei Goethe rühmte er das
«plastische Anschauen, Fühlen und Denken», das «ewig feststehende»
Geisteswerk des Dichters. Doch in den zwanghaft trägen Strömungen der
Restauration beständig «nach links» steuernd, war Heine mehr und mehr
über seine drei Leitsterne hinausgelangt. Napoleon liebte er jetzt nur
noch «bis zum 18. Brumaire - da verriet er die Freiheit». Auch von
Hegel, dem Vordenker einer konstitutionellen Monarchie Preussens,
distanzierte er sich als einem der «älteren Leute», die am Ende doch
mehr an die «Interessen ihrer Kapitalien» als an die «Interessen der
Menschheit» dächten. An dem Weimarer Dichterfürsten bemängelte er die
«unmännliche Kunstbehaglichkeit» eines Charakters, der «sich selbst
letzter Zweck» sein wolle.
Gleichheit als Korrektiv der FreiheitEs war eine Werteverschiebung, die allem zugrunde lag. Dieser Menschenrechtsstreiter der jüngeren Generation, der sich seit kurzem einen «Demokraten» nannte, verlagerte das Gewicht seiner Fortschrittskriterien von der liberalistischen Losung der «Freiheit» zum revolutionär-demokratischen Postulat der «Gleichheit». Diesen Leitbegriff pointierend, stellte er sich gegen jede Art der Bevorrechtung - auch der des bürgerlichen Eigentums. Die «Gleichheit» sollte das Korrektiv der «Freiheit» sein! Nur so schienen ihm beide Prinzipien geeignet, die bürgerliche Demokratie und die materiellen Lebensbedürfnisse des Volkes zu verwirklichen. Im Briefwechsel mit Varnhagen von Ense und dessen Frau Rahel verglich Heine seine öffentliche Literaturfehde, in der er soeben gegen den Grafen von Platen focht, mit den Weimarer «Klassikern» von 1797: «Der Schiller-Goethesche Xenienkampf war doch nur ein Kartoffelkrieg, es war die Kunstperiode, es galt den Schein des Lebens, die Kunst, nicht das Leben selbst - jetzt gilt es die höchsten Interessen des Lebens selbst, die Revolution tritt ein in die Literatur, und der Krieg wird ernster.» Nunmehr, auf seinem Felseneiland, lebte der Dichter ohne die gedruckten Überlieferungen der Grossen Revolution. Er hatte überhaupt kein Buch, das sich mit Tagesinteressen befasste, mitgenommen. Ungewissheit, Besorgnis, Entsagung bedrängten den nahezu vereinsamten Dichter. «Ich kann mich der trüben Stimmung, die mich hier belastet, keineswegs erwehren», schrieb er noch am 28. Juli 1830 an seine Schwester Charlotte. Er schien ernstlich die Politik und die Philosophie «an den Nagel hängen» zu wollen. «Einst, als ich noch jung und unerfahren, glaubte ich, dass, wenn auch im Befreiungskampfe der Menschheit der einzelne Kämpfer zugrunde geht, dennoch die grosse Sache am Ende siege.» Jetzt mochte ihm all dieses Hoffen und Streben nutzlos sein. «Obgleich ich mich martere für das allgemeine Heil, so wird doch dieses wenig dadurch gefördert. Die Welt bleibt, nicht im starren Stillstand, aber im erfolglosesten Kreislauf.» Jedoch am Tag dieser Niederschrift, dem 1. August 1830, hatte der Verleger Julius Campe in Hamburg einen Brief geschrieben. Er gewährte einen Vorschuss, weigerte sich aber, zukünftig «Honorare zu zahlen, die für mich lästig sind und mir die Aussicht auf einen Gewinn nehmen». Treffender konnte das Kapitalverhältnis des Verlegers zu seinem Textproduzenten kaum formuliert werden. Dann aber fiel der selbstgefällige Schreiber in einen Tonfall ängstlicher Bestürzung. Die Eilpost aus Paris habe die «fürchterlichsten Nachrichten» gebracht: Die Strassen seien mit Kanonen angefüllt, der Bürgerkrieg sei ausgebrochen, der König geflüchtet. Es ist nicht bekannt, wieviel Zeit der Brief für die kurze Schiffsreise zur Insel benötigte. Gewiss ist, dass das Zeitungspaket mit den Nachrichten vom Sieg der Pariser Julirevolution spätestens am 6. August eintraf. Unter diesem Datum quittierte Heine den Empfang der Neuigkeiten ganz anders als sein Verleger. «Sonnenstrahlen, eingewickelt in Druckpapier», nannte er sie und gestand, sie hätten sogleich seine Seele entflammt. «Mir war, als könnte ich den ganzen Ozean bis zum Nordpol anzünden mit den Gluten der Begeisterung und der tollen Freude, die in mir loderten.» Seine Phantasie malte die Trikolore, intonierte die Marseillaise. Es war ein jubelnder Aufstieg aus den Abgründen der Vereinzelung, des Zweifels, der Resignation. Er schwor wieder auf die Erklärungen der Menschenrechte, die seit dem Nordamerikanischen Unabhängigkeitsdekret und der Französischen Revolution die «Gebote des neuen Weltglaubens» enthielten. «Fort ist meine Sehnsucht nach Ruhe», heisst es am 10. August. «Ich weiss jetzt wieder, was ich will, was ich soll, was ich muss ... Ich bin der Sohn der Revolution und greife wieder zu den gefeiten Waffen ... Worte gleich flammenden Sternen, die aus der Höhe herabschiessen und die Paläste verbrennen und die Hütten erleuchten... Ich bin ganz Freude und Gesang, ganz Schwert und Flamme!» So klang aus Heine das Echo der Julirevolution. Erarbeitet aus dem Stoff seines unmittelbaren Erlebens, aber erst zehn Jahre später im Buch «Ludwig Börne» veröffentlicht, lassen die «Briefe aus Helgoland» die Einbildungskraft des engagierten Poeten erkennen, der als ein Nachfolger Goethes ebenfalls «Dichtung und Wahrheit» schrieb. Doch Heines demokratische Position war sichtlich entfernt von der des gemässigt-liberalen «Klassikers». So auch in der Anekdote des Fischers von Helgoland. Während Rahel Varnhagen, so erzählt Heine, ihm einst berichtete, dass ihre Magd nach der Leipziger Völkerschlacht mit dem Angstschrei ins Zimmer stürzte: «Der Adel hat gewonnen!», könne er von dem Fischer, der ihn zum Bade fuhr, den freudigen Ausruf nennen: «Die armen Leute haben gesiegt!» Der Begriff der «Armen» sagt hier viel. Der Dichter wollte gerade jetzt ein Parteigänger derjenigen sein, die in den «Hütten» wohnen - nicht der Vornehmen und der Reichen in den «Palästen». Friede den Hütten Krieg den Palästen«Friede den Hütten! Krieg den Palästen!» Der sinnbildliche Streitruf einstiger Jakobiner und bald auch Georg Büchners, der ihn 1834 als Motto vor die radikalste aller vormärzlichen Flugschriften stellte, war vier Jahre zuvor auch Heines Wahlspruch. Er verlangte nach Volkssouveränität mitsamt den humansten und entschiedensten Ansprüchen: dem verbrieften «Recht auf Leben» und dem Grundrecht des «Widerstandes gegen Bedrückung» - den beiden Zusicherungen für eine sozial gerechte und freiheitliche Existenz des Menschen. Als er am 19. August in Cuxhaven landete, fand er Seeleute vieler Länder, die in den Kneipen lagen und auf das Wohl der Franzosen tranken. «Und Deutschland?» fragte er mit gespannter Erwartung, worin aber noch immer ein Zweifel lag. «Werden wir endlich von unseren Eichenwäldern den rechten Gebrauch machen, nämlich zu Barrikaden für die Befreiung der Welt? Werden wir, denen die Natur so viel Tiefsinn, so viel Kraft, so viel Mut erteilt hat, endlich unsere Gottesgaben benutzen und die Lehre von den Rechten der Menschheit begreifen, proklamieren und in Erfüllung bringen?» An dieser Briefstelle kam dem protestantisch Getauften die Reformationszeit und zumal Doktor Luther in den Sinn, der ein «braver Mann» gewesen sei und ein «Riesenwerk» vollbrachte. Aber er habe, so lautet die eindeutige Parteinahme, «unseren Freunden», an ihrer Spitze dem «armen Thomas Müntzer», böse mitgespielt: Sie nämlich wollten «weiter gehen» als der gemässigte Reformator, indem sie nicht bloss die Erlösung im Himmel, sondern «die irdische Gleichheit der Menschen in Vorschlag brachten». Es geschah also im Geiste von «Müntzers Partei», wenn Heine nach einer Erhebung fragte, die nun auch in Deutschland die Menschenrechte und mit der «Freiheit» vor allem auch «Gleichheit» erzwingen sollte. Bedenken wir dieses nach 200 Jahren von Heines Geburt, so mag es wohl scheinen, als liefen wir immer noch auf der Bahn, die damals begann, als seien wir nicht mehr und nicht weniger: seine Zeitgenossen. |